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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Hochaltar, den wiederum Jutta von Kranichfeld erbaute. – Hinter der Sakristei befindet sich die sogenannte Zitter, ein Raum, der eine Menge wertvoller Antiquitäten birgt, alte, von den Frauen des Stiftes verfertigte Gobelins, prächtige Reliquienkasten und Reliquien, den Bartkamm Heinrichs I, aus Elfenbein geschnitzt und mit Edelsteinen besetzt; ein Gefäß aus durchscheinendem Travertin, das als ein Krug von der Hochzeit zu Kana bezeichnet wird. Die Kaiserin Theophania, Ottos I Gemahlin, soll ihn aus Griechenland mitgebracht und ihrer in Quedlinburg lebenden Schwiegermutter Adelheid geschenkt haben.

Ewald von Kleist.

Herrliche alte Manuskripte sind hier vorhanden, darunter mehrere Evangelistarien, in Goldblech gebunden, mit Edelsteinen verziert und mit großer Knust geschrieben oder gemalt. Auch zwei Exemplare des Sachsenspiegels werden aufbewahrt: der eine kleinere aus dem Ende des 13. Jahrhunderts; der zweite, in großer, schöner Schrift, dadurch merkwürdig, daß er einst im Besitze des berühmten Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke gewesen ist. Außer diesen und vielen andern Schätzen, reich mit Edelsteinen und Schnitzwerk geschmückten Reliquienkästen und Behältern, giebt es hier auch wertvolle Schriftstücke, darunter zwei Briefe von Luther und einen von Melanchthon.

Wir lassen uns alles eingehend von dem verständnisvollen und bereitwilligen Führer erklären und verlassen endlich das Gotteshaus, ganz erfüllt von den Schauern stolzer deutscher Vergangenheit.

Unser freundlicher Erklärer hat uns noch eine Ueberraschung vorbehalten; er führt uns noch einmal durch die dämmernde Krypta, in der wir uns im Vorüberschreiten an einem prächtigen alten Taufstein erfreuen, er öffnet hier eine Thür nach Süden, durch welche uns eine Fülle goldenen Lichtes entgegenflutet, und wie wir das schmale rasenbewachsene, von niedriger Mauer eingefriedete Gärtchen betreten, da erfassen unsere Blicke ein wundervolles Bild – unter uns die roten Dächer des Westendorfes, aber jenseit derselben, fortschweifend über die stolzen Bäume des Lustwäldchens Brühl, über lachende Felder und traute Dörfer – die Berge des Harzes, in blauen Duft gehüllt; dort Victorshöhe, dort Tanzplatz und Roßtrappe, seitwärts der alte sagenumwobene Brocken, und rechts eine Reihe eigentümlich geformter kleiner Hügel, auf deren einem der berühmte Regensteiner sein Raubschloß erbaute, der bekannte Graf Albert von Regenstein, der in heftiger Fehde am 7. Juli 1336 von den Quedlinburgern gefangengenommen und in einem hölzernen Kasten zwanzig Monate lang eingesperrt saß, bis er sich den Forderungen der Städter unterwarf. Der ungefüge Käfig ist noch heute im Rathause zu sehen. Die Chronik besagt, daß der Raubgraf, bereits zum Tode verurteilt und auf den Richtplatz geführt, dennoch begnadigt wurde, erzählt aber nicht, unter welchen Bedingungen; nur weist die Chronik nach, daß er die Mauern der westlichen Seite der Stadt habe ausbessern und mit sieben neuen Türmen versehen müssen. Julius Wolff, der berühmte Quedlinburger, hat diese Episode der Geschichte seiner Vaterstadt und des Stiftes besonders reizvoll geschildert in seinem „Raubgrafen“.

Nur ungern reißen wir unsere Blicke los von der herrlichen Rundsicht und stehen bald wieder auf dem Schloßhof. In den uralten Linden spielt der Sommerwind und auf der Bank unter ihnen sitzt das hübsche Töchterlein des Kastellans und sieht fragend zu uns herüber. Auf unsere Erkundigung, ob wir das Schloß besehen können, verschwindet das nette Mädel, um ihre Mutter zu benachrichtigen, und wir sehen uns inzwischen die alten Gebäude an, thun einen Blick in den Schloßhof und bewundern die herrlichen Rosen im Gärtchen des Kastellans, wirklich eine seltene Pracht! Man sieht, die mit Blüten fast überdeckten Sträucher lohnen dem gütigen Pfleger durch immer neue Knospen.

Die Frau Kastellanin erscheint mit einem Schlüsselbund in der Hand, und wir treten unsere Wanderung an. Eine breite, hohe, überdachte Treppe führt empor in die Prunkgemächer des Freien deutschen Reichsstiftes Quedlinburg. Zunächst empfängt uns ein gegipster kahler Vorraum, über dessen mächtiger Thür das holzgeschnitzte Stiftswappen den einzigen Schmuck bildet, zwei ins Andreaskreuz gesetzte silberne goldschalige Tafelmesser im roten Felde.

Beim Raritätenschrank.

Die Führerin heißt uns nun in ein Gemach treten, das den Altar der Schloßkirche beherbergt, den man, als nicht stilgerecht, bei der Restauration entfernte. Gewiß sind sie von feiner Arbeit, diese durchbrochenen Säulen, dies geschnitzte, reich vergoldete Laubwerk, diese schwebenden Engelsgestalten. Der großen Figuren zu Füßen des Gekreuzigten erinnere ich mich noch aus meiner Kinderzeit; es ist mir, als müßten auch sie mich wiedererkennen, die Jünger des Herrn mit den endlos kirchenfensterlangen Gesichtern. Aber sie schauen stumm und fremd ins Leere hinaus wie damals schon. Ich kenne alte Leute in Quedlinburg, die noch heute um diesen reichen Schmuck ihrer Schloßkirche trauern, und ich kann mir wohl vorstellen, daß sie ihn vermissen. Sie haben vielleicht ihre Konfirmationsgelübde vor ihm abgelegt, das Ja! ihrer jungen Ehe vor ihnen gesprochen, ihre Kinder taufen lassen, und jetzt schauen sie den edlen nackten Sandstein dafür und fein gemalte hohe Fenster und können es nicht verstehen, daß der Zeuge ihrer schönsten und heiligsten Stunden fehlt. Aber wahr ist’s doch, passen thut er nicht mehr,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0404.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2021)