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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Boden berührt und sich die großen stolzen Schwungfedern in zwei mächtigen Fächern spreizen.

„Laßt das schöne Tier, wie es ist,“ sagt Cilgia und wendet das Auge von dem blutenden Vogel.

„Ihr seht, meine Nichte ist keine Freundin der Jagd,“ scherzt der Pfarrer und plaudert lebhaft mit Paltram, der seine Neugier erregt.

Ein eigenartig schönes, ein merkwürdiges Gesicht. Dunkles Haar, zwei blauschwarze Augen voll blitzenden Feuers, eine leichtgebogene, kaum merkbar nach links abgedrehte Nase, ein starker Mund voll der herrlichsten Zähne, in allen Zügen das Gepräge großer Kühnheit und eines eisernen Willens, aber auch – in diesem Augenblick wenigstens – etwas Sanftes. Und dann allerdings noch etwas, worüber sich der Pfarrer keine Rechenschaft geben kann, etwas Gedrücktes, Leidenschaftliches, Gewaltsames!

Wie der junge Mann, so fesselt auch das Gewehr, das er trägt, den Pfarrer. Er läßt sich den doppelläufigen Feuersteinstutzen auf das Pferd reichen und prüft ihn sorgfältig. Unterdessen tätschelt Paltram den Braunen Cilgias am Hals, und das ist nicht bloß ein Spiel der augenblicklichen Laune, denn Cilgia neigt sich lebhaft zu flüsterndem Zwiegespräch gegen ihn. Zuerst leuchten seine, dann ihre Augen auf – ja, einen Augenblick hätte man meinen können, es wäre eine Herzensgemeinschaft zwischen ihnen.

„Auf Ehrenwort, er ist daheim bei Vater und Mutter,“ versetzt der junge Mann leise.

„Daheim! Gott sei Dank, daß ich es weiß,“ antwortet Cilgia halblaut.

Markus Paltram aber wendet seine Augen zögernd von ihrem feinen, glückstrahlenden Gesicht zum Pfarrer zurück, welcher ihn, jetzt eben aufblickend, anredet: „Der Stutzen ist wohl französische Arbeit? Es ist ein herrliches Stück!“

„Der Stutzen ist Engadiner Arbeit, aber freilich in Frankreich verfertigt. Es ist mein Gesellenstück von St. Etienne.“

Ein leises, selbstbewußtes Lächeln läuft über Paltrams Gesicht.

„Ihr seid ja ein merkwürdiger Mann. Ein Engadiner, der Büchsenmacher ist, das hat man nicht so bald gehört. – Und dazu noch solch ein Schütze! – Wie lang’ seid Ihr schon zurück?“

„Unmittelbar vor dem Kriege kam ich heim nach Madulein.“

„Habt Ihr Euch dort eingerichtet?“

„Nein, ich habe die Zeit im Lager Lecourbes als Dolmetscher zugebracht. Wohl möchte ich mich gern einrichten – es geht indessen nicht. In Madulein sitzt mein Bruder Rosius unter dem väterlichen Dach, und so viele Häuser im Engadin auch leerstehen, so vermietet mir doch niemand einen Raum zu einer Werkstatt. Es ist nicht unsere Sitte.“

Ueber sein ausdrucksvolles Gesicht fliegt eine Wolke, und die glänzenden blauschwarzen Augen verschleiern sich. Dann sagt er leichthin: „Ich gehe wieder nach Frankreich zurück – nach Paris!“

Cilgia heftet ihre sonnigen Blicke auf den Pfarrer.

„Es ist nicht unsere Sitte,“ wiederholt dieser wohlwollend, „aber wir wollen doch sehen, junger Mann! Für uns wäre es ganz geschickt, wenn wir die Gewehre nicht wegen jedes Mangels nach Chur oder Cleven schicken müßten.“

Jetzt haben der Mesner und Tuons mit ihrer Begleitschaft das Reiterpaar wieder erreicht, und sie betrachten den Adler, den Paltram an den Wegrand hingelegt hat.

„Gelt, dich hat’s, du verdammter Schafdieb!“ höhnen sie.

Und die Buben ballen die Fäuste gegen das tote Raubtier.

Tuons hat inzwischen den Schützen erkannt, grüßt ihn und sie tauschen ein paar Worte des Wiedersehens – jeder kühl freundlich gegen den andern.

Der Pfarrer spricht eifrig mit dem Mesner und wendet sich dann zu Paltram: „Kommt morgen bei mir vorbei! Ich weiß Euch eine Werkstatt zu Pontresina, die Hütte des verunglückten Fischers Colani, für die kein Liebhaber da ist.“

Paltram dankt und schlägt mit seiner Beute einen Feldweg ein. Cilgia reitet, über den Ausgang des Gesprächs beglückt, mit dem Pfarrer in schärferer Gangart gegen das im Vorblick schimmernde Samaden, und die Fußgänger sind wieder unter sich.

Da sagt Tuons: „Wohl, der Pfarrer brockt sich und uns eine gute Tunke ein, wenn er Den nach Pontresina nimmt.“

„Was habt Ihr gegen ihn? Er ist ja ein anständiger Bursche,“ knurrt der Mesner mißbilligend, „und ein Büchsenschmied steht dem Dorfe gut an.“

„Ich sah ihn zu St. Moritz,“ wirft der Ziegenhändler zwischen hinein. „Er diente der Junkerin von Flugi als Bote nach Fetan, und man zeigte mir ihn, weil er der einzige sei, der durch die französischen Posten zu Zernetz komme.“

„Der war in Fetan?“ ruft Tuons. „Dann ist die Geschichte von dem Tiroler Spion, den man vor der Nase der Franzosen in Sicherheit gebracht hat, also wahr!“

„Tuons, denkt an das, was ich Euch gesagt habe,“ mahnt der Mesner zürnend.

„Ich kenne ihn von Madulein her – habt Ihr ihm in die Augen geschaut?“ erwidert der Säumer.

„Wozu das?“

„Dann hättet Ihr gesehen, daß er ein Camogasker ist.“

„Ein Camogasker?“ rufen die Wandernden erschrocken und wie aus einem Munde.

„Ja, er ist ein Camogasker,“ erklärt Tuons. „Im Dorf Madulein weiß es jedes Kind. Man braucht nicht zu staunen, daß er durch die französischen Posten gekommen ist. Er ist ein Camogasker und die können mehr als Brot essen! Sie dürfen alles wagen, wagen alles und alles gerät ihnen. Ist es nicht so, Mesner?“

„Das sagt das Volk, aber es sagt noch mehr,“ erwidert das alte eisgraue Männchen mit geheimnisvoller Miene, indem es den erhobenen Zeigfinger schwenkt, „die Camogasker dürfen alles wagen, sie wagen alles – – aber sie müssen die schlagen, die ihnen die Liebsten sind. – –“

Das Schweigen des Schreckens herrscht unter der Gruppe, und sie erreicht Samaden.


2.

Der kleine Flecken Samaden ist festlich belebt. Unter den alten großen Holzhäusern, die ein paar kurze Gassen bilden, drängt sich das Volk. Muntere Leutchen schauen aus den kleinen, tiefen Fenstern, die zusammen mit den weit aus den Wänden ragenden Viertelsrunden gemauerten Backöfen und alten Malereien und Sprüchen den Engadinerdörfern ihr eigenartiges Gepräge geben, und die Landsgemeindegäste sammeln sich auf dem Platz vor dem Plantahaus.

An den Fenstern des stattlichen, doch einfachen Palastes der Familie von Planta, dessen reichster Schmuck die kunstvollen schmiedeeisernen Gitter sind, stehen in der festlich blumigen Tracht der Zeit die schönsten Mädchen des Oberengadins, Mädchen mit jenen feingeschnittenen Gesichtern und dunklen Augen, wie sie den Frauen eines Völkleins zukommen, das seine Abstammung unmittelbar von den alten Römern herleitet.

Da führt Pfarrer Taß noch Cilgia Premont in den Saal und geht. Mit einem anmutigen Neigen des Kopfes grüßt Cilgia die Mädchen, die ihre Gespielinnen werden sollen; dann tritt sie an ein Fenster und schaut ins Gewühl auf dem Platz.

„Das ist eine Stolze,“ flüstern die anderen Jungfrauen; ihre scheuen Blicke huschen zu der Fremden hinüber, die dies offenbar nicht bemerkt.

„Er ist daheim!“ Das ist der einzige Gedanke, der Cilgia beherrscht, seit sie mit Markus Paltram gesprochen hat. Fast statuenhaft lehnt sie am Fenster, lichtbraune Aehrenflechten krönen ihr Haupt wie ein Diadem, die junge, leichtgewölbte Brust atmet ruhig, ihre schlanke Gestalt zeigt verhaltene Kraft, schlichte Vornehmheit, und die schönen braunen Augen unter den langen Wimpern haben jetzt den nach innen gewandten Blick einer Träumenden.

Die Mädchen haben recht: stolz und schön ist sie und von lachender Frische – so recht eine gesunde Natur, und man versteht nicht gut, warum sie so vor sich hinstaunen kann. – –

Sie denkt an das Geständnis, das sie vor dem Onkel Pfarrer abzulegen hat; das Geheimnis, mit dem sie ins Pfarrhaus getreten ist, macht ihr Pein.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0584.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2022)