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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Möglichkeit, diese Ursachen später genau zu verfolgen; das häufig erkennbare Herannahen und Steigen der Gefahr und die erschütternde Gewalt der Katastrophen, denen oft ein verzweifelter Kampf ums Leben vorausgeht. Und nicht zum letzten das lebhafte touristische Interesse derjenigen, die den gleichen Weg gemacht oder eine ähnliche Situation durchgekämpft haben.

So kommt’s, daß die beim Alpensport sich ereignenden Unfälle meist besonders eingehend besprochen werden. Es ist übrigens etwas Eigenes um diese Besprechungen. Die nötige Erfahrung, um solche Unfälle richtig zu beurteilen, gewinnt nämlich immer nur, wer selber mit einer gewissen Vorliebe die Gefahren der Berge aufsucht oder wenigstens früher aufgesucht hat. Und darum werden die Warnungen, die aus solcher Quelle kommen, für den Laien immer nicht eindringlich genug sein, weil sie stets von der leidenschaftlichen Vorliebe des Warners für diese Gefahren beherrscht sind und oft genug auch diese Neigung deutlich durchblicken lassen.

Die Gefahren des Bergsports sind viel mannigfaltiger als die Gefahren anderer Sportarten. Sie gähnen unter den Füßen des Wanderers, hangen an Felsmauern und Eiswänden über ihm, umstürmen ihn aus den Lüften, bedräuen ihn aus seinem eigenen Organismus heraus. Und sie sind auch höchst wechselvoll, so daß ein Weg, der für gewöhnlich ein harmloser Spaziergang genannt werden muß, unter besonderen Umständen ein Todespfad werden kann. Und das moralische und physische Rüstzeug, dessen man zu ihrer Bewältigung bedarf, ist ein derartiges, daß man keineswegs von vornherein immer beurteilen kann, ob es ausreichen wird oder nicht.

Der Bewohner des Flachlandes glaubt wohl, daß die Gefahren der Berge erst dort beginnen, wo die gebahnten Wege zu Ende sind. Das gilt für günstige Jahreszeit und Witterung, aber nicht für die Zeit des Winters, nicht für die in den höheren Gebirgslagen auch während der wärmeren Jahreszeit vorkommenden Schneestürme. Da verwandeln sich auch gute Wege rasch in unwegsame Wildnis. Stundenlanges Vorwärtsstampfen in frischgefallenem Schnee ermüdet die Kräfte aufs äußerste. So kommt’s, daß alpine Unfälle mit schwerem, ja selbst mit todbringendem Ausgange bekannt sind, die auf gebahnten Wegen nach heftigen Schneefällen sich ereigneten. Die Betroffenen starben an Frost, an Erschöpfung während des Marsches.

Hierzu kommt, daß jede Verschneiung eines Weges ein unfreiwilliges Abweichen von demselben ungemein erleichtert. Auch die gebahnten Wege in den Alpen sind meistens derartig, daß selbst eine ganz geringe, nur fingerdicke Schneebedeckung den Weg als solchen schon unkenntlich macht. Eine solche geringfügige Verschneiung ist gefahrlos für den Ortskundigen, aber immer gefahrvoll für den, der, wenn einmal der eigentliche Pfad verschneit ist, keinerlei Wegmarken mehr kennt. Es giebt Pfade in den Alpen, und zwar sehr viele, die als Wege nur kennbar sind durch eine kaum merkliche Färbung, durch zusammengetretenes Gras, durch die von den Eisennägeln der Bergschuhe zerkratzten Steine. Derartige Zeichen werden beim geringsten Schneefall unsichtbar; sie werden auch unsichtbar bei eintretender Finsternis.

So ist die einbrechende Dunkelheit eine weitere sehr häufige Ursache des unfreiwilligen Abkommens vom rechten Wege. Der unerfahrene Bergwanderer, der sich auf ganze Tagesmärsche einläßt, weiß in der Regel die Zeitdauer, die für die Bewältigung der Strecken notwendig ist, nicht richtig zu berechnen. Er tritt die Wanderung über ein Bergjoch an, von der ihm ungefähr bekannt ist, wie lange sie währe. Unterwegs aber rastet er, hält sich an irgend einem Aussichtspunkte auf oder wartet in einem Unterkunftshause einen Regenguß ab. Die Zeit verstreicht rascher, als er denkt, und er ist noch weit von der nächsten Herberge entfernt, wenn das Dunkel schon hereinbricht. Eine Zeitlang unterscheidet er noch den Weg, der sich unter seinen Füßen heller von dem benachbarten Gelände abhebt. Aber in der purpurnen Finsternis des nächsten Bergwaldes, in einem Krummholzdickicht oder an einer von mächtigen Felsblöcken überstreuten Lehne mag es ihm leicht begegnen, daß er die schwache Wegspur völlig aus den Augen verliert. Er verfolgt instinktmäßig die bisher eingeschlagene Richtung, während der Fußsteig, den er zu suchen hat, vielleicht schon über ihm fortzieht oder gar sich rückwärts gewandt hat, um in Windungen nach der Thaltiefe hinunter zu führen. Und nun steht er plötzlich völlig pfadlos an der Bergwand; tief unter ihm gähnt noch der Thalgrund, in dem die nächste Ortschaft liegen muß. Mächtiger und mächtiger wird das Dunkel der unheimlichen Welt, die ihn fremdartig umgiebt. Jetzt fassen ihn die Schrecken der Finsternis und der Einsamkeit. Glücklich mag er sich preisen, wenn er nach stundenlangem Umhersuchen, schweißtriefend, mit pochendem Herzen und müden Füßen den alten Steig oder einen anderen wiederfindet. Aber es kann ihm auch begegnen, daß er nur immer tiefer in die Felsenwildnis gerät, an steilere Hänge, wo buschbewachsene Strecken oder Grasfleckchen mit schroff abfallenden Wänden abwechseln. Nun hängt das Leben des Unglücklichen an einem Faden. Vielleicht rettet er sich noch, wenn ihn der Zufall das ausgetrocknete Bett eines Wildbaches oder eine Zunge von Bergwald finden läßt, die bis zu sanfteren Hängen hinunterleitet. Da mag er dann stundenlang klettern, mit wunden Händen, um endlich in völliger Nacht einen Felsenwinkel oder ein verlassenes Heuhüttchen aufzufinden, wo er, fiebernd vor Frost und Müdigkeit, den Morgen abwarten kann. Aber manchen, der so seinen Weg verlor, fand man auch am nächsten Tage, oder auch Wochen und Monate später, mit zerschmettertem Haupt und gebrochenen Gliedern am Fuße einer lotrecht abfallenden Felswand liegen. Oder es fand ihn überhaupt niemand mehr, weil er in einen lichtlosen grauenhaften Felsenspalt gestürzt war, wo seine modernden Reste zwischen Steintrümmern liegen blieben oder von den tosenden Wassern des Gletscherbaches fortgerissen wurden in die dunkle Tiefe eines Bergsees oder in den großen Strom draußen, der sie auf seinem Grunde behielt.

Ein Abkommen vom rechten Wege kann auch, namentlich in der Almen- und Waldregion, veranlaßt werden durch alte verlassene und aufgegebene Seitenwege, die von einem begangenen Weg abzweigen, aber, wenn man sie einschlägt, nach einiger Zeit in eine Sackgasse auslaufen: zu einem verlassenen Holzschlag oder zu einem vereinzelten Weideplatz, oder an irgend einen jähen Abhang, wo ein älterer Wegbau verschüttet oder zerrissen ward. Wer einen solchen Weg genommen hat, steht dann plötzlich an seinem Ende vor irgend einem Steilabhang oder in völlig unwegsamer Trümmerwildnis. Hier mag er nun entweder zurückkehren bis zur nächsten Wegteilung, was jedenfalls das Weisere und Sichrere ist, oder er mag seinen Vermutungen über die Lage des rechten Weges folgen und ihn aufsuchen, indem er sich mitten in unwegsame Wildnis wirft. Das ist ein ebenso häufiges wie gefährliches und zeitraubendes Verfahren, das wohl schon manchen ins Verderben geführt hat.

Oft werden aber auch von unerfahrenen Bergwanderern die gebahnten Wege absichtlich verlassen. Das geschieht nicht selten um der Alpenblumen willen. Die Alpenblume ist die Trophäe, die der Neuling von seiner Bergwanderung mitnimmt; und die an den Wegen wachsenden Blüten sind meist schon abgepflückt, während über und unter dem Wege am Felsgehäng noch die bunten Sterne reizender Blumen winken. Der erfahrene Bergwanderer läßt diese schönen Kinder der Wildnis ruhig weiterblühen; der Unerfahrene klettert ihnen nach, läßt sich weiter und weiter verlocken, bis er zwischen Grausen und Verderben hängt. So haben die sammetweichen weißen Sterne der Edelweißblüte schon manchen jungen Wagehals in einen frühen Tod gelockt; abgestürzt von schroffer Wand, ward er von Jägern oder Sennen gefunden, mit einem Sträußchen in der Hand, das sein Verderben geworden war. Den Tod um eine Handvoll Blumen!

Sehr häufig wird auch vom rechten Wege abgewichen, um abzukürzen. Auf steilere Hänge führen ja alle guten Wege in Windungen hinan. Wenn man auch beim Bergansteigen gerne auf dem bequemeren gewundenen Wege bleibt: sobald es bergab geht, liebt es die Jugend, die kürzeste Richtung über den Hang hinunter einzuschlagen. Ein unbedenkliches Verfahren, solange man den Weg, den man abkürzt, stets im Auge behält; aber gefahrvoll, wenn man ihn aus dem Gesicht verliert und an Böschungen gerät, die immer steiler und steiler werden. Der gehoffte Gewinn einer halben Stunde Zeit hat bei solchen Abkürzungen schon manchem jungen Leben zu einem frühen und jähen Tode verholfen.

Wenn so schon das Wandern in den von gebahnten Wegen durchzogenen Regionen für den Unkundigen seine Gefahren birgt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0439.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2021)