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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 19.   1899.


Verschiedenes Streben.
Nach dem Gemälde von C. Hartmann.


Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.


1.

Ein Adler kreist am blassen Frühhimmel, er schwimmt über dem dreizackigen sammetgrünen Thalstern des Engadins.

„Pülüf – pülüf,“ dringt sein hungriges Pfeifen aus der Bläue; die Gabel fächerartig ausgebreitet, steigt er etwas in die Tiefe und späht, dann hebt er sich ungeduldig in die oberen Lüfte, der Sonne entgegen, ja höher als die Bernina, die sanft und doch kühn in das Thal herniederschaut und den ersten Strahl des Taggestirns mit ihrem Silberschild auffängt.

Der Reif funkelt auf den Auen, die den jungen Inn säumen.

Ueberall Licht, reines Licht der Höhe, und die Berge wachsen in seiner schwellenden Flut.

Voll andächtiger Ruhe zieht der Adler seine Runde und rührt die gespannten Flügel nur dann und wann in zwei oder drei leichten Schlägen. Er überfliegt die weißen Spitzen, er schwebt über den Dörfern Pontresina, St. Moritz, Samaden und über lichtglänzenden Seen. Wenn er in die Tiefe steigt, so spielen seine Schwung- und Ruderfedern in der Sonne, meistens aber hängt er, ein Punkt nur, den das Licht vergoldet, an der Himmelsglocke.

Es muß wonnig sein, als Adler, als Herr und König, vor dem die Kreatur erbebt, über dem Gebirgsland zu schweben.

Durch die schweigende Frühe geht von Samaden her, den Krümmungen des Inns entlang, ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann gegen die paar Häuser von Celerina empor, das in der Mitte des Thaldreiecks liegt. Er hat das Gewehr quer über den Rücken gehängt, seine Blicke folgen mit Spannung den Ringen und Flugfiguren des Vogels in leuchtender Höhe.

Ob sich der Jüngling vermißt, den König des Gebirges aus seinem lichten Reich zu stürzen? – – Doch wohl nicht.

Lange, lange liegt das Thal im Morgenfrieden, der Ruf des Adlers und das Rauschen des Inns sind die einzigen Laute in der tiefen Stille.

Da erheben die Glocken von Samaden ihre Stimme, andere helle Klänge schweben aus den drei Thälern heran und rinnen über der Ebene in einen einzigen Ton zusammen.

Die Straßen, die sich in Samaden treffen, beleben sich, das Völklein des Oberengadins zieht zur Landsgemeinde.

In losen Gruppen und Trupps wallen die Bergleute dem gemeinsamen Ziele zu. Die Wohlhabenderen, Vornehmeren reiten oder sie fahren auf leichten Gebirgswägelchen und Scharabanken, die ausgedörrten Schuldenbäuerlein, die Weger, die Säumerknechte, die Gemsjäger und Fischer, die weder Pferd noch Wagen haben, gehen zu Fuß; zwischen allen aber, die reiten, fahren oder wandern, ertönt der weiche, romanische Gruß „Dieus allegra“[1] und eine gemessene, ruhige Freundlichkeit waltet, wie sie einem kernhaften Volk am Ehrentag der Heimat wohl ansteht.

  1. „Gott erfreue dich!“
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0581.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)