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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

genossen hatten. So aber wurden, wie Ettingen lachend versicherte, „die Wölfe allmählich zahm“; je toller es draußen zuging, desto fröhlicher steigerte sich die Laune am Tisch; der trauliche Reiz dieser Stunde und die wohlige Stimmung dieser sicheren Ruhe inmitten des rumorenden Ungewitters lachte und leuchtete von allen Gesichtern, am hellsten aus den Augen des Fürsten. Aus jedem seiner Blicke sprach das dankbare Wohlgefallen an der stillen, aufmerksamen Art, mit welcher Lo’ ihren Gast bediente und für ihn sorgte. „Wer das immer so haben könnte,“ sagte er, „nicht nur für eine Stunde, für immer: sich in allem Sturm, den das Leben bringt, so sicher und herzensfroh zu fühlen, wie wir da sitzen, während draußen alles drunter und drüber geht!“

„Das können S’ ja haben, Duhrlaucht!“ meinte Pepperl lachend, während er sich zum fünftenmal die Tasse füllte. „Bleiben S’ da bei uns und verangaschieren S’ d’ Fräul’n Petri als Wirtschafterin ins Jagdhaus! Da kriegen wir’s gut!“

Heiter ging Lo’ auf den Scherz des Jägers ein, aber Gustl schien die Sache ernst zu nehmen und betrachtete mit beklommener Aufmerksamkeit bald die Schwester und bald den Fürsten, der keinen Blick von Lo’ verwandte und jedes Wort von ihren Lippen wie eine neue Freude zu empfangen schien.

Auch Pepperl war plötzlich nachdenklich geworden. Das „Jagdhaus“ mochte ihn an ein anderes Gebäude erinnert haben, das nicht weit davon lag. Mit seufzendem „Vergelt’s Gott!“ zog er, als Ettingen die Serviette faltete und Lo’ den Tisch zu räumen begann, die Truhe an ihre Stelle zurück, setzte sich wieder und lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Hüttenwand. Auch Gustl, den das Balancieren und Turnen auf seinem „Schaukelstuhl“ ermüdet hatte, schien das Verlangen nach bequemer Ruhe zu haben; er trug die beiden Scheite zum Herd und schmiegte sich in die Ecke des Diwans.

So blieben Ettingen und Lo’ allein am Tisch, überschimmert vom Lichtkreis der Lampe, während alle Ecken und Wände der Hüttenstube in tiefem Schatten lagen. Und sie allein nur sprachen. Wie einer, der am Weg eine seltene Blume findet, sie betrachtet mit Lust und Staunen, an ihrer Schönheit sich nicht satt zu schauen vermag und die drängende Sehnsucht empfindet, das liebliche Wunder dieser Farben ganz zu verstehen, die Quelle dieses köstlichen Duftes auszuspüren – so fühlte sich Ettingen diesem Mädchen gegenüber. Er fragte und fragte, als sollte für ihn auf dem Grund dieser tiefen und klaren Menschenseele kein Licht und keine Regung verborgen bleiben. Wie mußte er staunen über die seltene Bildung dieses „Dorfkindes“! Ihr Wissen konnte nicht reicher sein, wenn sie die gerühmteste Schule besucht, den Unterricht der besten Lehrer genossen hätte. Und daß sie das alles wußte – als wie selbstverständlich betrachtete sie das! „Kann man denn leben, ohne an Wissen zu erwerben, was für uns erreichbar ist?“ Und wie ruhig und einfach sie das Leben ansah! Wie alle schreienden Fragen der menschlichen Daseinsnot für sie gelöst waren durch ihre wunschlose Zufriedenheit, durch die Herzensgüte, mit der sie alles und alles umschloß, durch ihren Glauben an das Schöne und an die zweckvolle Notwendigkeit alles Bestehenden, auch des Schmerzes. „Leben und leiden, das klingt zusammen und läßt sich nicht trennen … und könnten wir uns denn eine Freude denken, wenn wir den Schmerz nicht kennen würden? Wir lieben doch die Sonne nur, weil sie wiederkommt, wenn sie gesunken ist.“

Wohl mußte Ettingen bei seiner größeren Lebenskenntnis den Kopf zu so manchem Gedanken schütteln, den sie aussprach. Aber aus allem, was sie sagte, hauchte ihn eine Wärme an, die sein ganzes Wesen durchdrang. „Wie Sie von Welt und Menschen denken, mein liebes Fräulein, das alles ist so gut, so schön! Aber die Wirklichkeit des Lebens, die ist rauh und zwecklos häßlich, so grundverschieden von dem abgeklärten Bild, mit dem Ihre Seele alles widerspiegelt. Doch ich bin der letzte, der Sie in Ihrem Glauben irremachen könnte! Und wer weiß … vielleicht haben Sie dennoch recht … und wir Allerweltsklugen, die es besser wissen wollen, sind die Thoren, die alle Weisheit für sich haben, aber auch allen Schaden. Schließlich ist Wahrheit doch wohl etwas anderes als Wirklichkeit. Wahrheit, die sich greifen läßt und für alle gilt? Nein! Die giebt’s nicht! Wenn Wahrheit nicht in uns ist, dann ist sie nirgends. Nicht die greifbare Form der Dinge macht ihr Bild, sondern der Blick, mit dem wir sie sehen. Das Leben ist gut für Sie, weil Sie es sind. Sie stehen hoch, und Ihr Blick ist hell! Wer so sehen könnte wie Sie!“

„Liegt das nicht im Willen eines jeden?“

„Meinen Sie?“ Er schwieg und lächelte, als hätte er in Gedanken zu sich gesagt: Ich will’s versuchen!

Da hörten sie einen tiefen, schweren Atemzug, und alle beide blickten sie auf. „Ach Gott! Der arme Junge!“

Gustl war eingeschlafen, und in unbequemer Lage hing ihm der Kopf über die Lehne des Diwans hinunter.

Während Lo’ hinüberging, um den Knaben aufzurichten, riß auch Pepperl die Augen auf, der ebenfalls ein Nickerchen gemacht hatte und nun erwachte, da die Stimmen so plötzlich schwiegen.

Die Ermüdung dieser beiden mahnte Ettingen an die Zeit, an die er seit dem Eintritt in die Hütte noch mit keinem Gedanken gedacht hatte. Er sah nach der Uhr und sprang erschrocken auf. „Ach, du lieber Himmel! Zwölf Uhr! … Fräulein! Ich habe Sie um die halbe Nacht gebracht! Wie soll ich meine Unbescheidenheit entschuldigen? Ich kann es nur, wenn ich Sie zur Mitschuldigen mache … der Gast ist geblieben, weil ihn die Wirtin hielt. Jetzt aber fort! Auf, Pepperl! Wir gehen! Wir müssen gehen!“

Gehorsam erhob sich der Jäger und streckte die Glieder. Aber Lo’ sagte: „Sie können und dürfen nicht gehen! Das Gewitter scheint ja vorüber zu sein … man hört keinen Donner mehr! Aber dieser Regen … wie das gießt! Und jetzt, in der Nacht? Dieser Weg! Nein! Sie müssen bleiben! Ich erlaube nicht, daß Sie gehen.“

„Ja, Duhrlaucht, ’s Fräul’n hat recht!“ fiel Pepperl ein und öffnete die Thüre. Ein sausender Luftstrom fuhr in die Hütte herein und peitschte den Regen über die Schwelle. „Da schauen S’ ’naus, wie’s thut! Und die Finsternis! Da könnten wir den Hals riskieren! Na na, die Verantwortigung übernimm ich net! Jetzt müssen wir schon bleiben! Und’s Fräul’n wird net harb sein drum … gelten S’, na?“

Lo’ reichte dem Fürsten die Hand. „Wenn Sie gingen, jetzt, Sie würden mir nur eine Sorge machen. Ich bitte Sie, zu bleiben!“

Die Hand des Mädchens festhaltend, ließ sich Ettingen heiter auf den Sessel nieder. „Gut! Ich weiche der Majorität … und thu’ es gerne. Aber Gewissensbisse mach’ ich mir doch … und eine Bedingung stell’ ich: der arme Junge ist müd’, er soll sich ruhig niederlegen. Nicht wahr, Gustl, vor mir genierst du dich nicht?“

„Nein!“ sagte der Knabe mit seiner schlaftrunkenen Stimme. Er wartete nur, bis die Schwester ihm zunickte, dann zog er das Jöpplein aus und legte es sorgsam gefaltet über die Diwanlehne. In den Strümpfen und mitsamt dem Lederhöschen schlüpfte er unter die Decke, in deren Schutz er sich vollends entkleidete. „Lo’, jetzt lieg’ ich!“ – Das sollte heißen: Komm’ und sag’ mir Gute Nacht! Als fünfjähriger Bub hatte er sich’s angewöhnt, vor dem Einschlafen die Schwester so zu rufen – und daran änderte die Thatsache nichts, daß er im letzten Semester schon angefangen hatte, den „Cäsar“ zu lesen.

Sie ging zu ihm, und als er sie mit beiden Armen um den Hals nahm, küßte sie ihn auf die Wange und sagte ihm leis ins Ohr: „Denk’ an Papa!“

Während Ettingen schweigend die Geschwister betrachtete, stieg ihm warme Röte ins Gesicht, und er atmete auf, als wäre ein Wunsch in ihm erwacht, den er fühlte, ohne ihn zu verstehen. Als Lo’ zum Tisch zurückkehrte und eine grüne Blende um den Lampenschirm hängte, blickte er lächelnd zu ihr auf und sagte: „Wie gut der kleine Mann da drüben jetzt schlafen wird!“

Nun saßen sie wieder am Tisch, und damit der Junge den Schlummer leichter finden möchte, plauderten sie mit gedämpften Stimmen. Das machte sich auch Pepperl zu nutze, und es dauerte gar nicht lange, da hatte er schon wieder die Augen geschlossen.

Nur die beiden am Tische dort, die schienen keine Müdigkeit zu fühlen, kein Verlangen nach Schlaf. Und dieses leise Sprechen beim eintönigen Rauschen des Regens gab jedem Wort, das sie sagten, einen heimlichen, tieferen Sinn und umwebte die Plaudernden mit einer Stimmung, die sie einander näher brachte, ohne daß sie es wußten, und deren traulichen Reiz sie genossen, ohne ihm nachzufragen. Manchmal, nach einem ernsten Wort, verstummte ihr

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0203.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2024)