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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sie griff in eine von Morlands Seitentaschen und zog ein paar Blätter hervor. Nach einem Blick durch ihr langgestieltes Augenglas schüttelte sie aber den Kopf: „Nein, das ist es nicht. Das sind die Rennen, die ihm im September und Oktober noch bevorstehn. – Wo ist denn Stronzians Biographie?“

Rechts, wenn ich nicht irre/“ erwiderte Morlands phlegmatischer Bariton.

Fanny griff in seine rechte Seitentasche, ein Heftchen kam zum Vorschein. „Ja, das ist sie. Da!“ Sie drückte dem Neffen das Heft in die Hand. „Vierzigmal gesiegt! – Ich wette von nun an nur noch auf Stronzian! – Mußt dir mal mein Wettbuch anschauen; da wirst du sehn …“ Ihre Hand fuhr noch einmal in Morlands rechte Seitentasche; sie kam aber leer heraus. „Steckt mein Wettbuch denn links?“ fragte sie.

„Nein,“ antwortete Morland mit seiner unanfechtbaren, trockenen Gemütlichkeit. „In der Brusttasche, wenn ich nicht irre.“

Diesmal wollte er selber hineingreifen; Fanny kam ihm aber wie gewöhnlich zuvor; sie fand auch, was sie suchte. Sie hielt ihr kleines Wettbuch empor, dann reichte sie es dem Jüngling hin, der sie und Fräulein Jeannette noch immer tiefverwundert betrachtete. „Studiere das!“ sagte sie lustig ernsthaft; „bilde dich!“

„Und bis er sich gebildet hat,“ setzte Clotilde in demselben Ton hinzu, „verzeihen Sie ihm, Fräulein Jeannette; sein Herz ist eigentlich gut!“ Sie bemerkte jetzt, daß Herr von Marwitz sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtete; der einzige „Staatsmann“ in dieser kleinen Gesellschaft, Mitglied des sächsischen Landtags, eine elegante Erscheinung, nur durch eine Brille etwas entstellt. Er lächelte; sehr schmeichelhaft, wie es schien, aber es war doch etwas darin, das ihr eigentlich nicht gefiel. „Worüber lächeln Sie, Herr Politiker?“ fragte sie ohne Zögern; sie sagte gern alles frei heraus. „Mit Ihrem staatsmännischen Lächeln?“

„Ach, das war nur so,“ entgegnete Herr von Marwitz und lächelte wieder: „es war ohne jede politische Bedeutung. Ich – freute mich an Ihnen. Ich sah Sie so an, in Ihrer glücklichen, menschenfreundlichen, entzückenden Heiterkeit, und – und wunderte mich, daß Sie liebenswürdigste Frau doch auch einen Feind haben können. Denn Sie haben einen.“

„Ich?“ fragte Clotilde, nun auch verwundert. „Einen wirklichen Feind?“

„Ja, ja.“

„Wie sieht er denn aus? Was ist das für ’ne Art von Mensch?“

„Einer meiner Kollegen im Landtag; ein nicht sehr hagerer Mann, mit entschieden mehr Schädel als Haaren –“

„Ah!“ fiel Clotilde ihm ins Wort, „nun weiß ich, wen Sie meinen. Der hat mich einst als junges Mädchen angebetet, wie er behauptet; aber nun haßt er mich, wegen der Ochsenrede.“

„Ochsenrede?“ fragte Morland. „Was ist das?“

„Ach, dieser dicke Demosthenes machte mir den Hof; und sein abscheulicher Plan war, mich in den Landtag zu locken, wo mein Herz sich an einer seiner stimmungsvollen Reden tödlich berauschen sollte. In Gottes Namen! sagte ich endlich, morgen reden Sie wieder, um den Staat zu retten; ich nehme Ihre Eintrittskarte und ich gehe hin. Ich will Ihnen dann auch meine Gefühle zeigen: gefällt mir Ihre Rede so sehr, daß sie mich begeistert, dann werd’ ich mein Taschentuch in die Höhe heben und wie eine Fahne schwenken. Bleibt aber die Bezauberung aus, so heb’ ich das Taschentuch nur bis an die Nase und niese hinein! – Ich war nämlich damals ein ziemlich übermütiges Frauenzimmer, meine Herrschaften, und –“

„Na, da sei nur ruhig,“ rief Morland, „das bist du Gottseidank noch!“

„Also das war abgemacht. Ich sitze in der Loge, er unten bei den Rettern des Staats. Die Vorstellung – verzeihen Sie – die Sitzung hat begonnen. ‚Herr N. N. hat das Wort!‘ Mein Demosthenes steht auf –“

Clotilde trat hinter einen Stuhl, auf dessen Lehne sie die Hände legte; sie nahm eine sonderbare Haltung an, es war, wie wenn sie auf einmal breiter und dicker würde. Ein Doppelkinn heuchelnd, ein dümmlich bedeutendes Gesicht machend, begann sie mit einer eigentümlich fetten Stimme: „Meine Herren!“

Marwitz lachte auf. „Sehr gut! Ausgezeichnet! – Bitte, bleiben Sie stehn, gnädige Frau, halten Sie die Rede!“

„Ich soll diese ganze Rede halten?“

„Ja,“ rief Jeannette, „die ganze Rede!“

Ellenberger legte bittend die Hände aneinander: „So, wie Sie gestern beim Thee die Familie Miller spielten. Es war unvergleichlich!“

Clotilde lächelte; für so begeisterte Anerkennungen war sie sehr empfänglich. „Verlangt die ganze Gesellschaft, daß ich die Rede halte?“ Alles drängte näher, alles stimmte lebhaft zu. Jeannette schwenkte ihr Taschentuch.

„Gut, dann red ich, in Gottes Namen. Dann muß ich aber auch alle seine inneren Gedanken sprechen, die er während der Rede hatte – während er mich ansah – kurz, als stünde seine Seele nackt vor Gottes Thron! – Dieser Fächer ist sein Papiermesser, damit muß ich spielen. Diese Frisur“ – sie brachte ihr üppiges braunes Haar etwas in Unordnung – „stellt seine dreizehn Haare vor.“ Das Doppelkinn wuchs ihr wieder, die bedeutende Miene auch; sie that, als knöpfe sie sich den Rock bis oben zu; später knöpfte sie ihn wieder auf. Sie räusperte sich; dann fing sie an, mit der unheimlich fetten Stimme:

„Meine Herren! Es ist eines der ernsten Zeichen unsrer Zeit, daß die ,Ochsenfrage‘, wie ein geistreicher Vorredner den Gegenstand unsrer heutigen Verhandlung genannt hat, daß selbst diese Ochsenfrage zu einer Lebensfrage unsres Staates, ja des ganzen deutschen Vaterlandes wird und an den Säulen der öffentlichen Wohlfahrt rüttelt! Denn –“ Sie unterbrach sich; seitwärts verstohlen in die Höhe blickend, sagte sie leiser und wie für sich: „Ist sie da? – Ja. Sie hat das Taschentuch in der Hand …“

Mit einer drollig breiten und dicken Bewegung wischte sie sich den gedachten Schweiß von der Stirn; laut und kräftig fuhr sie dann fort: „Denn, meine Herren, wenn ein tiefsinniges altes Sprichwort sagt: quod licet Jovi, non licet bovi – was Jupiter darf, darf der Ochse nicht – wie kommen die Ochsen unseres vielbewegten Vaterlandes dazu, die Rolle des Blitzes zu spielen, der plötzlich aus heiterem Himmel auf uns niederfährt?“

Clotilde schielte wieder seitwärts hinauf, als säh’ sie nach der Loge. Ihre Stimme ward leise, blieb aber merkwürdig fettlich: „Warum lächelt sie? Findet sie es witzig –“ sie trocknete sich wieder die Stirn – „oder hab’ ich was Dummes gesagt?“

„Und doch“ – jetzt sprach sie wieder mit schallender Stimme – „und doch handelt es sich hier nicht um jene Ochsenfrage, die leider jedesmal auftaucht, wenn sich eine verderbliche Viehseuche unsern Grenzen nähert –“

Sie schielte und flüsterte: „Ich glaube, sie lächelt mir zu –“

„Auch nicht um weise Maßregeln unsrer Zollpolitik, durch die wir unsern Nationalbesitz an Rindvieh gebührender Weise zu vermehren trachten –“

Wieder schielend, flüsternd: „Warum hebt sie denn schon das Taschentuch? – Nur bis an den Mund ...“

„Sondern um eine jener –“

„Sie hält es sich vor den Mund!“

„Sondern um eine so künstlich aufgebauschte, pfahlbürgerliche Interessenfrage, daß der weiterblickende, echte Vaterlandsfreund wohl mit einigem Unwillen fragen darf: wer ist hier der Ochse?“

Clotilde lächelte selbstzufrieden; ihr kluges Gesicht war prachtvoll dumm. „Das war gut!“ flüsterte sie in sich hinein, nach der Loge schielend. „Ah! Jetzt hebt sie das Taschentuch. – Nein, nur bis zur Nase … Teufel! – – Die Pause wird zu lang …“

„Meine Herren!“ fing sie mit gewaltiger Stimme wieder an. „In einer solchen Lage –“

Ein rasches, erleichtertes Flüstern: „Sie reibt nur ihr Näschen …“

„In einer solchen Lage ist es die Pflicht der Regierung, den frivolen Anstiftern eines solchen Interessenkampfs den Herrn zu zeigen; hier also, den Ochsen bei den Hörnern zu fassen und ihm zuzurufen: ich, der Staat, bin ein größerer als du!“

Ein hoffnungsvolles Schielen: „Ob sie jetzt das Tuch hebt? – Ja!“

Plötzlich nieste Clotilde laut, mit merkwürdiger Kunst: es klang, wie wenn es aus einiger Entfernung käme. Dann war sie wieder der dicke Demosthenes: sie fuhr zusammen. Mit einem jammervollen Gesicht flüsterte sie stammelnd: „Sie niest! Großer Gott!“

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