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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Ich bin nicht allein. Ich habe die Joß und die Fräulein Perraul, die mich gern überallhin begleiten, die guten Seelen …“

„Und den schönen Offizier nebenan!“ murmelte Didier. „Das ist doch auch etwas!“

Marguerite preßte die Lippen aufeinander, verschmähte es jedoch, auf diese Worte zu antworten.

„Du hörst, mein Kind –“

„Wenn Didier mir nicht traut, hätte er meine Hand nicht verlangen sollen.“

Ein Zornesblitz schoß aus Madame Morels Augen. In ihrer Entrüstung wäre sie jetzt imstande gewesen, es zu einem Bruch zu treiben, aber ein Blick auf Didier belehrte sie eines Besseren. Der Sohn war ihr Liebling, und er liebte das Mädchen nun einmal. „Der Offizier nebenan! Ich frage dich, ist das schicklich? Wenn Didier auch Vertrauen hat! Er muß darauf dringen, daß seine Braut ihren Ruf hütet und die böseste Zunge kein Wort zu reden findet –“

„Das geht sehr einfach“, erklärte Marguerite kühl. „Ich werde dem Leutnant sogleich die Wohnung kündigen. Wenn er auszieht, fällt dieser Grund der Unschicklichkeit weg, nicht wahr? Ich habe zwei Tugendwächterinnen an Octavie und Célestine Perraul. Mehr kann Didier nicht wünschen, und da er selbst die Zeit auf Reisen zubringt, so ist es für ihn gleich, ob ich hier bin oder in Nancy …“

„Es ist gar nicht dasselbe,“ schmollte Didier, „indessen –“

„Du willst die Zimmer leer stehen lassen?“

„Warum nicht? Mamas Krankheit verschlang Geld, und deshalb vermieteten wir die Zimmer. Aber jetzt? Ich komme auch ohne dies aus. Ich kann sie übrigens an jemand anders vermieten: an Damen, an Eheleute oder an einen alten Herrn … An irgend eine Persönlichkeit, über die es nichts zu reden giebt … Madame Joß mag es dem Offizier sagen, daß er ausziehen muß. Wenn dieser Stein des Anstoßes entfernt ist, können weder Sie, Madame, noch Didier etwas gegen meinen Entschluß einwenden!“

„O, nichts!“ Madame Morel zuckte höhnisch die Achseln. Sich an einen fremden Willen zu stoßen, an einen so unsinnigen, unberechtigten Willen obendrein, und dabei nicht die Möglichkeit zu haben, ein Machtwort zu sprechen, das ertrug sie nur sehr schwer. Sie erstickte fast an ihrem Zorn und warf dem Sohn einen herausfordernden Blick zu: „Nun sprich du!“

Didier kam denn auch heran, streckte seiner Braut beide Hände entgegen und rief in leidenschaftlich dringendem Ton: „O, Marguerite, komm zu uns! Niemand wird dich in deiner heiligen Trauer stören! Niemand! Verstehst du denn nicht, daß ich keine Ruhe finden kann, wenn ich dich hier weiß, einsam, mit einem Schatten als Gesellschaft? Wir wollen dich hegen wie unseren Augapfel, und du wirst sehen, in unserem stillen wohnlichen Hause daheim wird deine Seele gesunden! Komm mit uns! Bei meiner Liebe beschwöre ich dich!“ Er sprach in aufrichtigen Herzenstönen, hingebend, beschwörend, leidenschaftlich. Wenn sie ihn liebte, konnte sie nicht ungerührt bleiben.

Aber Marguerite erbleichte wie im Schrecken, sie entzog sich rasch den sie umschlingen wollenden Armen des jungen Mannes und schüttelte den Kopf. „Lassen Sie mich hier, Didier! Es ist besser für uns beide. Ich kann jetzt nicht zu euch kommen. Haben Sie Nachsicht mit mir … Ich kann nicht!“

Ihre Worte klangen angstvoll flehend. Es that ihr weh, ihn abweisen zu müssen, aber die Stimme, die in ihrem Innern „Nein“ rief, war zu laut, zu dringend. Sie konnte nicht … Deutlich genug verriet sie hierdurch, daß sie ihren Verlobten nicht liebte, und Didier fühlte das. Seine Blicke verfinsterten sich, und er sah scheu zur Mutter hinüber, die hocherrötet auf das Paar schaute. O, sie war nicht dumm, Madame Morel, auch sie merkte, wieviel es geschlagen hatte. „Die Beschwörung bei deiner Liebe scheint ja großen Eindruck auf Mademoiselle zu machen!“ sagte sie ironisch. „Meine Gnädigste, man kann manchmal zu weit gehen. Ich finde – Ihren Eigensinn sehr übel angebracht, denn schließlich … Weißt du auch, was du wagst, Marguerite?“

„Mama!“ unterbrach Didier.

Frau Morel ließ sich nicht irremachen. „Du legst deinem Bräutigam eine lange Brautzeit auf und willst ihn noch obendrein von dir fern halten. Dabei läufst du Gefahr –“

„Mama, an meiner Treue soll Marguerite doch wohl nicht zweifeln?“

„Doch muß sie sich sagen, daß ein Verlobter, den man so behandelt, berechtigt ist, sich zu fragen, ob auf seiten seiner Braut überhaupt die Zuneigung vorhanden ist, die er fordern darf!“

Bei diesen halb drohend hingeworfenen Worten errötete Didier dunkel und erhob die Hand, wie um die Mutter am Weitersprechen zu hindern. Marguerite jedoch schien von der bedeutungsvollen Warnung, die Madame Morel an sie richtete, nicht betroffen. Sie sah geradeaus vor sich hin und erwiderte in schwermütig gelassenem Tone: „Didier ist über meine Gefühle für ihn vollständig im klaren.“

Nun errötete Didier noch dunkler, während Madame Morel erbleichte. Sie sah ihren Sohn mißtrauisch an. „Was soll das heißen?“ fragte sie scharf. Indessen fürchtete sie, nur zu gut zu verstehen. Mit der Andeutung der Möglichkeit, Didier könnte sich anders besinnen, hatte sie ihren letzten Trumpf ausgespielt. Und das war der Erfolg! Das junge Mädchen fürchtete sich nicht: sie war ruhig, Didier ängstlich, als fürchtete er Erklärungen. Die argwöhnisch zwischen den beiden jungen Leuten hin und her wandernden blanken Aeuglein Frau Morels bemerkten das wohl, und ihr Verdacht verstärkte sich zur Gewißheit. Immer hatte sie das Mädchen zu kühl gefunden, zu wenig dankbar für die große Ehre. Sie selbst hatte nicht sehr freudig in die Verlobung gewilligt. Germaine Dormans war ihr eine liebe Freundin gewesen, aber den einzigen Sohn, der die reichsten Erbinnen von Nancy haben konnte, an diese arme Kirchenmaus verschleudern? Sie gab ihn nicht gern so billig ab und hatte sich ihre Zustimmung nur abringen lassen, weil Didier sein Lebensglück davon abhängig erklärte. Madame Morel gehörte zu den Müttern, die ihren Sohn überhaupt für jedes Mädchen zu gut finden. Als sie dann bei ihrem ersten Besuch statt der wonneseligen Braut, die sie zu finden erwartete, die scheu in sich selbst eingesponnene Marguerite traf, befremdete sie das wohl ein wenig, aber die französische Mädchenerziehung forderte ja diese Zurückhaltung. Marguerite benahm sich dem Herkommen gemäß. Jetzt aber gab es keine Beschönigung mehr. Wenn Marguerite ihren Sohn geliebt hätte, wäre ihr in ihrer Vereinsamung das Haus seiner Eltern als die beste Zufluchtsstätte erschienen, und sie hätte sich um so inniger an ihn und die Seinigen geschmiegt! Nein, sie liebte ihn nicht, und, was noch mehr: Didier wußte es, sie hatte es ihm gesagt! Diese Entdeckung machte sie so stutzig, daß sie verstummte. Sie wußte nun nicht mehr, auf welche Weise sie einen Druck auf Marguerite ausüben sollte. Und so setzte nach einigem Hin- und Herreden Marguerite ihren Willen durch. Die Morels nahmen von ihr Abschied und kehrten ohne sie nach Nancy zurück. Noch im Hotel hatte Madame Morel eine scharfe Auseinandersetzung mit ihrem Sohne. Didier gestand halb und halb zu, daß Marguerite ihn noch nicht liebte. „Mein Gott, ihr Herz ist eben noch nicht recht erwacht! Sie wird mich lieben lernen!“

„Wozu? Je weniger sie dich liebt, desto mehr wird sie deine Herrin sein!“ spöttelte die Mutter trocken. „O, sie macht kein schlechtes Geschäft, diese liebe Marguerite. Sie nimmt alles und giebt gar nichts dafür. Und das geschieht dir, nach dem zu Hause die hübschesten und reichsten Mädchen schmachten!“

„Mädchen, die ich nicht will, und diese will ich!“ beendete Didier den Streit.

Für Detlev war es keine geringe Ueberraschung, als ihm Madame Joß am anderen Morgen einen Brief von „Mademoiselle“ brachte. Ein wenig betroffen nahm er ihn entgegen. Vorerst dachte er nicht daran, was sie ihm wohl schreiben könne, sein Auge ruhte mit Innigkeit auf den Zügen der Adresse. Das also war ihre Schrift! So schrieben ihre schlanken Finger seinen Namen? Dann öffnete er den Brief und überflog verständnislos die wenigen Zeilen der Mitteilung. Marguerite hatte französisch und sehr kurz geschrieben. Aber es dauerte eine Weile, bis Detlev begriff, daß er mit den ersten Zeilen von dieser lieben Hand – seinen Laufpaß erhielt. Madame Joß gab ihm mündlich die nötigen Erläuterungen. Die Nachricht, daß Marguerite nicht nach Nancy ging, erleichterte ihm ein wenig den schmerzlichen Abschied von ihrem Hause. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens sagte er zu Madame Joß: „Ich begreife die Gründe Ihres Fräuleins und füge mich, so schwer es mir auch fällt. Wann soll ich denn gehen?“

„Sie sind gesetzlich berechtigt, bis zum Fünfzehnten hier zu bleiben,“ erklärte Madame Joß. „Wenn aber der Herr Leutnant früher eine Wohnung bekäme, vielleicht schon zum Ersten –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0214.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2020)