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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (9. Fortsetzung.)

Es konnte und es sollte nicht sein, daß René davonging, ohne ein Dokument seiner Kraft zu hinterlassen. Wenn er sein Werk vollendet hatte, dann mochte gern die Kugel herangepfiffen kommen und ihm das Hirn durchbohren. Dann war es die rechte Zeit, aber so nicht, noch nicht!

Er hatte noch viel zu sagen. Und nicht stumm sollte das mit ihm hinabgehen in das Grab.

Er tauchte die Feder in die Tinte, seine Hände flogen. Die Notenblätter lagen in wirrer Unordnung vor ihm. Sein Beginnen war sinnlos – er begriff es – er lachte hart auf. Er neigte das Haupt tief, tief und barg die Stirn zwischen den Notenblättern.

Und wenn der Gott, der ihm die heiße Schaffenslust ins Herz gelegt, ihm jetzt auch eine überirdische Macht gab; die, mit hundertfacher Schnelligkeit zu schreiben und zu denken, die armen kurzen zwölf Stunden würden doch nicht ausgereicht haben, sein Werk, wie es ihm im Kopfe stand, niederzuschreiben.

„Ich will leben! Ich muß leben!“ dachte er verzweifelt.

Das „schade“, das der Freund gesprochen, klang ihm wieder.

Ja – schade! Vielleicht sehr schade. Ihm war ein größeres Pfund gegeben worden als anderen und er hatte recht damit gewuchert. In dieser bitteren Stunde durfte er es sich stolz eingestehen.

Freilich war er daneben auch ein Mensch gewesen, der den Lockungen der Freude nicht widerstanden. Das Leben lachte ihn an – so lachte er das Leben wieder an. Er nahm es sonnig und wonnig, wie es sich ihm bot. Ernst und grämliche Bedenklichkeiten kannte er nicht. Gott hatte ihm die besonders geschärften Sinne gegeben, das Schöne zu erfassen. Und alles, was er genoß, erlebte, wandelte sich ihm später zu neuem Schönen – es war, als setze es sich in seinem Innern um, als forme Lebensfreude sich zur Kunst.

Wie unaussprechlich viel hätte er noch schaffen mögen!

Man würde ihn beweinen und sagen, daß die deutsche Kunst einen harten Verlust gehabt habe und daß der erst achtundzwanzigjährige Mann seinem Vaterland noch manche große Gabe geschenkt haben würde.

Achtundzwanzig Jahre? René konnte es selbst kaum begreifen. Sein Leben kam ihm viel länger vor. Es umfaßte schon eine Unsumme von Arbeit und Ereignissen.

Aber all’ diese Ereignisse waren tolles Gähren gewesen, all’ diese Arbeit nur Vorbereitung auf sein Werk.

Und er sollte es verlassen? Unmöglich, undenkbar!

Eine verzehrende Lebensgier brannte in seinen Adern. Die Zukunft kam als rosige Gestalt, Lorbeeren in den Händen und ein glückstrahlendes Lächeln auf den Lippen. Sie schien ihm so nahe und so greifbar – sie war sein, mit allem Glanz eines auserlesenen Künstlerlebens. Nur klaffte zwischen ihr und ihm ein kleiner, kurzer Abgrund auf – die frostige Frühstunde des kommenden Tages! Und in diesen Abgrund konnte er versinken – – –

Ihm schauderte. Er sah wieder den sterbenden Nicolai vor sich.

Ein Schuß in die Lunge und morgen um diese Zeit vielleicht lag er, in derselben Atemnot wie Nicolai mit dem Tode ringend.

Alle höchsten Güter, die der Mann sich wünschen kann, waren sein gewesen, oder er wußte, daß er sie noch erringen werde: ein Beruf, der ihn ganz mit höchster Befriedigung sättigte, das Genie, Neues zu schaffen, der Reichtum, seines Volkes ideale Güter vermehren zu können, und eine edle, reine, grenzenlose Frauenliebe.

Seine Augen feuchteten sich von Thränen mehr des Zornes als der Schwäche. Dies alles sollte er verlassen!

Er rang mit dem Schicksal in ohnmächtiger Wut.

„Ich will leben!“ murmelte er vor sich hin und schrak vor dem Ton seiner Stimme zusammen.

Plötzlich fiel er in ein Nachsinnen. Seine Blicke bohrten sich ins Wesenlose. Sein Atem ging keuchend, seine Hände wurden feucht.

Eine Offenbarung war über ihn gekommen. So, gerade so wie ihm, so elend, so ohnmächtig, so lebensdurstig, so vom Bewußtsein seiner Künstlerkraft durchglüht, so mußte seinem Filippo Lippi, dem sterbenden Mönch, zu Mut sein.

René sprang auf. Diese Erkenntnis sprengte fast sein Herz. Er lief wie ein Rasender im Zimmer hin und her. Ihm schien es, als verwirrten sich seine Gedanken.

„Erleb’ ich das? Träum’ ich das? Sind das schaffende Gedanken? Soll ich morgen sterben? Ist es die Todesnot meines Helden?“

Die Stunde verrann. René wanderte rastlos hin und wieder. Sein Gesicht war bleich, seine Augen funkelten. Aber er trug die Stirn hoch, wie gestern abend, da er, die Brust von stolzer Arbeitsfreude geschwellt, aus dem Walddorf heimkam.

Das, was ihm so drohend nahte, hatte alle Schrecken verloren, er betrachtete sich, seine Lage und seine Empfindungen, wie etwas, das er studierte, um es nachzuschaffen. Und daneben schwellte ein Gefühl wie von freudiger Zuversicht seine Brust. Er glaubte wieder an seinen Stern und daran, daß er leben werde.

Wie ein Adler schwang sich seine Seele zu stolzer Höhe empor, aber auch das Geschoß war schon bereit, welches ihm noch einmal die Flügel zerschmettern sollte.

Der Tag stand nicht still, weil eben in seinem Leben der Stillstand einer großen Erwartungspause war. Und der Tag hatte seine gewohnten kleinlichen Geschäfte abzuwickeln.

Die alte Frau kam herein, sie wußte nichts davon, daß ihrem Herrn anders zu Mute war als an anderen Abenden. Sie brachte einen Brief und hatte allerlei Fragen. Der Brief kam von Herrn von Rechenbach und bewilligte den erbetenen Urlaub. Und draußen sei der Theaterdiener und wolle etwas holen für Herrn Viebig. Auch wollte sie wissen, ob der Herr denn gar nicht zu Abend essen würde, es sei schon neun Uhr.

René gab für den Theaterdiener die Partitur der Gluckschen „Iphigenie“ mit und sagte, daß er nichts essen wolle.

Die Alte sah ihn aufmerksam an und ging seufzend hinaus. Ihr Herr gefiel ihr nicht heute, er hatte sie den ganzen Tag weder gescholten noch geneckt.

René überflog Rechenbachs Brief. Richtig, er bekam Zeit, soviel, solange er sie brauchte. Wie überflüssig ihm diese Erlaubnis schien. Er warf den Brief achtlos auf ein Tischchen.

Dabei sah er, daß dort ein anderer lag. Es war der nicht abgeschickte Brief an Magda.

Magda!

Seine Seele erstarrte vor Schreck. Alles Blut wich aus seinem Gehirn, er fühlte einen Schwindel. Er fiel herab aus dem stolzen Himmel, in dem seine Phantasie sich bewegte, und die schreckliche, nahe Wirklichkeit trat wieder zu ihm.

Er legte erschaudernd beide Hände vor sein Gesicht.

„Mein Tod ist der ihrige,“ sagte er vor sich hin. Er stand unbeweglich, der Schreck dieses Gedankens lähmte ihn völlig.

Wie es geschah, daß er jetzt erst an Magda dachte – er wußte es nicht. Aber er wußte, daß er von diesem Augenblick an nichts denken könne als an sie, an sie und sein Werk.

Er sah sie vor sich, er wußte, wie sie aussah, wenn Leid sie traf. Er hatte es gesehen – damals, als er ihr so weh gethan. Sie bäumte sich nicht auf, sie erlag und verging.

Viele Frauen hatten ihm schon gesagt, „ich liebe Dich!“, viele ihm mit drohenden und großen Worten versichert, den Verlust seiner Liebe nicht überleben zu können. Er hatte dazu ungläubig in sich hinein gelächelt. Er war kein eitler Mann und er wußte, daß Frauen sich trösten. Und er hatte gesehen und erlebt, daß sie sich trösten.

Magda aber, die Eine, Wahrhaftige, hatte ihm noch keine großen Worte gesagt und sie würde vielleicht tapfer versuchen, weiter zu leben ohne ihn. Aber sie würde es nicht können.

Er fühlte tief und mit einer Gewißheit, die jeden Trost und jeden Zweifel ausschloß, daß Magdas Leben auf das seinige gepflanzt war, daß ihre Liebe von jener Art war, die zum Tode führen muß, wenn sie nicht zum Glücke führen kann.

Durch seine Finger, die seine Augen bedeckten, drangen nasse Tropfen.

Er weinte!

Es war das erste Mal seit dem Tode seiner Mutter.

Dann wurde es still in seiner Seele, eine heilige und ernste Ruhe kam über ihn.

Er nahm den Brief und öffnete ihn wieder. Sechs Seiten von seinen Bogen waren beschrieben. Mochte stehen bleiben, was da einmal stand, es war in glücklicher Stimmung hingesetzt, und wenn Magda es las, so wehte sie vielleicht ein Atem seines Wesens an.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_822.jpg&oldid=- (Version vom 22.7.2023)