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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

übermorgen!“ hatte er mit einem so ruchlos unschuldigen Gesicht gesagt und dabei doch verstohlen und pfiffig nach seiner alten Gönnerin hinüber geschielt.

Die Frau Verwalterin – was jeder begreifen wird, der sich in ihre Seele denken kann – hatte einen Augenblick starr dagesessen.

„Ja, warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?“ brachte sie endlich mühsam hervor.

„Sie haben mich ja gar nicht gefragt!“ erwiderte der Schändliche und lachte nun so herzhaft los über den gelungenen. Spaß, an dem – zur Schande der männlichen Jugend sei es gesagt – die halbe Stadt beteiligt war, daß die Frau Verwalterin nicht anders konnte, als zunächst mitlachen – das that sie überhaupt, ihren siebenundsechzig Jahren zum Trotz, noch gar zu gern.

Als aber der Doktor dann weg war und sie in ihrem Gärtchen stand, wo wir sie vorhin beobachtet haben, da schüttelte sie doch, wie schon berichtet, mehrfach den Kopf, daß ihr so etwas hatte passieren können.

War es aber die Absicht des heimtückischen Doktors gewesen, die gute alte Frau durch seine Schlechtigkeit von ihrer Leidenschaft fürs Ehestiften zu heilen, so war die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Der Frau Verwalterin war ungefähr so zu Sinn wie einem Feldherrn nach einer verlorenen Schlacht – sie spähte blutdürstig nach einer neuen Gelegenheit umher, wo sie’s besser machen und den Leuten beweisen würde, daß sie es denn doch verstehe, jemand unter die Haube – oder unter den Pantoffel zu bringen.

Und der Zufall schien es wirklich diesmal für seine ernsteste Pflicht zu halten, das Talent der guten alten Dame nicht einrosten zu lassen! Er hatte, wie das so seine Art ist, in zwei ganz verschiedenen Orten der Welt sachte an den Fädchen gezupft, an denen er die Menschen tanzen läßt, und, seine Marionetten bewegten sich eben ganz vergnüglich auf den Ort zu, wo sie ihre Rolle weiter spielen sollten.


Wir wollen die Frau Verwalterin aber nun einmal für eine kurze Zeit in ihrem hübschen Garten allein lassen, was sie uns um so weniger übelnehmen kann, als sie sich da immer sehr gut mit ihren Blumen unterhält, und wollen einen kleinen Sprung rückwärts thun – nur um ein paar Tage zurück und um ein paar Meilen weiter, in den Wartesaal einer kleinen Bahnstation hinein, auf dem sich ein paar Hauptlinien der Eisenbahn kreuzen und treffen.

In diesem Wartesaal saß bei einem Glase Bier ein junger Mann, der vor wenig Minuten mit dem Zuge von Hamburg her angekommen war. Auf den ersten Blick hätte man ihn, trotzdem er einfache, aber feine bürgerliche Kleidung trug, für einen Seemann halten können. Das tief gebräunte offene Gesicht mit der weißen Stirn und den weißen Zähnen, die stramme Haltung und ein gewisser, sorglos lustiger Ausdruck stimmten ganz gut zu dem Bilde eines Steuermanns, wie es sich die Einbildungskraft auszumalen pflegt.

Er saß im den Stuhl zurückgelehnt und pfiff leise vor sich hin – ein altes deutsches Lied, das sich ihm, er wußte selbst nicht wie, angesichts der lange entbehrten deutschen Heimat auf die Lippen gedrängt hatte.

Dabei sah er mit dem gleichgültig achtlosen Blick des Fremden, der kein bekanntes Gesicht hier erwarten oder vermuten kann, über die Reisenden hin, die mit den ankommenden Zügen ab und zu strömten – eben war der große Berliner Kurierzug angelangt, und eine Anzahl Leute aus aller Herren Ländern schien hier ihr Mittagsmahl einnehmen zu wollen.

Unter diesen schob sich – oder besser wurde geschoben – eine schlanke Mädchengestalt ins Zimmer, deren stilles Gesicht mit den klar blickenden grauen Augen man sich gut unter einer Diakonissenhaube hätte denken können.

Als sie jetzt den Strohhut abnahm, sah man, daß dem Gesichtchen ohne jede Frage ein großer Liebreiz zu eigen war – weniger in den Zügen als in Schnitt und Glanz der Augen, in der zart gefärbten Haut und dem kleinen ernsthaften Munde; man hatte ihr gegenüber nur zunächst die Empfindung, als wenn sie immer im Schatten gestanden hätte, und als wenn ein paar Sonnentage genügen würden, um ihr Leben und Farbe und damit große Anziehungskraft zu geben.

Sie selbst schien sich dessen in keiner Weise bewußt; es lag etwas Abgeschlossenes in der ganzen Erscheinung, das ihrer Jugend – sie mochte die Mitte der Zwanzig noch nicht überschritten haben – seltsam zu Gesicht stand. Sie war einfach, sehr einfach gekleidet und trug ein schmales Lederkofferchen in der Hand, das auch nicht zu viel Schätze zu bergen schien.

Mit einem leisen Seufzer der Ermüdung stellte sie ihre Last zu Boden und nahm an einem Tischchen Platz, gerade dem sonnenverbrannten Fremden gegenüber, bei dessen Anblick erst ein nachsinnend überraschter Ausdruck – dann ein plötzliches Erschrecken und lebhaft tiefes Erröten über das sanfte Gesicht flog. Der, welcher diese Empfindungen hervorzurufen schien, ahnte augenscheinlich gar nichts davon, er schenkte der bescheidenen Mädchengestalt nach einem flüchtig streifenden Blick keine Gedanken weiter, sondern vertiefte sich in seine Zeitung.

Das kleine Fräulein kämpfte ersichtlich mit einer großen Schüchternheit und einem noch größeren Entschlusse. Sie stand auf, setzte sich zaghaft wieder hin, errötete ein übers andere Mal vor unentschlossener Befangenheit, dann plötzlich faßte sie sich ein Herz, trat an den Tisch, wo der Fremde saß, und sagte mit etwas zitternder, leiser Stimme: „Karl Thiessen – kennen Sie mich denn wirklich gar nicht mehr?“

Der so Angerufene fuhr in die Höhe; er legte das Zeitungsblatt zusammen und stand artig auf.

„Liebes Fräulein,“ sagte er dann mit einiger Verlegenheit, „es thut mir schrecklich leid – aber wenn Sie mich fragen, ob ich Sie kenne, bleibt mir nichts anderes übrig, als ehrlich und offen zu erwidern: ,nein!‘ Ich schäme mich sehr, denn Sie haben mich bei meinem richtigen Namen angeredet, aber – ich kann mir beim besten Willen nicht helfen! Seien Sie mir nicht böse!“

Und er sah ihr mit einer unwiderstehlich schelmischen Offenheit ins Gesicht.

Sie blickte betrübt vor sich nieder.

„Also wirklich nicht!“ sagte sie dann leise und tief beschämt, „also wirklich gar nicht mehr! Und wir sind doch Nachbarskinder gewesen! … Anna Braun,“ fügte sie mit sinkender Stimme hinzu, als er sie noch immer wie ratlos anstarrte.

Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

„Anna Braun!“ rief er so lebhaft, daß sich mehrere Köpfe im Saal überrascht nach ihnen hinwandten, „wie konnte ich denn daran nicht denken! Anna Braun!“ wiederholte er noch einmal in herzlichem Ton, als dämmerte ihm eine freundliche Erinnerung klar und klarer herauf, „nein, das ist eine schöne Geschichte, daß ich Sie nicht gleich erkannte – natürlich – Anna Braun!“ und er schüttelte ihr mit derber Freundschaftlichkeit die Hand.

„Und nun setzen Sie sich mal zu mir her,“ fuhr er gemütlich fort, „und erzählen Sie mir von alten Zeiten, Fräulein Anna! Ja, nun merke ich freilich, daß ich zehn Jahre lang nicht zu Hause war,“ setzte er lächelnd hinzu, „nun ich sehe, daß aus dem kleinen Schulmädchen, das ich damals an den langen Zöpfen zog, ein junges Fräulein geworden ist!“

„Sagen Sie ruhig: ,ein altes Fräulein!‘“ meinte sie einfach, „oder doch auf dem besten Wege dazu – damals war ich sechzehn Jahre, Herr Thiessen – das Exempel ist leicht ausgerechnet!“

Er wurde der Verlegenheit einer Erwiderung überhoben, denn der Ruf „Einsteigen!“ schreckte alle Insassen des Wartesaals aus ihrer Beschaulichkeit empor. Ein Gepäckträger, mit einem stattlichen Handkoffer beladen, erschien in der Thür und winkte dem Eigentümer des fraglichen Gepäckstückes – unserem Karl Thiessen.

„Hier nehmen Sie das auch mal!“ sagte dieser Herr und wies auf Annas Lederkofferchen, „wir fahren doch zusammen, Fräulein Anna? Ich denke, Sie sind auch auf dem Heimwege?“

„Das bin ich!“ sagte sie zögernd, „und ich führe herzlich gern mit Ihnen – aber –“ hier kämpfte sie tapfer eine aufsteigende Verlegenheit nieder, „ich fahre dritter Klasse, Herr Thiessen – und das ist nichts für Sie!“

Er stutzte einen Augenblick.

„Nun, freilich ist das ,was für mich!‘“ sagte er dann lustig. „Ich bin hier zu Lande noch nie – oder kaum anders gefahren als dritter Klasse. Natürlich fahren wir zusammen!“

Und nach wenig Minuten saßen die Jugendbekannten einander gegenüber im Coupé und fingen, in Rücksicht auf die Mitreisenden, mit halblauter Stimme die alten, für lange in der Fremde Gewesene immer so lieben Gespräche an über das, was aus dem geworden – und was jener angefangen habe – ob das alte Schulhaus noch steht, und wer jetzt den großen Garten vor dem Thore hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_854.jpg&oldid=- (Version vom 25.5.2023)