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Marguérite flog hin und her wie ein aufgescheuchter Vogel. Sie hielt der Mutter ein Riechfläschchen vor und rieb ihr die Stirn mit Kölnischem Wasser, aber umsonst spähte sie nach einem Zeichen zurückkehrenden Lebens. Eben stürzte Madame Joß herein. Als sie die Liegende erblickte, rang sie die Hände und schrie auf. Ein Blick, der sich zu dem Offizier verirrte, verriet, daß sie die Wahrheit erkannte. Doch schickte sie noch Jeannette nach irgend einer Essenz hinunter und bemühte sich um die, der nicht mehr zu helfen war. Obgleich auch er dies erkannte, gab Detlev doch Stefan den Auftrag, einen Arzt zu holen. Die Perrauls kamen mit vielen Mon Dieu! und Jésus Marie! Man brachte belebende Mittel, doch nichts half, kein Hauch trübte den vorgehaltenen Spiegel … Da sank Marguérite mit einem dumpfen Schmerzenslaut an der Leiche nieder, und Detlev, herantretend, drückte leise die Lider der Toten herab, um das schreckliche Starren dieser gebrochenen Augen zu verhüllen. Der preußische Offizier drückte der toten Feindin seines Volkes die Augen zu.

Stefan brachte einen Arzt. Nicht Doktor Laurins. Er hatte aus eigener Machtvollkommenheit den nächsten geholt. Es war ein großer blonder Deutscher, Doktor Schmidt. Nach einem mitleidigen Achselzucken, das seine eigene Hoffnungslosigkeit verkündete, machte er sich ans Werk und stellte alle möglichen Wiederbelebungsversuche an. Aber kein Lebenshauch zeigte sich, die künstliche Atmung verfing nicht, und mit einem Kopfschütteln ließ der Doktor endlich den Körper der armen Frau aus seinen Händen gleiten. „Hier, mein Fräulein,“ sagte er zu Marguérite, „könnte nur mehr der helfen, der den Lazarus und das Kind des Jairus erweckte. Es war ein Herzschlag.“ Marguérite brach lautlos neben dem Bett zusammen, die beiden Joß schluchzten laut, die Perrauls fingen an zu beten … Detlev begleitete den Arzt hinaus.

„Ein kurzer Tod! Ein schöner Tod! Eine Verwandte von Ihnen, Herr Leutnant? Ach so, die Wirtin! Dann geht es Sie ja zum Glück nicht näher an!“

Es ging Detlev nicht näher an, aber Marguérites Schmerz zeigte ihm erst recht, wie teuer sie ihm war. Wie gern hätte er ihr Trost zugesprochen und konnte es doch nicht! Nach und nach kamen auch die Joß und die Perrauls aus dem Zimmer. Marguérite hatte gebeten, sie mit der Toten allein zu lassen. Bis zum Abend blieb sie drinnen, ihrem Schmerz überlassen, während er selbst in seinem Wohnzimmer ruhelos auf und ab ging. Man hätte sie nicht so mit der Leiche allein lassen sollen, aber wer hatte das Recht, sie ihrer Betrübnis zu entreißen? Madame Joß und Jeannette fiel es zu, die nötigen Gänge zu machen. Auch Detlev übernahm einen Teil derselben, unter anderem die Besorgung des Telegramms an die Morels. So mußte er noch den Bräutigam herbeirufen, den einzigen, der berechtigt war, dem weinenden Mädchen Trost zu bringen.

Als er von seinen Gängen zurückkam, wurde Madame Dormans eben drinnen aufgebahrt. Nachdem die Frauen, die dies Liebeswerk übernommen hatten, damit fertig waren, trat Detlev in das Schlafzimmer .. Kerzen brannten zu Häupten des Lagers, ein Kruzifix und ein Betschemel standen zu Füßen .. Marguérite kniete vor dem Lager der Toten, deren wachsgelbes Gesicht einen sanften und friedlichen Ausdruck angenommen hatte. Der Schmerz des jungen Mädchens schien sich erschöpft zu haben. Sie war in sich versunken, blaß und still und in ihrer Trauer so abwesend für das, was um sie vorging, daß Detlev es nicht wagte, an sie heranzutreten und ihr sein Beileid auszusprechen. Bloß von ferne betrachtete er das leidvolle, süße Gesicht, das in seinem Schmerz nichts mehr von ihm zu wissen schien.

Er verbrachte die Nacht schlaflos. Erinnerungen an den Tod seines Vaters wechselten mit trüben Grübeleien. Dieser plötzliche Tod Madame Dormans’ würde wohl die Folge haben, daß Madame Morel, Didiers Mutter, das junge Mädchen mit sich nach Nancy nahm, und er verlor sie auf Nimmerwiedersehen aus den Augen. Wie kurze Frist war ihm doch gegönnt gewesen, sie zu kennen! Zu kurz war sie gewesen oder – zu lang.

Am nächsten Morgen, noch ehe er Marguérite wieder gesehen hatte, kam Madame Morel an. Hinter dem Fenster stehend, sah er sie aus dem Wagen steigen, eine kleine viereckige Dame mit glatten, schwarzen Scheiteln und einem fetten, weißen Gesicht, aus dem winzige, schwarze Vogelaugen glitzerten, die durch keine Gewalt der Erde dazu bewogen werden konnten, traurig drein zu sehen, sondern das würdige Doppelkinn und den Trauerschleier, den die Angekommene trug, Lügen straften. Von dem Augenblick, da Madame Morel drüben eingezogen war, hielt Detlev sich fern. Es bedurfte seiner Einmischung nicht mehr. Madame Morel nahm alles in die Hände, und mehr als einmal klang ihre metallische, nur etwas feiste Stimme zu ihm herüber. Am Abend langte auch Didier an, den man telegraphisch von Paris berufen hatte.

*      *      *

Erst am offenen Grab ihrer Mutter sah Detlev Marguérite wieder. Sie bewahrte während des Begräbnisses eine wunderbare Fassung. Blaß, aber thränenlos starrte sie vor sich hin.

„Aber sie weint ja nicht!“ sagte eine kleine Französin neben Detlev entrüstet. Marguérite hatte alle ihre Thränen schon vorausgeweint. Wer ihr ins Auge sah, erkannte ihren tiefen Schmerz.

Madame Morel schluchzte am Grabe der Jugendfreundin herzbrechend. Wenn sie aber nicht das Taschentuch vor den Augen hatte, blickten diese mit neugierigem Interesse über die Trauerversammlung, und man hatte den Eindruck, daß ihnen nichts entging. Auch Didier Morel weinte heftig in sein Taschentuch hinein und machte bei den Trauergästen dadurch einen guten Eindruck.

Nach dem Begräbnis nahmen Mutter und Sohn mit Marguérite in dem engen Empfangszimmer die Beileidsbezeigungen ihrer Bekannten entgegen, und auch Detlev begab sich, diesmal in Uniform, hinein. In förmlicher Weise hatte er seine Teilnahme Marguérite noch nicht ausgesprochen. Es war seine Pflicht und zugleich sein Recht, dies jetzt nachzuholen.

Auf dem kleinen Sofa thronte Madame Morel bereits wieder ganz ruhig, obgleich sie sich manchmal mit dem Tuch über die Augen fuhr. Der unverminderte Glanz dieser klugen Aeuglein, die spiegelglatten Scheitel und das ganze behäbige Wesen ließen keine innere Erschütterung oder Gemütsbewegung erkennen. Marguérite saß auf einem Stuhl neben dem einen Fenster, vor dem anderen stand Didier Morel, der weit erregter aussah als seine Mutter und mit einiger Ungeduld dem sich im Kreis drehenden Gespräche zuhörte. Als nun auf Madame Morels hellklingendes „Entrez!“ die Thür aufging und der deutsche Offizier erschien in seiner schmucken blauen Uniform, mit der Stirn fast den oberen Rand der Thür berührend, wandten sich alle Blicke ihm zu, und die deutschfeindlichen Besucherinnen sahen ihn ganz entgeistert an. Selbst Marguérite blickte auf und erhob sich langsam. Detlev grüßte die Anwesenden mit einer halbkreisförmigen Verbeugung, dann verbeugte er sich tiefer vor Marguérite und sprach ihr sein Beileid in deutscher Sprache aus. Das verstanden die anderen nicht. Da brauchte er sich also nicht auf die kalte Formel zu beschränken und konnte in seine Worte etwas hineinlegen von dem herzlichen, innigen Bedauern, das ihr Leid ihm abgewann. Marguérite hörte ihm schweigend zu, mit gesenkten Augen. Sie reichte ihm nicht die Hand, und als er geendet hatte, kam nur ein leise gehauchtes „Merci, monsieur!“ von ihren Lippen. Während er sprach, fühlte Detlev sich von allen Seiten mit spitzigen, kalten Blicken beobachtet, kaum jedoch hatte er geendet, so kam auch Madame Morel heran und fragte mit kühler Liebenswürdigkeit: „Monsieur spricht nicht französisch?“ Nachdem sie die Versicherung des Gegenteils erhalten hatte, dankte sie ihm in ihrer Sprache sehr leutselig für die Gefälligkeiten, die er ihrer teuern Marguérite erwiesen hätte. Madame Joß habe von seiner Freundlichkeit gesprochen, und sie nehme das auf, als ob er es ihrer Tochter gethan habe – „denn Marguérite ist ja beinahe schon meine Tochter.“

Detlev verbeugte sich schweigend. Was Madame Morel sagte, klang nicht sehr echt und nicht ganz falsch, ganz so echt wahrscheinlich, wie ihre Dankesäußerungen und Liebenswürdigkeiten gewöhnlich zu klingen pflegten. Es war eine gewisse geschäftliche Höflichkeit in ihrem Benehmen, die Höflichkeit der Kaufmannsfrau, die jedem Kunden ohne nationale oder persönliche Rücksichten gleich liebenswürdig begegnet. Nun näherte sich Didier Morel gleichfalls. „Auch ich danke Ihnen, mein Herr, im Namen meiner Braut,“ sagte er, und zwar deutsch. Noch eine stumme Verbeugung, und Detlev zog sich zurück.

(Schluß folgt.)


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