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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Die ist also keine Feindin, Stefan?“

„Zu Befehl, nein … Die deutsche Uniform gefällt ihr sogar besser …“

„Ah, wirklich?“ Detlev lächelte belustigt, wodurch Stefan sich ermutigt fühlte, fortzufahren: „Aber die anderen im Hause! Lauter Deutschenfresser, Herr Leutnant!“

„Uns werden sie nicht fressen, Stefan,“ beruhigte Detlev.

„Ne! Könnten ihnen im Magen liegen bleiben!“ grinste Stefan.

Detlev hatte bereits bemerkt, daß sein Einzug ins Haus bei den übrigen Hausbewohnern keineswegs ungeteiltes Entzücken erweckte. Im Erdgeschoß befand sich ein Laden, dessen Inhaberin ihm vorhin, als er ins Haus trat, einen unverfälschten Hassesblick zugesandt hatte, und dann war er auf der Treppe mit einem kleinen schwarzen Mann zusammengetroffen – vermutlich der Agent – der ihn mit Entsetzen und Verstörnng angestarrt hatte.

„Mattmosell Schannett hat mir auch gesagt, warum sie uns alle so hassen. Die Frau in der Butike unten verlor ihren einzigen Sohn im Kriege.“

„Wo ist er gefallen?“

„Nirgends, Herr Leutnant. Er war erst ’n paar Jahre alt. Aber während der Belagerung, da kriegte der arme Junge den Typhus, und aus war es. Nun meint die Frau, wenn die Deutschen Metz nicht belagert hätten, wäre es nicht geschehen, und so rechnet sie ihn uns an, als Kriegsopfer. Was dann die beiden alten Damens nebenan sind, die verloren damals im Kriege ’nen Bräutigam. Es ist aber nicht sicher, daß er gefallen ist. Vielleicht hat er sich bloß seitwärts in die Büsche geschlagen. Auch weiß man nicht, welcher von ihnen er eigentlich gehört hat, und so trauern sie noch heute alle beide um einen einzigen Bräutigam.“

Ueber Detlevs Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Ist das die ganze Verlustliste?“

Des Burschen breites Lächeln verschwand. „Zu Befehl, nein, Herr Leutnant. Der Vater von dem schönen Fräulein, Monsieur Dormans, der ist richtig bei der Belagerung von Metz gefallen.“ Sein Gesicht war bei dieser Mitteilung ganz ernst geworden. „So ’n schönes Fräulein und keinen Vater von Geburt an … Und die kranke Madame soll nicht wenig griesgrämig sein.“

„Nun hast du mir ja wohl die ganze Hauschronik berichtet,“ schnitt Detlev weitere Erörterungen ab. „Du kannst jetzt gehen, Stefan. Schick mir aber später die Madame Joß herauf. Ich möchte mit ihr sprechen.“

Nach einer Stunde etwa klopfte es an die Thüre und Madame Joß trat mit verbindlichem Lächeln ins Zimmer, nach den Wünschen des Herrn Leutnants fragend.

Detlev hatte bereits mit ihr verabredet, daß sie gegen entsprechendes Entgelt die letzte Hand an die Ordnung seiner Zimmer zu legen und seine Wäsche in stand zu halten habe. Sein Stefan bediente ihn zwar mit Eifer und Geschick und konnte zur Not ein Stubenmädchen ersetzen, aber seine Begriffe waren doch etwas gar zu militärisch. Die Stühle mußten in Reih’ und Glied stehen wie Soldaten, und auch die Nippes stellte er auf wie Rekruten. Weibliche Beihilfe konnte ihm nur zu statten kommen.

Madame Joß nahm Detlevs Anordnungen bereitwillig entgegen und versprach, alles nach Wunsch zu besorgen. Zugleich benutzte sie die Gelegenheit, ihm ihre Tochter als Weißnäherin und Stickerin zu empfehlen. Detlev sagte gern zu, ihr vorkommenden Falls seine Kundschaft zuzuwenden, und durch seine Freundlichkeit ermuntert, kam die Frau dann sofort auf ihre Verhältnisse zu sprechen. Mein Gott, sie hatten den Nebenverdienst recht nötig.

Der kleine Hausmannsposten trug nicht viel, und die Bedienung der Damen Perraul und Dormans noch weniger. Die Fräulein Perraul verfügten nur über eine bescheidene Rente, und Madame Dormans mit ihrer Tochter lebte von der Miete ihres Hauses.

Die hohen Steuern und die Zinsen der Hypothek abgerechnet, blieb ihnen nicht viel, und dieses Wenige verschlang größtenteils Madames Krankheit. „Unser armes Fräulein genießt nichts Gutes. Sie kommt fast nirgends hin als in die Kirche und auf den Friedhof. Ich möchte es ihr wahrhaftig gönnen, wenn ihre Verhältnisse sich ändern würden!“

„Ist dazu Aussicht?“ fragte Detlev.

„Man muß immer hoffen,“ wich Madame Joß aus. „Aber wenn sie auch reich wäre und alle Vergnügungen haben könnte, sie würde doch auf alles verzichten, um bei der Mutter zu bleiben. O, sie ist engelsgut, Mademoiselle! Madame macht ihr das Leben oft sauer, aber Mademoiselle beklagt sich nie.“

„Madame ist also nicht sehr geduldig?“

„Sie leidet zuviel, Monsieur. Das verdirbt den Charakter. Nicht, daß sie unfreundlich wäre gegen Mademoiselle. O nein, sie liebt ihre Tochter unendlich und giebt ihr nie ein böses Wort … Aber sie hat einmal nicht die Natur, daß sie ihre Leiden verbergen könnte, um Mademoiselle nicht zu betrüben. Sie muß klagen und jammern, sie muß! … Und dann ärgert sie sich so viel ...“

„Worüber?“

„Ueber –“ Frau Joß stockte verlegen. „Mein Gott, über alles. Es ist ihr Bedürfnis. Ich weiß nicht, wie sie’s aushielte, sich nicht zu ärgern. Sehen Sie, Monsieur: wenn man auf Dornen liegt und man kann zur Seite rücken, so thut man’s doch, nicht wahr? Sonst hat man kein Recht, sich zu beklagen. Nun, Madame Dormans rückt nicht ab, die Dornen sollen nachgeben, und da sie’s nicht thun …“ Sie schloß mit einem Achselzucken.

Als Detlev Madame Joß entlassen hatte, blieb er in Nachdenken zurück. Zu dem starken Eindruck, den ihm die von der Trauertracht nur gehobene Schönheit und Anmut des jungen Mädchens gemacht hatte, gesellte sich noch das Mitleid über ihre Lage. Abgeschlossen vom Leben, in fast klösterlicher Stille und Einsamkeit verlebte die schöne Blonde ihre Tage an der Seite einer herb gestimmten Mutter, die ihr vermutlich nichts als Haß und Groll predigte zu einer Zeit, wo andere Mädchenherzen sich weicheren Gefühlen hingeben dürfen …

Er bekam sie zunächst gar nicht zu Gesicht, vernahm nur von Madame Joß, daß Madame Dormans wieder einmal einen heftigen Anfall gehabt habe. Sie litte an Herzkrämpfen, die mitanzusehen schrecklich sei, und thatsächlich werde von diesen Anfällen Mademoiselle Marguérite noch mehr mitgenommen als die Kranke selbst. Zum Glück hätte Madame nach solchen schrecklichen Tagen und Nächten immer für längere Zeit Ruhe. Da Detlev häufig nach dem Befinden seiner Wirtin fragte, so nahm Madame Joß die Gewohnheit an, ihm über deren Leiden ausführlicheren Bericht zu erstatten als er verlangte; aber er ließ der guten Frau die epische Breite ihrer Bulletins hingehen, denn zwischendurch erwähnte sie ja immer auch Mademoiselle, und von dieser zu hören, wurde er nie müde. Seine Gedanken beschäftigten sich auch sonst gern mit ihr, doch nahm ihn das Leben in der neuen Garnison so in Anspruch, daß ihm nicht viel Zeit zu müßigen Träumereien blieb. Die altersgraue enggebaute Stadt mit dem stockenden Wachstum, in der man kaum einen Neubau erblickte, hatte für Detlev viel Interessantes, zumal er noch nie in einer Festung gelebt hatte. Die vielen Forts, Lunetten, Brücken, Wälle, Graben und die alten Thore, alles, was dem Nichtmilitär eine solche Stadt verleidet, wurde von ihm mit Aufmerksamkeit besichtigt. Die Umgebung der Stadt mit ihren vielen freundlichen Dörfern und der anmutigen Mosellandschaft lud zu Ausflügen ein, während meistens ungetrübt schönes Wetter herrschte und die Spätherbstsonne ihren goldigen Schein über das Land ergoß. Detlev schaffte sich ein Pferd an, das er freilich außer Haus einstellen mußte, und machte in dienstfreien Stunden lange Spazierritte; alle durch den Krieg berühmten Orte und Schlachtfelder der Umgebung wurden besucht, und daheim warf er sich eifrig auf das Studium der Festungskunde. Seine Geselligkeit beschränkte sich auf jene, die ihm die Kameradschaft gebot.

Diese stille Lebensweise machte ihn zu einem sehr angenehmen Mieter, und wenn Madame Dormans sich nach dem „Preußen“ erkundigte, hatte Madame Joß denn auch nur Vorteilhaftes zu berichten. Madame Dormans hätte eigentlich sehr wohl damit zufrieden sein dürfen, es wäre ihr aber im Gegenteil lieber gewesen, wenn die Hausmannsfrau ihr rechte Schauergeschichten von dem Hochmut und der Roheit des fremden Kriegers hätte erzählen können. Sich über dies oder jenes aufzuregen, bildete ja fast ihre ganze Zerstreuung, denn wenn auch der Herzkrampf sie gerade in Ruhe ließ, so hielt doch irgend ein anderes ihrer Leiden sie im Bett oder wenigstens zwischen ihren vier Wänden fest.

Sie selbst wurde für Detlev, da sie ihm unsichtbar blieb, fast zu einer mythischen Figur. Hingegen konnte es nicht fehlen, daß er Marguérite, die doch wenigstens ihren Kirchgang machte,

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