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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Kreisblatt, wenn es drin steht, können wir ihr auch leicht verstecken. Sie liest es so wie so fast nie. Na, nun sieht man doch, daß es auch seine guten Seiten hatte, daß Sabine sich um nichts in Mühlau kümmert. Sie wird gar nicht erfahren, daß der Körlegg hier ist. Und sagen wird’s ihr auch keiner. Hab’ ich recht?“

Die beiden Herren sagten einstimmig: „Durchaus.“

Auch Frau Deuben war beruhigt, soweit es ging, und konnte wieder eine heimliche Bewunderung für den klaren und allezeit gefaßten Geist ihres Mannes nicht unterdrücken. Sie hielt es aber für verkehrt, ihren Mann durch Zustimmung und Anerkennung zu verwöhnen, und sprach zögernd:

„Ja, du – du nimmst alles leicht.“

Seufzend und sich vertraulich zu den Freunden wendend, fügte sie hinzu: „Es war doch ein schweres Geschick. Mit Schicksalen geht es oft so wie mit Sachen, da hat man das Sprichwort: die Länge trägt die Last.“

„Sehr wahr!“ sprach Kolvater.

„Wahr, wahr!“ bestätigte der Musikdirektor.

Deuben hatte noch mehr beruhigende Punkte im Auge und fuhr fort: „Und dann Herr von Körlegg. So klein Mühlau ist – wer wird ihm gerade davon sprechen mögen, daß Sabine, daß wir hier wohnen? So taktlos wird ja niemand sein. Und da ist es immer möglich, daß sie nichts voneinander erfahren. Ganz Mühlau wird es wie ein öffentliches Geheimnis gerade den beiden gegenüber bewahren. Und schließlich: so etwas kommt doch vor! Wie oft treffen sich wohl sogar Leute, die sich gegenseitig an den Nord- und Südpol wünschen, in einer Gesellschaft!“

„Ach gewiß!“ rief Turibius.

„Hoffen wir das Beste,“ sagte Frau Deuben und stand auf, um die Lichter anzuzünden, wobei ihr keiner von den Herren half. „Aber ich kann nur noch mal sagen: leicht ist es nicht. Wenn man so als Mutter denkt, man hat seine Kinder treu und gut erzogen und selbständig gemacht! Und soll dann so beinahe wie von vorn anfangen! Wo man gedacht hatte, still und ruhig endlich seinen Neigungen leben zu dürfen!“

Alle seufzten beipflichtend, und man setzte sich zum Spiel.

Bald nachher trat Sabine ein und nahm mit einer Handarbeit am Tische Platz. Sie wäre lieber in ihrem Zimmer geblieben, aber der Obcramtmann hatte einmal eine Bemerkung darüber gemacht, daß es eine Verschwendung sei, allabendlich stundenlang zwei Lampen brennen zu lassen.

Von hundert Hindernissen in seinem Gange aufgehalten, stolperte das Trio einher. Die Oberamtmännin zählte halblaut, Kolvater mit stumm sich bewegenden Lippen, Turibius markierte jeden neuen Taktteil mit einer Kopfbewegung. Trotzdem blieben die Spieler nie lange zusammen; sobald eine Unordnung festgestellt war, brach man ab, zählte fünf, zehn, zwölf Takte laut zurück, setzte falsch ein, fing wieder an, bis endlich alle drei Instrumente ein Weilchen im Einklang blieben. Das schöne Hauptthema des ersten Satzes gelang am besten und fiel in Sabinens Ohr so bekannt, daß sie sich entsann, wann und von wem sie es einmal im Saal der „Singakademie“ in Berlin gehört hatte. Bei dem mittleren Teil des ersten Satzes ward die Verwirrung scheinbar heillos, aber die Spieler arbeiteten sich durch, indem jeder unwillkürlich so laut spielte, als er konnte. Ganz befriedigt, schon mit heißen Gesichtern, gingen sie zum Scherzo über, bei welchem Turibius mit dem Oberkörper gleichsam hin und her wogte. Endlich, nachdem das für Sabine ganz unkenntlich gewordene Adagio überstanden war, geriet der freudige Friede der Spieler in Gefahr. An dem leidenschaftlich feurigen Finale scheiterten alle drei, aber jeder schob mit ungeduldigen Worten den Mitspielenden die Schuld zu. Streitend sprach man gegeneinander an.

Sabine trug Wein und Brötchen auf und begeistert sagte die Oberamtmännin: „Ach, es macht doch zu viel Spaß!“

„Es ist das beste und bildendste Vergnügen, das man haben kann,“ bekräftigte Turibius.

„Wir werden es auch noch klein kriegen, dies verzwickte Trio,“ rief Kolvater.

„Natürlich werden wir das!“

Deuben klopfte seiner Frau wohlgefällig die heiße Wange und sagte:

„Na, Alte, du bist ja wieder mal ganz in Rage!“

Und Sabine hörte und hörte, wie sie schwatzten und wieder spielten und wieder stritten und wieder lachend sprachen. Und hörte alles zuletzt wie von fern.

Ihre Seele lechzte danach, ungestörte Sammlung zu haben. Wenn es denn kein Glück auf der Welt gab, mußte es doch irgendwo Ruhe und Einsamkeit geben, nur damit man denken konnte.

An all das Große, das Schmerzliche, das Ungeheure wollte sie denken, das schon in ihr Leben gegriffen. Das waren doch Ereignisse gewesen, das war doch Leben gewesen. Was war hier?

Und an das Unbegreifliche wollte sie denken, daß der Mann, der ihr den Gatten getötet, der Mann, dem sie einmal in das ernste, bleiche, stolze Angesicht geschaut hatte, daß gerade dieser eine Mann fortan mit ihr in dieser engen Welt leben sollte.

Aber der Kleinkram des Daseins, der sie umgab, gönnte ihr nicht einmal das Denken, nicht einmal das bange Staunen.

„Sabine, schenk’ mal Herrn Musikdirektor ein!“ – „Sabine, hörte man es sehr, daß wir nicht zusammen waren?“

Und dann, wenn sie herausgerissen war aus ihren Gedanken, hörte sie zunächst immer wieder das brutale Musizieren so erbarmungslos deutlich. Langsam, langsam stumpfte sich ihr Ohr ab, vergaß sie das Hören, verträumten und verschwammen die Töne, bis ein neuer Anruf sie zu ihrer Umgebung zurückrief. – Als Sabine sich an diesem Abend zu Bett legte, bohrte sie die Stirn fest ins Kissen, damit die Kleinen, die friedlich schliefen, die Mama nicht weinen hören sollten.

Wilder als sonst weinte sie, und sie sprach es mit lauter Stimme verzweifelt in ihr Kissen hinein: „Könnte ich doch nur Geduld lernen – Geduld – Geduld …“


4.

Einige Zeit lang drehten sich die Gedanken Sabinens hauptsächlich um zwei Fragen. Die eine war: Wissen die Eltern es? die andere: Ist er schon hier?

Daß ihre Eltern von der Versetzung des Herrn von Körlegg in das Mühlauer Bataillon wußten, ward ihr ziemlich bald klar.

In der Bewahrung von Geheimnissen waren sowohl der Oberamtmann als auch seine Frau von einer rührenden Unbeholfenheit. Sie waren eben nicht gewohnt, Geheimnisse zu haben. Wenn jetzt ein Besuch zufällig von der Beförderung und Versetzung des Herrn von Lehben sprach, der bisher in Mühlau einer der „interessantesten Männer“ gewesen war, mit denen sich das Gespräch gern beschäftigte, gaben sie Zeichen, zu schweigen, und sahen in ängstlicher Verlegenheit drein. Sabine fühlte: die Verlegenheit galt dem Namen desjenigen, der an Lehbens Stelle ins Bataillon trat. In auffallender Weise riß der Oberamtmann morgens das Kreisblatt an sich. Sabine, die es doch nie las, merkte, daß jetzt etwas drin stehen könnte, was man ihr verbergen wollte.

Wie wäre es auch denkbar gewesen, daß sich in Mühlau eine Personalveränderung vollzogen hätte, ohne daß der Oberamtmann davon erfuhr. Seine Tagesbeschäftigung war ja geradezu, Mühlau zu bewachen.

Warum sprach man nicht offen mit ihr davon? Aber das begriff sie im Grunde. Kleinstädtische Menschen haben häufig nicht die innere Freiheit, ungewöhnlichen Dingen unbefangen ins Auge zu sehen, sondern im Gegenteil die Neigung, sie durch Zudecken und Vertuschen peinlicher zu machen.

Warum aber sprach sie selbst nicht harmlos davon, daß ihr Schwager ihr Körleggs Versetzung gemeldet hatte? Diese Frage vermochte sie sich nicht zu beantworten. Sie konnte sich zehnmal vorrechnen, daß hier kein Grund zum Verschweigen sei; es gab in dem Drama keinen Schuldigen, oder vielmehr Körlegg war dieser Schuldige nicht. Eher der Mitleidende, ein Mann, von dem man mit Verständnis, mit Schonung, mit Achtung sprechen durfte. Von dem gerade sie so hätte sprechen müssen, um darzuthun, daß in ihrer Seele kein Groll gegen ihn war!

Und allen Verstandesgründen zum Trotz beschwieg sie diesen Mann, und wenn sie seiner dachte, klopfte ihr Herz beängstigend.

War er schon in Mühlau angekommen? Sabine konnte an niemand diese Frage richten. Das frühere Kindermädchen, die gute Lisbeth, die mit einem Unteroffizier in Lehbens Kompagnie

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