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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

sieht man, wie ein Mensch den andern kennt! Blöde und dumm staunen sie einander an – das ist alles. Nicolai und Humor! Er war ein Jenseits-Mensch, über den Humor hinaus, wie über Thränen und Lächeln.“

Der Diener stand und wartete.

„Und die arme, arme Magda! Die verliert wieder ein Stückchen Wärme aus ihrem Leben. Um Gotteswillen – ja – weshalb ist sie denn nicht gleich gekommen – wie elend und gramvoll muß sie sein!“

Der Diener erlaubte sich, ein wenig zu husten. Hortense merkte auf.

„Sie sind noch da? Gut. Lassen Sie anspannen! Ich fahre in einer halben Stunde aus.“

„Und was darf ich Herrn Werle sagen lassen?“

„Er kann das Bild haben.“

Hortense ging an ihren Schreibtisch und bestellte einen Kranz von Lorbeeren und weißen Kamelien für den armen Nicolai. Gerade schloß sie das an den Blumenhändler adressierte Couvert, als sie jemand durch den Saal laufen hörte.

Sie kam aus ihrer Ecke hinter der spanischen Wand hervor und prallte fast zurück vor der Gewalt, mit welcher Magda sich in ihre Arme warf.

„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr,“ rief Magda und brach in Schluchzen aus.

„Ist das wegen Nicolai? Hast Du so schwere Stunden mit ihm gehabt? Warum riefest Du mich nicht? Oder kamst nicht gestern?“ sagte Hortense und hielt das arme Kind zärtlich an sich.

„Zu viel – o Gott, – ich konnte nicht – ich kann nicht,“ jammerte Magda, riß sich los und sank in den nächsten Stuhl. Sie drückte ihr Gesicht in die Polster. Ihr Hut fiel ihr vom Kopfe.

Hortense hob ihn bedächtig auf und legte ihn auf das nächste Tischchen. Dann ging sie auf Magda zu und streichelte ihr sacht das Haar.

„Er duelliert sich – jetzt – er ist vielleicht schon tot!“ rief Magda und warf den Kopf herum.

Sie sah aus wie eine Unzurechnungsfähige. Hortense erschrak, aber nicht so sehr deshalb, weil sie an das Duell glaubte, als wegen des Eindrucks, den sie von Magda empfing. Dieselbe schien von Sinnen – und überhaupt – wie konnte sie dergleichen wissen?

Etwas hart, als habe sie es mit einer Hysterischen zu thun, sagte sie: „Mir scheint, Du weißt nicht, was Du sprichst, Du bist offenbar in der Stimmung, Dich in Schrecken hinein zu rasen.“

Aber der strenge Ton ernüchterte Magda nicht. Sie wußte nur zu wohl, was sie sagte. Sie suchte sich aber ein wenig zu fassen.

„Was für ein Tag gestern! Erst war Sibylle bei mir – Sibylle ist Wallwitzens Braut – sie hat in seinem Haus eine Scene zwischen ihm und Lilly erlauscht – nur halb. Aber was sie hörte, war genug. Er verschwor sich, von René Rechenschaft zu fordern. Dann riefen sie mich zu Nicolai. Und da kam er! O, hättest Du ihn gesehen – und wie er erschrak und wie er rauh zu mir ward, als ich es ihm ins Gesicht schrie: ‚Du willst Dich schlagen!‘“

„Wie konntest Du ihm das sagen?“ rief Hortense. „Er wird es geleugnet haben!“

Magda nickte.

„So schroff – so böse! Ich ward zweifelhaft. Aber hier drinnen war eine Stimme, die sagte mir, es ist doch wahr!“

Sie sah vor sich hin, mit großen leeren Blicken.

„Nicolai starb. Gott, ich beneidete ihn! Es war der Friede und die Erlösung.“

Sie weinte schmerzlich.

Hortense knieete neben ihr nieder und umarmte sie. Ihr waren jetzt auch die Augen naß.

„Armes Kind,“ sagte sie, „Du durchlebst harte Zeiten. Aber warum kamst Du nicht zu mir? Quältest Dich den ganzen langen Tag allein!“ schalt sie liebevoll.

„Ich konnte nicht. Ich wartete. Sibylle hatte mir versprochen, wiederzukommen und mir alles zu erzählen, was sich begab. Sie wollte aufpassen. So wartete ich. Abends kam Sibylle. Sie hatte Wallwitz nicht gesehen – er hatte sich bei ihr, die seit drei Tagen erst seine Braut ist, entschuldigt! Mit Dienst! Und Sibylle hatte irgend einen seiner Kameraden getroffen und angeredet. Wallwitz hatte gar keinen Dienst. Mehr wußte Sibylle auch nicht. War es nicht genug?“

„Nein,“ sagte Hortense und versuchte, einen leichten Ton anzunehmen, „es war nicht genug. Männer können Verpflichtungen haben –“ ihr fiel der Brief ein, den René ihr für Magda gesandt hatte und den sie ihr geben sollte, wenn bis diesen Mittag keine andere Bestimmung kam. Es überlief sie kalt.

„Diese Nacht war schrecklich! Der Tote unter unserem Dach – erst heute morgen haben sie ihn nach der Kapelle auf dem Friedhof gebracht – ich war um 6 Uhr aufgestanden. Er sollte nicht so würdelos fortgetragen werden. Er hatte das Feierliche und Schöne so sehr geliebt. So hab’ ich mit Frau Böhmer das Zimmer voll Lichter gestellt und wir legten Blumen in seine Hände. Wir beteten für ihn. Es sah aus, als lächle er.“

„Dies alles, mein Kind, hat Dich nervös gemacht und Deine Phantasie erhitzt. Du wirst nun bei mir bleiben, wir werden spazieren fahren und von lauter gleichgültigen Dingen reden.“

„Nein,“ rief Magda aufspringend, „es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit, Wahrheit!“

Sie klammerte sich an Hortensens Arm und sagte halblaut, das Gesicht nahe zu ihr neigend:

„Ich war wie gehetzt. Ich lauerte am Fenster und dachte, wenn sie hinausführen, müßte ich sie sehen. Denn, wenn es ist, ist es heute. Das schieben Männer nicht auf. Zuletzt sah ich gar nichts mehr – es war auch so lange noch Nacht. Dann war ich fast ohnmächtig vom Warten. Und dann fiel mir ein, daß sie ja nach allen Richtungen aus der Stadt heraus konnten und daß ich verrückt gewesen war, zu denken, sie müßten bei mir vorbei kommen. Und da …“

Sie stockte und sah Hortense durchdringend an.

„Und da?“ fragte diese, kaum ihr Zittern bemeisternd; Magda steckte sie an mit ihrer Aufregung.

„Da lief ich fort – aus dem Haus – in sein Haus! Ich klingelte. Die alte Frau, die öffnete, kennt mich ja nicht, aber warum sollte sie lügen? Ich fragte nach ihm, ich müsse ihn sprechen. Er sei schon um sieben Uhr auf die Jagd gefahren – auf die Jagd – die Jagd!“ schrie Magda, bei der Wiederholung des Wortes ihre Stimme steigernd.

Hortense war bleich geworden. Dies und der Brief – die Beweise schienen auch ihr vollgültig.

„Und um diese! Um sie, die er heut’ schon verachtet! Wie darf er, wie kann er! War er nicht zu gut dafür? Darf er sein Leben aufs Spiel setzen um ein Abenteuer? Sein Leben! Und ich, vielleicht hab’ auch ich Schuld, vielleicht gab ich ihm erst die rechte Laune dazu! O, ich hab’ ihm einen häßlichen Brief geschrieben, daß ich ihm nicht vertrauen könne, weil er keine Willenskraft habe.“

„Nun ist es genug,“ sagte Hortense mit starker Stimme. „Du weißt nicht mehr, was Du sprichst.“

Sie nahm Magda am Arm und zwang sie, sich hinzusetzen.

„Wenn er der Geforderte war, konnte er die Genugthuung nicht weigern – und wenn er, wie Du sagst, zehnmal schon die verachtet, um die er sich schlägt. Das sind Unerbittlichkeiten – eines erwächst aus dem andern. Möchtest Du, daß er Wallwitz geantwortet hätte: ich schlage mich nicht?“

„Nein,“ murmelte Wagda, „o Gott, nein – aber es geht doch über mich hinweg – über mein Herz – mein Leben.“

„Männerthaten und Männerschritte gehen immer über uns hinweg,“ sagte Hortense ruhig. „Ich will Dir zugeben, daß ich nach allem auch an ein Duell glaube – gleich werden wir der Wahrheit noch näher kommen – vergiß aber nicht, daß wir es nie ganz gewiß erfahren werden. Das sind ehrenwörtliche Sachen. Sie werden alle schweigen wie das Grab. Deshalb warne ich Dich, wenn Du René wiedersiehst, ihn zu fragen.“

„Werde ich ihn wiedersehen?“ fragte Magda bebend. „Lebt er noch? Und wenn er lebt, bin ich geliebt oder bin ich es nicht? Wo finde ich Ruhe und Gewißheit? Weiß er selbst, wen er liebt? Er, der nicht treu sein kann!“

Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht.

Hortense ging an ihren Schreibtisch. Sie hatte mit voller Ueberlegung den Entschluß gefaßt, Renés Befehlen entgegen zu handeln und Magda den Brief schon jetzt zu geben. Was auch darin stand, es mußte eine Wahrheit sein und als solche auf Magda wirken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_842.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2024)