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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

festen Verbände einfügte und nicht vorzog, erziehungslos auf eigene Hand durch den Ocean der akademischen Freiheit plätschern zu wollen.

Zum Abgang vom Gymnasium hatte er seinem Zögling ein Kommersbuch gestiftet. Es war ein dicker, stattlicher Band mit goldgepreßtem Deckel, der Doktor Hans Ritter lächelte ein wenig ironisch, als er dieses Prachtwerk mit dem bescheidenen Buche verglich, welches ihm vor zwanzig und etlichen Jahren die Texte zu seinen musikalischen Versündigungen geliefert hatte. Auch der Inhalt wies schon bei flüchtigem Durchblättern manche Neuerung auf. Viele gute und schöne Lieder waren hinzugekommen, vieles Gute und Schöne hatte man aus Gründen, die der Doktor Hans Ritter nicht begreifen wollte, unter den Tisch fallen lassen, und manches war dafür eingesetzt worden, was nur aus Versehen in einem Liederbuch für die erwachsene Jugend mitzulaufen schien. Eines von jenen Liedern, die der Doktor Hans Ritter nicht wiederfand, schrieb er mit seiner kleinen, ebenmäßigen Handschrift auf das weiße Schutzblatt vor dem Titel.

Karl las die Verse, und mit halblauter Stimme und begeisterungsroten Wangen wiederholte er eine Stelle, die ihm besonders Eindruck zu machen schien:

„Edler Geist des Ernstes soll
Sich in Jünglingsseelen senken,
Jede still und andachtsvoll
Ihrer heil’gen Kraft gedenken!“

„Siehst du, Onkel Hans,“ rief er, „das drückt ganz genau aus, was meine Bundesbrüder wollen! Von wem ist das Lied? Es klingt manchmal so altertümlich, und es predigt doch unsere Ideale!“

„Habe ich den Namen des Dichters nicht darunter gesetzt?“ erwiderte der Doktor Hans Ritter. „Wahrhaftig, ich hab’s vergessen! Ich dachte, du kenntest das Lied. Es ist von dem deutschesten der deutschen Dichter, wie man ihn wohl nennen mag, von Ludwig Uhland. Er schrieb diesen ‚Gesang der Jünglinge‘, als er so alt war wie du jetzt bist und wie du im Begriff stand, die Freuden des Burschenlebens zu genießen; im Jahre, in dem Schiller starb, und ein Jahr vor der Schlacht bei Jena. Wir mögen daraus merken, daß diese Ideale, für die ihr eintreten wollt, nicht ganz so neu sind, und das ist das Beste daran. In trüber Zeit gingen sie leuchtend auf und führten die deutsche studierende Jugend aus einer bösen Versumpfung heraus. Wenn ich gewisse Erscheinungen unserer Zeit in Betracht ziehe, so fehlt es jetzt, unter der neuen Herrlichkeit deutscher Einheit und Macht, auch nicht an Irrsternen und Irrlichtern, welche die Jugend wieder in den Sumpf locken möchten. Es ist auch weiter kein Wunder, denn es ist mit den Völkern wie mit den Menschen, sie können nichts schwerer ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Ihr wollt euch ans Ideale halten, das ist fein und löblich, vielleicht ließe sich’s noch kürzer sagen: ihr wollt freudig bleiben! Denn das Heilige, welches alles Gute im menschlichen Leben zur Reife bringt, und welches auch dies Lied preist, das ist die Freude; die Freude an der Natur, an Wissen und Kunst, an den Geschlechtern, die vor einem Gutes geschaffen haben, an seinem Volke, und besonders die Freude an sich selber, an allem, was einem der Herrgott gegeben hat und was man fortbilden soll, um andern Freude zu machen; die Freude, die man schlürft wie die tägliche Lebensluft und nicht schlingt, die Freude, die uns vom Tier unterscheidet! Wer sich rein zu freuen strebt, der kommt über die Versuchung weg, gemein zu genießen.“

Der Hauptmann von Seedorf war während dieser Worte unbemerkt eingetreten und hatte still zugehört. Als Karl mit seinem Buche weggegangen war, schüttelte er Hans Ritter die Hand und sagte:

„Doktor, Sie hätten Prediger am Kadettenhaus werden sollen, aber recht haben Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie’s meinem Jungen gesagt haben, und ich wollte, mir hätt’ ’s einer in dem Alter auch so gesagt. – – Beiläufig, wissen Sie auch das Neueste von Ihrem weiland Freunde, dem fürstlichen Geheimrat Johannes Mohr, und seiner besseren Hälfte? Da müssen ja nette Dinge vorgekommen sein! Erst fällt diese Frau Beate aus Eifersucht – noch dazu aus grundloser Eifersucht – über eine ihrer jungen Lehrerinnen her, dann wird sie auf Antrag dieser Lehrerin, die anscheinend etwas sehr viel weniger Geduld besitzt als unsere liebe selige Freundin, wegen wörtlicher und thätlicher Beleidigungen zu so und so viel Strafe und Entschädigung verurteilt; und dann geht die Lehrerin auch noch hin und schreibt eine Broschüre: „Eine Musterschule für Equipagenkinder“ oder so ähnlich. Was sagen Sie dazu? Ich wollte es Ihnen schon gestern erzählen, mir hat’s unterwegs ein alter Bekannter berichtet, der die Geschichte genau kennt, denn er hatte die ehrenvolle Aufgabe, die Klägerin als Rechtsanwalt zu vertreten.“

„Ich habe davon gehört,“ sagte Hans Ritter. „Es sind arme Leute.“

„Na, wissen Sie,“ meinte der Hauptmann, „so weit bin ich nun doch noch nicht, diese Sorte noch zu bedauern. Sie haben ihre Anstalt um ein Heidengeld verkauft und fühlen sich möglicherweise sehr wohl!“ –

Diesmal weinte Grete doch sehr, als Karl mit seinem Vater abreiste; sie hatte sich an ihn gewöhnt. Dann aber nahm sie sich vor, den Paten nun, wo er „nur sie“ hatte, erst recht lieb zu haben und dieser Vorsatz gewann an Stärke, als sie erfuhr, daß auch dies Zusammensein bald auf eine „schrecklich lange Zeit“ unterbrochen werden solle.

Zum erstenmal hatte Fräulein Martha Weber durch ihren Zuspruch einen lange widerwillig erwogenen Entschluß Hans Ritters entschieden, wobei sie mit großer Umsicht seine eigenen Ratschläge über Karls Studiengang als Waffe gegen den Unschlüssigen gebrauchte.

„Da haben Sie sehr weise gehandelt, lieber Freund“, sagte sie in ihrer bestimmten, munteren Weise. „So ein langes Edelhähnchen muß zur rechten Zeit aus dem Nest, fort von den Alten und unter seinesgleichen, damit es sich in der Welt aus eigenen Augen umsieht und fliegen lernt. Aber nun müssen Sie auch ebenso an Ihre Grete denken. Lieber Gott, wir kennen Sie und wissen, wie gut es das herzige Kind bei Ihnen hat! Aber sie wird jetzt im Herbst vierzehn Jahre, und in dem Alter kann ihr kein Schulunterricht einen Ersatz mit nach Hause geben für das, was nun einmal ihr wie so manchem Mädchen zu Hause fehlt; ich meine, häusliche Gesellschaft ihresgleichen und Obhut einer gebildeten Weiblichkeit. Es hilft Ihnen nichts, Sie müssen sie jetzt ein paar Jahre ganz von sich thun, an einen Ort, wo sie das findet.“

„Könnte sie denn nicht vielleicht bei Ihnen … ich meine, wenn Sie sie eine Zeit lang ganz zu sich nähmen –?“ stotterte der unglückliche Pate, aber die entschlossene Dame schnitt ihm mit einem Lachen die Rede ab:

„Lieber Freund, das meinen Sie doch unmöglich im Ernst! Es wäre ja gerade, als wenn Sie Ihren Zögling hier auf die Universität geschickt und ihm nur eine Wohnung außerhalb Ihres Hauses gesucht hätten! Nein – Sie wissen, wie gern wir das Kind haben und immer bei uns haben möchten, aber das geht nicht! Recht weit weg müssen Sie sie thun und wenn es nach meinem Willen ginge, so würde sie auch während der Ferien fürs erste dort bleiben oder zu Besuch bei Freundinnen, wo sie denn auf die einfachste Weise lernt, sich auch ohne das gewohnte Gängelband unter Fremden zu bewegen. Was meinst du dazu, Mutter?“

Die Frau Professor saß in ihrem Lehnstuhl und arbeitete an einem Erstlingsjäckchen. Es war ein geheiligter Brauch für sie, jeder ehemaligen Schülerin zum ersten Sprößling eine selbstgehäkelte und gestrickte „Garnitur“ zu stiften, und diesmal war es, wie sie mit vielem Stolz ausrechnete, gerade Nummer Hundert und eins. Die Sache schien Eile zu haben denn die Frau Professor sah nur einen Augenblick freundlich lächelnd auf und nickte dem Doktor ermutigend zu.

„Ich finde, meine Tochter hat recht,“ sagte sie weiterarbeitend; „Sie wissen, lieber Herr Doktor, ich bin keine strenge Verfechterin des Pensionatswesens und habe selber oft genug Eltern abgeraten, aber diesmal muß ich zuraten. Sie müssen auch nicht denken, daß es draußen in der Welt nur Anstalten von der Art giebt wie die, worin der ehemalige Kollege von meiner Tochter, der Herr Doktor Mohr, damals hineinheiratete; Sie sind etwas parteiisch, wenn Sie uns immer als einzigartige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_130.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)