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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Vermögen zu Füßen zu legen? Eine so brutale Wohlthat brauchen wir nicht. Hat die Welt für die feinere, die tiefere, die bessere, die er mir erweist, kein Verständnis? Kann man nicht sagen: er hat das Unglück gehabt, meinen Kindern den Vater zu töten, dafür haben wir eine Forderung an ihn? Und er giebt, was er kann: seine Teilnahme giebt mir Frische und Kraft!

Dennoch machte sie sich klar, daß ihr Verkehr aufhören müsse, sobald er entdeckt sei. Heute hatte man sie nur „mit einem Offizier“ gesehen und zum Glück hatte sie gerade vorher wirklich Bläser gesprochen und konnte ihn anführen, ohne zu lügen. Wenn man sie morgen „mit Herrn von Körlegg“ sähe, würde es Auseinandersetzungen mit ihren Eltern geben, vor denen ihr graute.

Am andern Tage besprach sie mit Achim das Vorgefallene.

Sie sprachen lebhaft davon, daß sie vorurteilsloser und freieren Geistes seien als alle diese Philister von Mühlau. Und wenn zwei mit so lauten Reden ihre Freiheit vor den Schranken der andern preisen, wollen sie sich nur betäuben, um sich über eben diese Schranken hinwegzusetzen.

Davon hatte Achim eine ganz deutliche Empfindung. Aber er wollte sie nicht in Worte kleiden. Sie hätten die arme Sabine verletzt. Er war es ihr schuldig, dergleichen Anwandlungen mit sich allein abzumachen. Er wußte und fühlte es mit jedem Herzschlag: diese flüchtigen Augenblicke mit ihm, oft unter klatschendem Regen oder bei pfeifendem Wind – sie waren ihr der Lichtpunkt des Tages.

Es war ihm deshalb fast wie eine Erleichterung, daß sie vorschlug, man wolle sich, bis zur völligen Wiederherstellung Leos, nur noch jeden dritten Tag sehen. Aber indem er zustimmte, fühlte er zugleich, daß die beiden Tage zwischen den Begegnungen für ihn selbst tote Zeit bedeuten würden.

Die Genesung des Kleinen schritt langsam weiter, doch blieb er merkwürdig schwach. Da entstand in Sabinens Kopf ein Plan: sie wollte fort aus diesem engen Hause, hinaus aufs Land, wo ihr Knabe sich erholen könne und sie selbst Freiheit fände.

Sie begann von einer nötigen Badereise zu sprechen, wußte Sebold dafür zu stimmen und beharrte dabei, daß Leo sich hier und so nie erhole. Der Oberamtmann und seine Frau sahen in einer Badereise ein ganz außerordentliches Unternehmen, das mit viel Umständen und besonders auch mit viel Kosten verknüpft war. Ihr Mißfallen an dem Plan war so groß, daß sie sich förmlich entlastet fühlten, als Sabine eines Tages erklärte: einen teuren Badeaufenthalt, wie Sebold ihn so dringlich wünsche, halte sie für überflüssig und glaube, daß ein mehrwöchiger Aufenthalt auf Heinsdorf denselben Effekt haben werde. Erleichtert stimmten die Eltern freudig bei. So erreichte Sabine auf Umwegen, was sie wollte. Daß sie aber, um sich den so einfachen Wunsch zu erfüllen, einige Zeit bei dem Bruder auf dem Familiengut zu verleben, Umwege brauchen mußte, erbitterte sie von neuem gegen ihre Lage. Ihr Herz drängte sie wieder mehr zu dem Bruder hin. Sie hoffte, ihm während des Heinsdorfer Aufenthalts recht, recht nahe zu kommen und auch vielleicht Martha Seiten abzugewinnen, die diese wertvoll und tief erscheinen ließen. Ihr Herz war voll Liebebedürftigkeit.

Als sie an dem Tage, wo es entschieden war: übermorgen sollte übersiedelt werden! zum Stelldichein ging, erfuhr sie eine aufregende Ueberraschung. Ihre Gedanken waren so thätig gewesen, auszumalen, wo auf den Heinsdorfer Geländen sie zuweilen mit Achim zusammentreffen könne, „um ihn über Leos Befinden zu unterrichten“, daß sie zusammenfuhr vor Schreck, als ein Soldat an sie herantrat.

„Frau von Zeuthern?“ fragte er, die Rechte an die Mütze, die Linke an die Hosennaht legend.

„Ja, was wollen Sie?“ sagte Sabine unfreundlich und erstaunt.

„Dies abgeben!“ Er überreichte einen Brief und machte Kehrt.

Der Brief zitterte in Sabinens Hand. Sie ging noch fünf Mnuten vorwärts, sah einen Vermessungsstein am Wege und hockte darauf nieder. Sie las:

  „Theure, innig verehrte gnädige Frau!
Eine unverhoffte dienstliche Angelegenheit verhindert mich heute, Sie selbst nach dem Befinden Ihres Lieblings zu fragen. Ich habe nur die Wahl, Sie vergebens auf mich warten zu lassen, oder den Versuch zu wagen, Sie mit diesen Zeilen zu benachrichtigen. Mein Bursche ist leidlich intelligent. Ich werde ihm beschreiben, daß eine schlanke Frau im weißen Kleid und schwarzem Jacket, mit einem schwarzen Hut, darauf weiße Schleifen sind, ihm vor dem Berliner Thor begegnen muß. Sie sehen, gnädige Frau, daß ich den Anzug kenne, den Sie bei schönem Wetter zu tragen pflegen. Hoffentlich stimmt es auch heute, und obenein werde ich dem Burschen sagen, daß Sie ganz anders aussähen als alle anderen Damen von Mühlau. Dann kann er nicht das Unheil anstiften, den Brief in eine unrechte Hand zu legen.

Unmöglich erscheint es mir aber, infolge der heute mir auferzwungenen Entsagung sechs volle, lange Tage nichts von Ihnen und Ihren Kindern zu hören. Darf ich die Bitte wagen, mich morgen treffen zu wollen? Ich bin jedenfalls zur Stelle und warte.

  Ihr tief ergebener

A. v. K.“ 

Ein Gefühl von unsinnigem Glück überwältigte Sabine. Diese Zeilen, die im Grunde doch viel weniger sagten, als was sein Mund, seine Blicke, sein ganzes Wesen schon so oft gesagt, erschienen ihr wie ein Pfand ihrer Zusammengehörigkeit, wie eine ganz intime Annäherung.

Die Notwendigkeit, ihm antworten, ihm schriftlich irgend einen Punkt bei Heinsdorf als Rendezvous andeuten zu müssen, erfüllte sie mit Wonne und Schreck. Noch Minuten saß sie und las seinen Brief wieder und wieder, als könnte ihr ein Wort oder ein geheimer Sinn entgangen sein, und erquickte sich an dem Anblick seiner großen, klaren Handschrift.

Dann eilte sie heim, unterwegs bedenkend, daß es fast eine Unmöglichkeit für sie war, heimlich einen Brief zu schreiben und noch sogleich zur Post zu besorgen. Und doch mußte das geschehen. Die Post war der einzig mögliche Weg; die Sicherheit, daß Achim morgen früh ihre Zeilen empfange, nur gegeben, wenn sie dieselben noch heute in den Kasten steckte. Die Eltern wußten zu genau, daß Sabine nur mit drei Menschen, mit Susanne Osterroth, mit ihrem Schwager Benno von Zeuthern und mit Onkel Fritz Osterroth, korrespondiere und stets am Abend schreibe.

Mit dem Hute auf dem Kopfe setzte sie sich an ihren Schreibtisch, und ohne Besinnen schrieb sie: „Ich darf Sie morgen nachmittag nicht der Langenweile aussetzen, hochverehrter Herr von Körlegg, vergebens auf mich zu warten. Wir siedeln übermorgen nach Heinsdorf über, d. h. die Kinder und ich; und meine liebe gute Mama fände es sicherlich unbegreiflich, wenn ich morgen mich vom Einpacken für eine halbe Stunde abzumüssigen wüßte. In Heinsdorf wird mein Leo sich hoffentlich schnell und ganz erholen. Es ist sehr schön dort. Auch finde ich Lieblingsplätze aus meiner Jugend wieder, vor allem den unter der Franzosenlinde, wo ich so oft, ach, in noch glücklichen Tagen die Sonne untergehen sah.

Ich danke Ihnen noch einmal für alle Teilnahme während Leos Krankheit. Sie wurden mir dadurch in vielem Sinne zum Wohlthäter.

 Ihre

S. v. Z.“ 

Sie lächelte, beinahe stolz über ihre jesuitische Schlauheit.

Wenn sein Herz verstehen wollte, würde es den Ruf verstehen: vor Sonnenuntergang, an der Franzosenlinde harre ich dein! Und wenn sein Herz nicht so wachsam war, konnte er die letzten Worte wie ein Lebewohl für unbestimmte Zeit auffassen. Nein, ich vergebe mir nichts mit diesen Zeilen, dachte sie beruhigt.

Frau Oberamtmann stand in der Küche und besprach mit Guste, daß man übermorgen Erdbeeren einkochen wolle. Zu ihrem Erstaunen sah sie Sabine, die vor zehn Minuten vorbeigeeilt war, noch einmal weglaufen.

„Was ist? Was willst du?“ rief sie neugierig.

„Ich habe was vergessen!“ rief Sabine von der Treppe zurück. Und nach weiteren zehn Minuten kam sie heim und wies ein Päckchen Nähwaren vor. „Es ist besser, man hat alles bei sich, wenn die Kinder was zerreißen.“

„Na,“ sagte der Oberamtmann, „Zwirn und Seide kannst du schließlich auch im Dorf haben.“

Wie glücklich war Sabine, als sie am übernächsten Tag bei ihrem Bruder einzog. Reinald hatte ihr so liebevoll alles geschmückt, Kränze flochten sich um die Thüren ihrer drei Zimmer, und Martha, seine Braut, hatte riesige Blumensträuße gebunden von bunt prahlenden Bauernblumen. Die Braut war mit ihrer

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