Seite:Die Gartenlaube (1895) 883.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

entsetzlichen Zustand befallen. Mehrmals am Tage ward ihr schwindlig, sie war außerstande, zu essen. Sie fuhr nachts aus ängstlichen Träumen auf und litt an schwerem Herzklopfen.

„Du hast Lampenfieber,“ sagte Hortense ihr auf den Kopf zu.

Magda leugnete es. Sie glaubte so fest an den wahren, dauernden Erfolg; der sichere Lokalerfolg nahm ja ohnedies dem Abend die Gefahr einer direkten Niederlage. Sie erwog auch zuweilen mit kaltem Blut die Möglichkeit, daß das Werk verfehlt sein könne. Nichts von Renés Bedeutung, nichts von der Größe seiner Begabung würde es abstreichen, wäre wirklich dieses erste Werk ein Fehlgriff gewesen. Das sagte sich Magda mit Stolz.

Ja, zuweilen verlor auch der Gedanke an die Möglichkeit einer Niederlage für sie seine Schrecken. Auch aus einem Unglück des geliebten Mannes saugt ein rechtes Weib noch das Glück, ihn trösten, ihm erhöhte Liebe zeigen zu dürfen.

Aber nach solchen Augenblicken entsetzte sie sich fast über ihren Liebesegoismus und ward von glühenden Wünschen erfüllt für seinen Sieg und seinen Ruhm.

Am Morgen des Aufführungstages steigerte sich ihr Zustand bis zur Unerträglichkeit. Ob wohl auch René unter der Erwartung ähnlich litt? Sie hätte ihm gern einige zärtliche Grüße gesandt, aber bescheiden unterdrückte sie das Verlangen: er sollte sehen, daß sie verstand, ganz zurückzutreten, wenn er im heißen Kampf seines Berufslebens stand.

Ganz grundloserweise ward ihr besser, als sie begann, sich festlich anzukleiden. Sie wählte dasselbe hellblaue Gewand, das sie auf der verunglückten Zenobiasoirée getragen hatte. Sie wählte es ungern, denn eine peinvolle Erinnerung knüpfte sich daran. Aber Magda gehörte nicht zu den Damen, die zwischen vielen Festkleidern herauszusondern haben, was ihnen just gefällt – es war eben noch ihr einziges Staatskleid. Tapfer kämpfte sie die Erinnerung nieder.

Und von Hortense kam eine köstliche Sendung: Maiblumen in Hülle und Fülle, für Handstrauß und Taillenschmuck.

Als Magda sich, eine halbe Stunde vor Beginn des Theaters, so prächtig angethan im Spiegel sah, ward ihr so fröhlich und sorglos wie bei Frühlingswetter. „Festkleider und Sonnenschein haben eine verwandte Wirkung auf ein ängstliches Gemüt,“ dachte sie.

Ehe sie hinabging, suchte sie ihren Vater auf. Er konnte ihr nichts sagen und ihr keinen Segen mitgeben. Aber sie streichelte sein weißes Haar und küßte seine Stirn und legte einige von den frischen Blütenstengeln in seine Hand. Ihr wurden die Augen feucht dabei.

Unten erwarteten sie Herr und Frau von Rechenbach im Wagen, die sich für diesen Abend das Vorrecht ausgebeten hatten, sie zu beschützen. Magda sollte auch in der kleinen Intendantenloge mitsitzen; dieselbe befand sich unmittelbar neben der Bühne und durch eine kleine Thür konnte man direkt in die erste Coulisse gelangen.

Im Wagen wußte Herr von Rechenbach von dem glänzenden Ausfall der Generalprobe zu erzählen und von dem interessanten Publikum, welches heute das ausverkaufte Haus füllen werde. Aus Berlin, Dresden und München und anderen Theaterstädten seien Intendanten oder Bevollmächtigte derselben anwesend. Seine Hoheit habe versprochen, heute abend noch das Fest zu beehren und René Flemming persönlich eine Auszeichnung zu verleihen.

Magda hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie sah während der kurzen Fahrt zum Fenster hinaus. Jede Dame, die im Pelzmantel und Kopftuch in der Richtung zum Opernhaus ging, jeden Herrn, der ein Opernglas trug, sah sie mit einer gewissen persönlichen Anteilnahme an – diese alle, die da durch den schneehellen Winterabend ins Theater gingen, sollten über sein Werk zu Gericht sitzen.

Im Theater ward Magda wieder schwindlig. Das Gefühl, welch eine furchtbare Sache die Oeffentlichkeit ist, überkam sie in jäher Erkenntnis. Alles, was in stillen, heiligen Schaffensstunden entstanden war, alles, was aus den keuschesten tiefsten Gründen der Seele schmerzhaft selig sich emporgerungen – hier sollte es nackt und bloß preisgegeben werden, an tausend Menschen, mit tausend verschiedenen Sinnen und Gedanken. Die Neugier, das Uebelwollen, das Unverständnis, die Gleichgültigkeit sollte das Werk mit einem gewaltigen Griff erfassen und niederzwingen. Dieser ganzen unruhigen, flüsternden und lachenden Menge sollte er gegenüber treten mit seinem Werk – ihr die Stirn bieten – gleichsam seine Brust aufreißen und hinausschreien: seht, das kann ich! Das fühle ich! Das denke ich! Das ist meine ganze Seele, die ich Euch heute zeige!

Magda faltete die Hände krampfhaft um ihren zusammen gelegten Fächer. Sie wollte nicht zittern, nicht zucken.

Wie mußte erst ihm ums Herz sein! O, gewiß köstlich kampfesfreudig, königlich mutig! Gefaßt, auch einen Mißerfolg hinzunehmen als nichts Schlimmeres denn eine Lehre!

Ja, er war der Mann, sich und seine Kunst beim Publikum durchzusetzen, müßte er auch mit ihm ringen und wieder ringen.

Und noch einmal begriff Magda es: Schritte, die auf solchen Wegen kraftvoll vorwärts wandern, können nicht darauf achten, ob sie einen zarten Keim zertreten.

Jetzt trat René in den Orchesterraum. Er sah sehr bleich aus und grüßte nicht zu der Intendantenloge hin. Aber sein Schritt war fest und seine Hand, die den Taktstock ergriff, zitterte nicht. Er wandte sich noch zu dem Konzertmeister und sprach einige Worte. – Dann nickte er nach rechts und links seiner Truppe, wie er immer vor dem entscheidenden Zeichen that, auffordernd zu.

Und diese Sekunde, wo René mit erhobenem Taktstock stand, wo die Augen aller Orchestermitglieder, wo die Augen des ganzen Hauses an ihm hingen, diese Sekunde dünkte Magda eine Ewigkeit.

Dann zuckte der Dirigentenstab und ein voller C moll-Accord setzte ein.

Magda brach in Thränen aus.

Frau von Rechenbach drückte ihr teilnehmend die Hand.

Langsam faßte Magda sich und Ruhe kam in ihr Herz, als sie hörte, daß alles mit glänzender Sicherheit und Hingabe wiedergegeben wurde. Sie hatte sich eingebildet, es würde irgend etwas Besonderes geschehen – irgend ein im Theaterleben noch nie dagewesener, schrecklicher Zufall. Während des Vorspiels trat das herzogliche Paar in die Hofloge, was eine erhebliche Ablenkung der Aufmerksamkeit verursachte, denn die Herzogin erschien so selten im Theater, daß sie dann stets von neugierigen Blicken gesucht ward.

Die leise, kurze Unruhe, die durchs Haus ging, gab Magda vollends ihre Sammlung.

Der Vorhang ging auf. Magda sah das ganze ihr wohlbekannte Drama an sich vorüberziehen und hörte den rasenden Applaus und sah, wie René sich nach den ersten zwei Aktschlüssen verbeugte. Und sie selbst lachte und sprach aufgeregt mit ihren Freunden und hatte ein heißes, rotes Gesicht. Dabei aber war es ihr, als müßte sie immer fragen: ist das Werk wirklich von René Flemming? Sie konnte es gar nicht fassen, daß da ein Zusammenhang war, daß derselbe Mann, den sie liebte, in ihren Armen gehalten hatte, den sie heiraten wollte, ein und dieselbe Persönlichkeit mit dem Schöpfer dieses Werks sein sollte. Es war, als wenn dies außer ihr und außer ihm bestehe, als ob das noch eine andere Existenz sei, eine ganz für sich.

Die tiefen, gewaltigen, sich immer steigernden Schönheiten der Musik hörte sie hingerissen an und sie sah wohl, daß René dirigierte – aber sie sah ihn dirigieren wie bei einem anderen Werk von einem anderen Meister.

Und indem sie dieses Wunder anstaunte, daß es einen doppelten René Flemming gäbe, begriff sie zugleich das Phänomen seiner geistigen Unabhängigkeit.

Er kam nicht zu ihr in den Zwischenakten. Es seien da immer noch allerlei Kleinigkeiten mit den Sängern zu besprechen, sagte der Intendant und René sei nicht abkömmlich. Magda hatte auch gar nicht daran gedacht, daß er zu ihr hereinkommen solle.

Aber als er zum dritten Akt den Orchesterraum betrat, nickte er ihr zu, strahlend und stolz.

Der dritte Akt hatte ein Vorspiel in kirchlicher, tiefernster Stimmung. Als der Vorhang aufging, sah man die Hallen der Kirche der heiligen Margarethe und den malenden Mönch am Bilde der Heiligen arbeiten, das die Züge der Lucrezia Buti trug. Dann kam der Nonnenchor, der von einer erhabenen Einfachheit und Eindringlichkeit war. Die Erkennungsscene folgte. Lucrezia raunte dem Geliebten zu, sie zu erwarten. Und dann kam, nachdem der wiederaufgenommene Nonnenchor allmählich verhallte, eine furchtbare Scene, wo der lebensdurstige, liebesrasende und schaffensmutige Filippo Lippi mit heißer Gier sich an das reiche Dasein klammert, während er das tötende Gift in seinen Adern fühlt, das Piero di Cosimo ihm beigebracht.

Das Publikum saß wie unter einem Bann. Bärwald sang und spielte grandios. Und dann kam Lucrezia Buti herein, bereit zur seligen Flucht mit dem Heißgeliebten. Die Kaspari fand für die Raserei des jäh sie befallenden Schmerzes erschütternde Töne. Und als die Wucht des Unglücks sie an der Leiche des Geliebten fast erdrückt zu haben schien, erhob sie sich, einer gigantischen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 883. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_883.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)