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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Da hatte er etwas gelernt: so oft er nun ein wenig lange ausgeblieben war oder sonst ein schlechtes Gewisien hatte, verlegte er sich aufs Brummen; die Frau hörte ihn schon in der Küche, wenn er die Treppe herunter stampfte, und es tönte den Gang entlang, als sei einer aus dem Bärenzwinger im Stadtgarten ausgebrochen. Die Fragen erstarben ihr auf den Lippen, und sie that alles, was er wollte, nur damit er still war. Er brachte es sogar so weit, daß ihm zuweilen gestattet wurde, eines der beiden Fenster im Schlafzimmer zu schließen; hier war sein Tisch mit dem Tintenzeug. Sonst, kaum war er bei der Arbeit gesessen, kam die Frau hereingestürzt: „Da drin ist wieder keine Luft!“ und riß das zweite Fenster auf.

Beklagte er sich: „Siehst denn nit, ich sitz’ ja mitte im Zug?* gab sie ihm zur Antwort: „Das muß einer aushalte könne, Luft muß sein.“

„Gott sei Dank,“ sagte er jeden Tag von neuem, so oft er sich an den blankgescheuerten Tisch in der Küche setzte, „Gott sei Dank, daß unser Küchele nur ein Fenster hat!“ –

„Frau Stehle,“ sagte der Polde, nachdem er seine zehn Eimer Kohlen in die verschiedenen Bureauzimmer geschleppt hatte, „Frau Stehle, er wartet –“

Sie stand in der Küche mit beiden Armen im Waschkübel.

„Wer wartet?“

„Der Schloßplatzhund.“

„Hab’ jetzt keine Zeit, du siehst – geh’ heim!“

Eine ganze Weile verging, da glaubte sie etwas wie einen Seufzer zu hören. „Herrgott,“ rief sie aus, „jetzt steht der Bub’ noch immer da – was willst denn noch?“

Keine Antwort.

„Entweder du redst oder du gehst!“ fuhr sie ihn an.

Er seufzte wieder, das Sprechen wurde ihm offenbar nicht leicht, endlich kam es ihm stockend über die Lippen:

„Er – er hat so – so traurige Auge.“

Frau Stehle fuhr mit dem rechten Arm aus der Seifenbrühe und riß den Küchenschrank auf.

„Da, in dem Schüssele links sind ein paar Sache, hol’s –“

Draußen im halbdunklen Gang beugte sich der Knabe rasch über die Schüssel und nahm einen Mundvoll von dem kalten Gemüse; es überkam ihn sogar einen Augenblick die Versuchung, sich mit dem Essen zu verstecken. Aber er überwand sich, indem er sich vornahm: die Hälft’ will ich ihm geben.

Er hatte eben angefangen, den Hund zu füttern, als an dem Haus neben dem Bureaugebäude ein Fenster geöffnet wurde.

„Du, Kleiner,“ rief ihn eine Frau an, „komm’ einmal her, ich hab’ auch was für das arm’ Tier.“ Dem Polde wurde eine ganze Schüssel voll Knochen und Fleischreste eingehändigt.

„So gute Sache,“ seufzte er in sich hinein, aber die Frau blieb am Fenster stehen und schaute zu, wie sich’s der Hund schmecken ließ; so ging Polde, der sich fürs Leben gern etwas genommen hätte, leer aus.

Die Nachbarn fuhren fort, von dem Abfall ihrer Mahlzeiten herzugeben; ein paar Dienstmädchen aus den nächsten Häusern kamen auch mit Knochen und Brotresten herbei. Der Hund aber wollte seine Mahlzeiten nur vom Polde verabreicht haben; er nahm nichts, wenn ihm ein andrer etwas hinwarf, sondern bellte jeden an und wies ihm die Zähne.

Polde saß nun jeden Nachmittag auf der Treppe des Bureaugebäudes und machte seine Aufgaben, und der Hund saß zufrieden mitten auf der Gasse, statt wie sonst heulend herumzuirren.

Frau Stehle fand einmal den Kleinen da draußen und schalt ihn tüchtig aus: „Was gehst du denn nit heim und machst deine Aufgabe in der warme Stub’, statt auf die naßkalt’ Trepp’ zu sitze?“

Das Kind sah nach dem Hund. „Er ist sonst so allein –“

„Dumm’s Zeug’,“ sagte Frau Stehle, „das ist kein Hund wert, daß einer nix lernt; wie kannst denn du da drauße dein Schriftlich’s mache – gelt, du machst’s nit?“

Polde wurde rot.

Sie wollte ihn in ihrer raschen Art von den Steinstufen wegreißen, da fuhr sie ordentlich zusammen, so eiskalt waren die Fingerchen, die sie in der Hand hielt. „Geh’ in die warm’ Küch’,“ sagte sie, „ich will dir’s erlaube, dein Schriftlich’s meintwege drin zu mache, aber wasch’ zuerst deine Händ’, sonst wird mir’s übel, wenn ich die schwarze Pfote alleweil sehe soll!“

Als er vor ihr herging, erschrak sie über seine fadenscheinigen Höschen, durch die man fast die blanke Haut durchschimmern sah. „Auf Weihnachte mach’ ich ihm einen Anzug,“ nahm sie sich vor.

Während er sein Schriftliches machte, bekam er ein Schüsselchen Kaffee und ein Stück Brot dazu. Er war so schnell damit fertig, daß Frau Stehle zu ihm sagte: „Man könnt’ ja meine, du bekommst den ganze Tag nix zu esse; so viel ich doch weiß, hat dein Vater einen schöne Verdienst; oder geht dir was ab?“

Das Kind wurde dunkelrot und schüttelte den Kopf.

Eben das ärgerte die lebhafte, gesprächige Frau so sehr an Polde: es war nichts aus ihm herauszubringen, nicht ein Lächeln, kein frohes Wort; nie daß er etwas von zu Haus erzählt oder eine genügende Antwort gegeben hätte, wenn sie nach den Seinen fragte.

„Der Bub’ hat keinen offene Blick,“ sagte sie zu ihrem Mann, „jetzt ist er schon bald ein Jahr im Haus, und ich weiß noch immer nit, was in ihm vorgeht – ist er gut oder ist er schlecht? nix weiß ich –“

„Du siehst’s ja, wie er mit dem Hund ist,“ sagte Herr Stehle, „das kann dir doch genug sein.“

Sie zuckte die Achseln. „Er ist halt mei Antipathie!“

Eines Abends, der Polde wollte eben die Küche verlassen, fiel es ihr auf, wie vollgepfropft der Schulranzen war, den er unter dem Arm trug.

„Was hast denn da drin?“ fragte sie und schnürte den Ranzen auf.

Ein paar große Stücke Steinkohlen gleißten ihr entgegen.

„Was,“ schrie sie auf, „nit emal ehrlich ist der Kerl? Seine Dummheit, seine Lahmheit, alles hab’ ich in Kauf genomme – aber nit emal ehrlich! Warum nimmst du Kohle?“ herrschte sie den Buben an, „hat’s dich deine Mutter geheiße? Red’ – die Wahrheit will ich wisse, red’, du verstockter Kerl, du hinterlistiger, jetzt redst einmal oder –“

Da gewahrte sie, wie er am ganzen Körper zitterte, da sah sie den Blick voll Todesangst, der von ihr zu ihrem Mann irrte, sich an dessen Gesicht wie hilfesuchend festklammernd.

„Polde,“ nahm Herr Stehle das Wort, „das war nit brav von dir, so was darf nimmer vorkomme, sonst müsse wir dir den Laufpaß gebe –“

„Von jetzt ab giebt’s keinen Kaffee mehr am Nachmittag,“ unterbrach ihn die Frau, „das ist deine Straf!“

„Den Kaffee hätt’ ich ihm gelasse,“ meinte der Mann, nachdem das Kind gegangen war.

„So? Natürlich, o ja, du, selber so ein Lahmhans – braucht’ ich überhaupt den Bube, wenn du dich tummeln wolltst und eine Stund’ früher aufstehe? Aber ein Mann und sich tummeln, ein Mann und sich eine Müh’ anthun – es ist einer wie der andre. Die Herre da drobe, Gott soll mich bewahre, mein halb’s Tagwerk hab’ ich vollbracht, rücke die erst an; aber in die Nacht ’nein bleibe, nur damit ich so spät wie möglich an meine Zimmerräumerei komm’, das ist ihr Hauptpläsir. So, und jetzt setz’ dich her und lies mir die Zeitung, denn seine Bildung muß der Mensch habe; ich flick’ derweil deine Socke und näh’ am Polde seinem Anzug, denn einen Anzug muß er habe, das laß ich mir nit wegdisputiere.“

Herr Stehle lachte und nahm die Zeitung zur Hand.

Am andern Morgen, als sie beim Frühstück saßen, kam der Polde in die Küche, viel eiliger als sonst: „Jetzt weiß ich auch, warum er so verhetzt ist.“

„Wer?“ fragte Frau Stehle.

„Der Schloßplatzhund,“ sagte das Kind, indem es seinen Morgenkaffee in Empfang nahm und schnell hinunter trank; das Brot wurde in die Tasche gesteckt.

„Ich bin ihm nach, gestern abend – an die Bahn rennt er, an alle Wäge hat er ’rumgeschnuppert und übers Gleis’ – immer hin und her; sie habe nach ihm geworfe und getrete, einen Klotz hat er an Kopf kriegt, daß er geblutet hat. Einer hat gesagt – das ist jetzt alle Abend dieselbe Geschicht’. Drum ist er so verhetzt,“ schloß der Polde.

So lange hatte er noch nie geredet.

„Jetzt wird mir’s immer besser,“ sagte Frau Stehle, „du laß’st einen ja gar nit zu Wort komme.“

„Hm,“ meinte Herr Stehle, „das ist ein arm’s Tier, ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0086.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2019)