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6.

Wenn man nun bedenkt, unter welchen mühseligen Bedingungen E. Marlitt überhaupt schuf, dann muß sich der Respekt vor der Energie ihres Willens nur noch steigern. Das Gichtleiden, das sich schon in den ersten Jahren ihres neuen Arnstädter Lebens hemmend und schmerzlich fühlbar machte – in knollenartigen Verdickungen an den Hand- und Kniegelenken – verschlimmerte sich so weit, daß seit 1868 die Dichterin nicht mehr gehen konnte. Keine der vielen Kuren, die versucht wurden, half etwas. Eugenie blieb ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt, und nur wenn sich das (infolge dieser Bewegungshindernisse entstandene) Magenleiden besonders fühlbar machte und sie auch am Schreiben hinderte, kamen Klagen über ihre Lippen.

Sonst war sie die stets heitere und witzige „Tante Jenny“, die von ihrem Platz aus das ganze Haus regierte; nach und nach hatte es sich nämlich mit Neffen und Nichten gefüllt. Seit dem 29. Juli 1871 bewohnte sie mit den Ihrigen ein eigenes Haus, das „Marlittheim“, welches sie sich aus dem Erträgnis ihrer Bücher und einem hochherzigen Geschenke Ernst Keils erbauen lassen konnte. Es wurde ganz nach ihren Plänen eingerichtet, jede Einzelheit mußte ihr vorher unterbreitet werden, und während des Baues ließ sie sich oft hinfahren, um ihn zu besichtigen. Eine mächtige Lebensfreude war über sie gekommen: die kühnsten Träume ihrer Jugend erfüllten sich mit diesem Bau. Zwischen den leeren unfertigen Wänden ließ sie bei solchen Besuchen laut singend ihre schöne Stimme erschallen und bewirtete jedesmal die Arbeiter mit einem Freitrunk und Imbiß. Es war dieselbe Zeit, in der die Begeisterung über die ersten Siege gegen Napoleon durch ganz Deutschland erbrauste. Die Marlitt nahm so lebhaften Anteil daran, daß sie gar nicht schreiben konnte. Bis tief in die Nacht hinein saß sie mit den Ihrigen zusammen, der Depeschen harrend, die sie selbst laut vorlas und dann oft noch bis in den grauenden Morgen hinein besprach.

In diesem Sommer und Herbst entstand ihr „Heideprinzeßchen“ … Allerdings mußte sie Tage solcher Aufregung hinterdrein teuer bezahlen, denn ihr Leiden verschlimmerte sich darauf. Es stand in einem unaufgeklärten Zusammenhang mit ihren Nerven. Nach heftigen Gemütsbewegungen traten die Schmerzen, die Geschwülste an Händen, Hals und Knien, sowie die Unbeweglichkeit der Arme und Füße immer sehr schwer auf und ließen dauernde Verschlimmerung zurück. Das war ein Grund mehr für ihren oft peinlichen Abschluß vom Verkehr mit fremden Menschen. Sie mußte Erschütterungen vermeiden, nach der Uhr leben und durfte nicht aus der Ordnung kommen. Nur um doch neue Anschauungen, Originaleindrücke für ihre Beschreibungen zu gewinnen, entschloß sie sich in schönen Sommertagen zu Ausflügen in die nächste Umgebung, nach Elgersburg, Ohrdruff, Ilmenau, Kammerberg; sie waren immer mit Mühe und Umständlichkeit verbunden, da die Dichterin den Wagen, in den sie gesetzt worden war, nicht mehr verlassen durfte. So konnte sie von ihren Exkursionen doch nicht viel neue Eindrücke heimbringen und blieb in ihrer Produktion auf ihre Phantasie angewiesen.

Die Vollendung eines neuen Romanes wurde in der Familie fast so wie die eines neuen Hauses gefeiert. Während der Arbeit bewahrte die Dichterin die äußerste Diskretion über ihr Thun. Nichts war ihr peinlicher, als wenn ein fremder Blick ihr über die Schulter ins Manuskript gucken wollte. Den Schlüssel zu ihrem Manuskriptkästchen trug sie immer um den Hals gehängt. Wenn sie aber fertig war, dann wurde Leseabend angekündigt, der drei, vier Tage hintereinander dauerte. An solchen Abenden lag feierliche Stille über dem ganzen Hause. Die Kinder spielten in einem entfernt liegenden Zimmer Lotto und erhielten dazu hübsche Gewinste, Chokolade, Kuchen, Obst. Die Dienstboten desgleichen in ihren Stübchen. Das Lesezimmer, Eugeniens Arbeitszimmer, wurde in ihrer Abwesenheit mit Palmen, Blumen, Lampen geschmückt, ihr eigener Sitz bekränzt und der Platz für den Bruder Alfred – den wichtigsten Zuhörer – so bequem hergerichtet, daß „kein irdischer Wunsch den Hochgenuß des Zuhörens stören konnte.“ Die besten Cigarren wurden ihm bereitgestellt, daneben Bier, Thee, Bäckerei. Seine Frau – „Idus“ nannte sie die dichtende Schwägerin – mußte eine Handarbeit nehmen, konnte aber doch nur scheinbar sticken, denn das leiseste Geräusch störte die Dichterin, die selbst mit lauter, klangvoller Stimme und höchstem Ausdruck ihr neues Werk vorlas, ab und zu einen Schluck warmen Thee nehmend. Gegen 12 Uhr, also nach ungefähr vier Stunden, schlug sie den Manuskriptkasten zu, und nun begann die Debatte zwischen ihr und dem Bruder, indes die anderen zuhörten. Aenderungen des Geschriebenen wurden aber nach solchen Leseabenden nicht vorgenommen. Sie hatte nicht früher zu schreiben begonnen, als bis die ganze Geschichte im Kopfe fix und fertig war. Ein starkes Gedächtnis unterstützte sie bei dieser Arbeit; sie pflegte keine Entwürfe vorher niederzuschreiben, weil sie ihrer nicht bedurfte, und war der Text fertig, so konnte sie eingreifende Veränderungen nicht mehr machen.

Von ihren Nichten und Neffen wurde „Tante Jenny“ förmlich vergöttert. Sie unterhielt sie auch so gut in jenen Mußestunden am späten Nachmittag, wenn sie die Feder weggelegt hatte, erzählte Märchen, arrangierte Spiele. Je älter die Kinder wurden, um so schöner und bedeutsamer konnten die Spiele werden. Im Marlittheim gab es später ein schönes Haustheater, das Tante Jenny mit Lust dirigierte. Die Kinder hingen bald mehr an ihr als an der eigenen Mutter. Die Tante war aber auch immer so freigebig und erfinderisch im Schenken; zu einer wahren Kunst hatte sie es ausgebildet. Geburtstage, Weihnachtsfeste wurden in jenem Stile gefeiert, den einst die Tante selbst im fürstlichen Schlosse zu Sondershausen jubelnd kennengelernt hatte. Es gab für die Tante keinen höheren Genuß, als an der Freude beschenkter Menschen teilzunehmen. Um sie zu erhöhen, bereitete sie oft harmlos maliziöse Überraschungen und weidete sich an den enttäuschten Gesichtern, die rasch wieder ins Gegenteil umschlugen, wenn dann doch die Freude kam. Wäre die Welt mit Geschenken glücklich zu machen, so hätte unsere Dichterin ganze Wälder von Christbäumen aufgerichtet. Kein Bittender klopfte vergeblich an ihre Thüre; sie übte im stillen eine weitgehende Wohlthätigkeit.

Nur mit der litterarischen Welt pflegte sie auffallend wenig Beziehungen. In München war sie doch in persönliche Berührung mit einzelnen Dichtern von Rang und Namen gekommen. Bodenstedt hatte sich ihretwegen redlich bemüht; und hatte er keinen Erfolg, so war es doch gewiß nicht seine Schuld. Aber die Marlitt hat ein eigenes Mißtrauen gegen Schriftstellerkollegen nie überwinden können. Das Urteil des Publikums über ihre Erzählungen, das sich in der Form der mächtig anschwellenden Auflagen der „Gartenlaube“ äußerte, stand doch in einem merkwürdigen Kontrast zum Urteil vieler litterarischer Menschen, die ihren Anfängen kaum ein bißchen Talent zugestehen mochten. Es ist auch bemerkenswert, daß man weder in den Briefen noch auch in den Erzählungen jemals einen Autornamen oder eine litterarische Anspielung findet, indes doch sicher feststeht, daß sie viel las und sich mit der zeitgenössischen Litteratur auf dem Laufenden erhielt.

Man kann dies aus dem sehr merkwürdigen Briefwechsel erkennen, den sie im Jahre 1868 mit dem 82jährigen Fürsten Pückler-Muskau führte. Diese Briefe wurden schon zu Lebzeiten der Marlitt (1873) von der indiskreten Ludmilla Assing im ersten Bande der „Briefwechsel und Tagebücher von Hermann Fürst Pückler-Muskau“ veröffentlicht und erregten damals nicht wenig Aufsehen. Denn ganz unerwartet – ohne die Dichterin auch nur um Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Briefe gebeten zu haben – hatte Ludmilla Assing den von der Marlitt ängstlich gehüteten Schleier des Geheimnisses, der ihre vielbesprochene Person noch vielfach verhüllte, weggezogen, um nicht zu sagen: weggerissen. Es waren Mitteilungen der persönlichsten Art, selbstbiographische Bekenntnisse, welche Fräulein John nur darum niederzuschreiben sich überwunden hatte, weil sie an einen – wie sie vermeinte – nicht bloß hochgeborenen (denn darauf hielt sie bekanntlich nicht viel), sondern auch geistig vornehmen und vor allem: ganz einsamen Mann gerichtet waren … Aber schließlich hatte die ängstliche Eugenie diese Indiskretion doch nicht zu bedauern, denn in den Briefen an den Fürsten Pückler erscheint sie in der That als ein freier und großer Mensch, als eine Frau von feinstem Takte, die mit der Ruhe der Reife und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0190.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)