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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Ein Mensch, dem ihre Persönlichkeit Inhalt des Lebens gab, dessen Persönlichkeit ihren Tagen neuen Inhalt brachte.

Ihre Schritte waren beschwingt, ihre Augen glänzten.

Und doch war keine Unklarheit und eigentlich auch kein Ueberschwang in ihren Gedanken. Sie wußte, daß Achim von Körlegg und sie niemals einen freundschaftlichen, offenkundigen Verkehr miteinander unterhalten könnten, daß die Vorurteile der ganzen Welt, zum wenigsten der Mühlauer Welt sich dagegen auflehnen würden. Eine Witwe befreundet sich nicht mit dem Mann, der ihr den Gatten erschossen hat, wenn auch noch so unfreiwillig, noch so bereut erschossen.

Aber vor ihrem eigenen Richterstuhl fand sie sich nicht anklagbar dafür, daß ihr Achim von Körlegg sympathisch war, daß sie keinen Mann gesehen hatte bisher, der ihr gleich bedeutend, gleich ernst, gleich männlich erschienen wäre.

Wie sehr hatte sie sonst gelitten, wenn sie morgens erwachte, aus vielleicht inhaltreichsten Träumen zum inhaltleersten Tag. Der Gegensatz der Wirklichkeit zu ihren Glücksbedürfnissen marterte sie dann mit immer neuer Kraft.

Das war nun vorbei. Das Glück war nicht gekommen. Aber es gab nun ein Interesse – ein großes, brennendes Interesse. Und gerade das Ungewöhnliche der ganzen Schicksalsverknüpfung zwischen ihr und Körlegg hatte einen phantastischen Reiz. –

Dicht vor dem Thor begegnete Sabine ihren Kindern, die Hand in Hand der beaufsichtigenden Lisbeth voranliefen. Mit einem Jubelruf öffnete Sabine, im Staube der Straße niederhockend, ihre Arme und die Kinder liefen hinein.

Wie schön sie waren! Wie unsäglich sie sie liebte! Welches Glück, sie zu besitzen! Lachend und in ihrem drolligen Kinderdeutsch mit ihnen plaudernd, ging Sabine weiter.

Die Mühlauer sahen aus den Fenstern und sprachen davon, daß die schöne Witwe sich doch getröstet zu haben scheine, denn sie lache so lustig und graue Kleider trage sie auch schon.

Und in ihrem grauen Kleide, den schwarzen Hut mit steilragenden Fittichen auf dem Haupt, dem belebten Gesicht und den dunklen Augen darin, sah Sabine auch so schön aus, so jugendmutig, so lebenglühend, daß Hauptmann von Hallendorf am Fenster die Zähne auf die Unterlippe biß.

„Morgen wird zum zweitenmal drüben Besuch gemacht,“ beschloß er bei sich, „und bei Reinald Deuben auf Heinsdorf werd’ ich mal auf den Busch klopfen.“

Die Kinder sahen zu dem Fenster empor. Herr von Hallendorf war ihr Freund, sein Bursche ließ Leo manchmal auf dem Pferd sitzen und der Hauptmann redete sie stets an auf der Straße, wobei er immer mit einem „Gruß an die Mama“ die Unterredung schloß.

Hallendorf verneigte sich gegen Sabine und warf Milly ein Kußhändchen zu. Er bekam Herzklopfen, er war berauscht, kein Zweifel, die schöne Frau hatte mit einem strahlenden Lächeln wieder gegrüßt. Also doch! also endlich! Hoffentlich, hatte sie nicht bemerkt, daß er grade eine ganz alte fleckige Litewka trug.

Nein, Sabine hatte es nicht bemerkt, sie wußte auch nicht einmal, daß sie so strahlend gegrüßt hatte. Leuchtenden Angesichts, unter Scherzreden ließ sie Leo und Milly treppan hopsen.

Oben auf dem Flur, der nicht ganz hell war, weil man die kleine Küche vor das Fenster hingebaut hatte, stand Guste und putzte den Thürklopfer an der Eßstubenthür. Die Klopfer der andern beiden Thüren, die in die ebenfalls nach vorn gelegenen Schlaf- und Eßstube führten, blitzten schon im blanken Messingglanz. Hierdurch wurde Sabine daran erinnert, daß Sonnabend war.

„Der junge Herr ist da!“ meldete Guste. „Heute?“ rief Sabine. An einem Sonnabend – das war sehr ungewöhnlich. Sonnabend abends hatte doch Reinald Löhne auszuzahlen und mit dem Inspektor den Arbeitsplan der kommenden Woche festzulegen, aber es war ihr gerade recht, den geliebten Bruder zu umarmen.

„Nehmen Sie die Kinder nach hinten, Lisbeth,“ befahl Sabine und setzte gleich tröstend hinzu: „Ihr könnt Onkel Reinald nachher noch Guten Tag sagen!“

Vorn im Wohnzimmer fand sie eine ganz wunderbare Gruppe. An Reinalds Brust weinte die Mutter; der Oberamtmann stand abgewandt und tupfte sich mit seinem türkischen Taschentuch die Augen.

„Ein Unglück?!“ rief Sabine. Schon wallte es bitter in ihr auf; eben war ein bißchen Mut und ein bißchen Zufriedenheit in ihre Seele gekommen, da gab es schon wieder einen Rückschlag; als ob es anders sein könne! Aber diesmal hatte ihr Mißtrauen gegen das Schicksal sie doch getäuscht.

„Im Gegenteil,“ sprach der Oberamtmann tief ergriffen, „dein Bruder hat sich verlobt. Und so recht nach unserm Herzen.“

Mit einem Jubelschrei flog Sabine dem Bruder an den Hals und verdrängte geradezu die Mutter. Beinahe schien es exaltiert, wie sie lachte und weinte und sich freute und den Bruder küßte. Reinald war es fast etwas zu viel, aber er war doch sehr gerührt, denn er hatte sich im Grunde ein wenig geängstigt, wie Sabine es aufnehmen würde.

Als sie sich ausgetobt hatte, war ihr leicht und friedlich und erlöst ums Herz. Ach, das Leben konnte doch noch wieder reich und schön werden!

„Nun erzähle!“ bat sie, „wer ist es? wie heißt sie? Ist es Martha Voigtstedt?“

„Ja,“ sagte er, „die Aelteste von dem Wendessener Voigtstedt.“

Er begann, etwas unbeholfen im Vortrage, zu erzählen, was für Vorzüge Martha habe, und wie er sie um dieser willen lieb gewonnen und wie reichlich Aussteuer und Mitgift bemessen sein würden. Er war ein großer, schöner Mensch, dunkel wie Sabine, aber nicht bleich wie sie, sondern seine Farben hatten von der Luft rotbraune Töne angenommen, die das Gesicht derb erscheinen ließen, während die unverbrannte Stirn weiß schimmerte. Seine Arbeit hatte seinem Wesen etwas robustes, seinen Bewegungen etwas schwerfälliges gegeben. Er sah alles in allem aus wie ein Mann, der weiß, was er will und kann, aber nicht wie einer, der viel denkt. „Zu gern möcht’ ich, Sabine,“ schloß er, „daß du und meine Martha – daß ihr zwei so recht wie Schwestern euch lieb hättet! Meine Martha hat es auch gelobt.“

Inzwischen hatte Sabinens Erregung sich mehr und mehr verflüchtigt. Sie hörte etwas zerstreut zu. Es war so harmlos, so unaussprechlich wenig aufregend für die Welt, wenn Herr Voigtstedt-Wendessen seine brave Tochter Martha mit Herrn Deuben-Heinsdorf verlobte. Und man konnte ein wenig nervös davon werden, wie Reinald alle zwei Minuten sagte: „Meine Martha“. Aber als zum Schluß seine Stimme vor Rührung bebte und die Mutter dazu wieder von neuem zu weinen begann, kam Sabine sich herzlos, gleichgültig, strafwürdig vor.

Sie stand auf, umarmte ihren Bruder und versprach, seiner Martha mit offenen Armen und offenem Herzen entgegenzukommen.

Man besprach dann für morgen eine Fahrt nach Wendessen, wo im kleinen Kreise die Verlobung gefeiert werden sollte. Heiraten wollte man erst im Winter, vielleicht gleich nach Weihnacht, jedenfalls zu einer Zeit, die dem Landmann Muße gab, mehr an sich, als an seine Aecker zu denken.

Sabine machte eine sonderbare Beobachtung. Immer hatte der Oberamtmann in dem zweiunddreißigjährigen Sohn doch noch ein wenig den kleinen Jungen gesehen, der unter väterlicher Zucht und Oberaufsicht stand und dem Kontrolle jedenfalls nur nutzte. Plötzlich war Reinald ein Mensch, dessen eigene Wünsche und Ansichten ausschlaggebend waren. Der alte Herr war mit allem zufrieden und ließ keine andern Antworten hören als: „Gern“ – „wie ihr wollt“ – „ach, uns Alten ist ja alles recht“.

Reinald war ein Bräutigam, er stand gleichsam in festlichem Glanz vor den Eltern; er hatte verständig gefreit und bekam ein vom Vater unabhängiges Vermögen durch die Heirat. Hob ihn das mit einemmal so sehr?

„Wie menschlich ist alles – selbst Elternliebe,“ dachte Sabine.

War sie auch aus ihrem Rausch zu dem gewohnten Zustand des Beobachtens und Grübelns zurückgekehrt, so blieb ihre Stimmung doch eine gehobene.

Alles schien verändert; es würde mehr Bewegung in das Leben und in die Gedanken der Eltern kommen. Das lenkte diese dann ein wenig von ihr selbst ab. Sie brauchte nicht mehr jede Miene zu bewachen, jeden Schritt zu erklären.

„Wie Sabine sich über Reinalds Glück freut,“ sagten die Eltern zu einander, „es ist ordentlich rührend.“

„Ja, sie ist ein gutes Kind. Manche Schwester wäre eifersüchtig geworden.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0328.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2020)