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darauf rechnen, daß sie an dem bisher geheimgehaltenen Unternehmen, das er plante, sich mit Begeisterung beteiligen würden, sobald er zu ihnen das entscheidende Wort gesprochen. Und so geschah es am 28. April 1809, als das Regiment dem Anschein nach zu einem Uebungsmarsch zum Halleschen Thor hinausrückte. Auf dem Wege nach Potsdam ließ der Befehlshaber plötzlich Halt machen und hielt eine Anrede an die Truppen, worin er ihnen erklärte, die Zeit sei gekommen, um gegen den großen Thronräuber, der ihr Vaterland in Unglück und Jammer gestürzt, ins Feld zu ziehen. Die begeisterten Worte zündeten um so mehr, als der Redner im überströmenden Erguß seines Herzens eine goldgestickte Brieftasche in die Höhe hielt, welche jeder als ein früheres kostbares Geschenk der Königin Luise erkannte. Offiziere und Gemeine erklärten sich bereit zu jedem Opfer für König und Vaterland. Alle glaubten, das Regiment sei nur der Vortrab eines größeren Heeres, welches ihm auf dem Fuß folgen werde.

Der Würfel war gefallen; vergeblich versuchte das Gouvernement von Berlin durch einen Stabsoffizier, Major von Zellin, Schill zum Rückmarsch zu bewegen. Dieser beharrte bei seinem Vorsatze; der Bruch der Disciplin wurde ein vollständiger, und auch später setzte Schill den Befehlen seines Monarchen entschiedenen Widerstand entgegen. Anfangs ging alles gut, Schill rückte in Dessau ein; überall kamen die Sympathien der Bevölkerung ihm entgegen. Da trafen die Unglücksnachrichten ein, die Niederlage der Oesterreicher bei Regensburg, die Unterdrückung des Doerenbergschen Aufstandes, die Beschlagnahme der Papiere Rombergs, der als Schills westfälischer Agent mit den dortigen patriotisch gesinnten Bauern verhandelte – alles dies beschleunigte den Entschluß Schills, den westfälischen Regimentern entgegen zu rücken, um vielleicht durch einen Sieg das Volk in jenen Gegenden zum Widerstand gegen die Fremdherrschaft zu entflammen.

Bei Dodendorf kam es zum Treffen: der Sieg neigte sich den Schillschen zu; die westfälischen Truppen wurden zersprengt, ihre Geschütze erobert; doch die französischen Kompagnien behaupteten sich auf dem steilen Kirchhofberge: der Mangel an Infanterie hinderte die Erstürmung der Höhe.

Schill zog sich nun die Elbe abwärts nach Stendal. Hier und dort kamen einzelne Zuzügler; doch von einer Volksbewegung konnte nicht die Rede sein. Die Siege Napoleons über die Oesterreicher hatten die Stimmung in Norddeutschland niedergedrückt. Der schwunghafte Aufruf Schills an die Deutschen, „meine in den Ketten eines fremden Volkes schmachtenden Brüder“, welchen der Tollkühne in Dessau hatte drucken lassen, fand nur ein geringes Echo.

Von Kassel aber kam die Erwiderung: ein Dekret des Königs Jérôme, das Schill als einen Briganten bezeichnete und seine Soldaten den bewaffneten Räuberbanden gleichstellte, allen Militärkommandanten und Civilbeamten befahl, auf ihn Jagd zu machen, ihn zu verfolgen, in Verhaft zu nehmen und sich seiner und der Seinigen tot oder lebendig zu bemächtigen; auf seinen Kopf wurde ein Preis von 10000 Franken gesetzt. Was half dem Geächteten das Manifest, das er darauf an die Einwohner Westfalens richtete und in dem er sie zu den Waffen rief: nicht an der Spitze einer Räuberbande sei er erschienen, sondern an der Spitze der tapfersten und edelsten deutschen Männer, welche bereit seien, alles zu opfern, was ihnen teuer ist, um das Joch des fremden Eroberers zu zerbrechen. Deutsche Nationalehre und deutscher Sinn sollten nicht länger unterdrückt sein; nach dem großen Beispiele der Spanier und Tiroler gelte es, sich dem gemeinschaftlichen Feinde unseres deutschen Vaterlandes kräftig entgegenzustellen.

Doch die westfälischen Truppen, die den „Räuber“ Schill einfangen sollten, waren schon unterwegs. Gleichzeitig traf die ihn noch empfindlicher berührende Achtserklärung ein, die König Friedrich Wilhelm III von Königsberg aus gegen ihn erließ. Der Major von Schill und alle, die mit ihm gegangen waren, sollten einem strengen Militärgericht unterworfen werden, die Gesetze des militärischen Gehorsams nach jener unglaublichen That geschärfte Anwendung finden. Jedermann wurde aufs ernstlichste verwarnt, sich ähnlicher Vergehungen schuldig zu machen.

Diese Bekanntmachung erschien zu spät, um den Ausmarsch eines Teiles des leichten Infanteriebataillons von Schill zu hindern, das unter Führung des Leutnants von Quistorp Berlin verlassen hatte und in Arneburg an der Elbe bei den Schillschen eingetroffen war. Quistorp eroberte bald darauf die kleine mecklenburgische Festung Dömitz. Indessen erfuhr man, daß der General Gratien mit einem Korps holländischer Truppen von der Weser aus anrücke. Die kleine Feste war unhaltbar, ihre Behauptung auch unnötig, nachdem Schill mit dem Hauptkorps bis an die Ostsee nach Wismar vorgerückt war; sie wurde von den Schillschen geräumt und von den Holländern besetzt. Nach einem siegreichen Gefecht bei Damgarten, in welchem mecklenburgische Truppen geschlagen wurden, rückte Schill nach Stralsund vor, wo er die ahnungslose kleine französische Besatzung überraschte, nach kurzem Kampf überwand und einen Artilleriepark von 100 Geschützen, sowie einen Vorrat von 300 Centnern Pulver und eine Menge anderer Kriegsbedürfnisse vorfand. Schill nahm Stralsund und die Provinz im Namen ihres rechtmäßigen Herrn, des Königs von Schweden, in Besitz, stellte die von den Franzosen gesprengten Festungswerke wieder her, berief den Landsturm von der Insel Rügen ein und rüstete sich zum Widerstand gegen holländische und dänische Truppen, die als Alliierte Frankreichs gegen die Festung anrückten.

Der Heldenkampf in Stralsund gehört zu den ruhmreichsten Erinnerungen der deutschen Kriege gegen Napoleon; es war ein Verzweiflungskampf; denn so sehr auch Schill darauf trotzte, Stralsund behaupten zu können, so sehr er sich gegen den Gedanken einer Flucht nach England wehrte, wozu von den Kameraden schon einige Vorbereitungen getroffen wurden – er wußte doch, daß seine Sache verloren sei, und er wollte, wie er an den Erzherzog Karl schrieb, aus Stralsund ein Saragossa machen.

In fieberhafter Aufregung traf er alle Anordnungen; er hatte den Ungehorsam, den Zweifel, den Spott niederzuhalten, der ihm bisweilen bei den Untergebenen entgegen trat; er war wie im Rausch – und als der Feind, die Holländer und Dänen, endlich in die Stadt drangen, da setzte er sich zur Wehr wie einer jener Berserker der alten Sage, blindwütig niederhauend, was ihm in den Weg kam.

Doch er konnte den Gang des Verhängnisses nicht aufhalten. Schill hatte an dem entscheidenden Tage, am 31. Mai, die Feinde am Triebseer-Thor erwartet; daß dieselben ihren Hauptangriff auf das Knieper-Thor richten würden, überraschte ihn. Hier war offenbar die schwächste Stelle der Befestigungen, und dies mußte der Feind durch irgend eine Verräterei erfahren haben; die Verschanzungen waren hier noch nicht vollendet und die am wenigsten geübten Mannschaften aufgestellt. Trotz tapferer Gegenwehr wurde die Landwehr auf den Wällen in die Flucht geschlagen; Dänen und Holländer drangen durch das Thor, die Schillschen Truppen schlugen sich in Einzelgefechten mit ihnen.

Schill selbst sprengte nach dem Hafen zu durch die Fahrstraße, geriet ins Handgemenge und erhielt von einem dänischen Husaren einen schweren Hieb über die Stirn. Er hielt die Hand über die klaffende Wunde und wollte gerade umkehren, als er auf einige Holländer stieß, die an einer Pumpe damit beschäftigt waren, einem verwundeten Soldaten vom Schillschen Korps die Wunde abzuwaschen. Dieser gewahrte seinen Chef, rief aus: „Da ist Schill!“ – und sogleich schoß einer der Holländer dem schwerverwundeten Schill eine Kugel durch den Hinterkopf, so daß er tot vom Pferde fiel. Die Holländer rissen ihm den Verdienstorden vom Halse, plünderten ihn ganz aus und trugen den Toten auf den Altmarkt zum General Gratien. Schills Leichnam wurde nach dem Rathause gebracht und auf einer der dort befindlichen Fleischbänke niedergelegt. Mitglieder des Stadtrats, Schillsche Soldaten, auch der schwedische Offizier v. Parsenow, in dessen Hause Schill gewohnt hatte, wurden herbeigerufen, um die Leiche zu rekognoscieren. Parsenow dankte in gezierten Redensarten in französischer Sprache dem General Gratien, daß er die Stadt von diesem Räuber befreit habe; doch dieser sprang auf und rief: „Schill war kein Räuber, er war ein Held!“

In den Straßen wurde noch immer planlos gekämpft und geschossen, und es war keine leichte Arbeit, dem Kampf ein Ende zu machen und die zerstreuten Truppen zu ihren Kompagnien zu sammeln.

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