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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Ich begreife, daß es besonders schwer ist, weil er Ihr Freund war,“ meinte Bohrmann gedrückt.

„O nein,“ rief René lebhaft. „Er war gar nicht mein Freund. Wir haben zusammen getrunken und gelacht und uns intime Geschichten erzählt, uns nie gestritten und gern einander gewürdigt: ich seine ernste anständige Art, er meinen Frohsinn und mein Talent. Das nennt man dann Freundschaft. Im Grunde ist es nichts als Bethätigung gleichen Geschmacks bei der Vertrödlung von Mußestunden. Er oder ein anderer! – Bohrmann, es ist der Grund, der mir die Sache schwer macht! Um ein Nichts! Um einer Laune willen, der ich mich mit erregten Sinnen zum Werkzeug lieh. Um eines Kusses willen, für den ich tausend Entschuldignungen habe!“ Er schwieg, um nicht mehr zu sagen, um nicht zu rufen: ich, gerade ich, der seinen Nacken vor niemand beugt, muß die tiefe Demütigung erfahren, daß ein eitles Mädchen mich zum Spielzeug macht, erst seiner Liebe, dann seines Hasses.

Und beide Male ging das Spiel um sein Leben.

Bohrmann war im allgemeinen nicht gewohnt, sehr viel über die außergewöhnlichen Verknüpfungen des Lebens nachzudenken. Dieser Fall aber traf bei ihm Saiten, die auch schon angeklungen waren in seinem erfolgreichen jungen Lieutenantsleben.

„Sehen Sie ’mal, Flemming, das sind Sachen, über die ich mir auch schon das Gehirn zerdacht habe. Wenn man immer alles den guten Leuten erklären könnte, würden sie es klein kriegen, daß wir nicht immer so schuldig sind, wie die Geschichte sich ansieht. Meistens kommt es doch darauf hinaus: halb zog sie ihn, halb sank er hin. Und wenn das alles immer tragisch ausgehen sollte, wo bliebe da das Pläsir – dann dürfte man ja nicht ’mal mehr ’nem netten Mädel ein bißchen deutlich die Cour schneiden. Aber das Verfluchte ist eben, daß man nichts erklären darf und noch ritterlich den reuigen Sünder zu spielen hat.“

„Den reuigen Sünder?“ wiederholte René und sah, in Nachdenken verloren, starr auf den Lampenschirm. Er dachte erstaunt darüber nach, daß er eine Reueempfindung nicht gehabt habe und sich auch gar nicht vorstellen konnte.

„Man muß nie zurück sehen, immer nur vorwärts,“ sagte er, „was war, war nötig. Es reift irgend etwas in uns. Alles bringt vorwärts, die Thorheiten wie die nützlichen Thaten. Alles ist Entwicklung!“

„Das will ich mir merken, das kann man ’mal anwenden,“ sprach Bohrmann bewundernd.

Sie schwiegen ein Weilchen. Bohrmann dachte daran, daß er René jetzt zart ermahnen müsse, für alle Fälle seine Sachen zu ordnen. Es war nicht angenehm, einem netten Menschen sagen zu müssen: bereite Dich immerhin auf Deinen Tod vor.

„Wir werden Plüskows Pistolen haben,“ sagte er als Einleitung.

René schwieg.

„Sie sind ja ein famoser Schütze,“ fuhr er fort, „ich erinnere mich – vorigen Sommer – an unserm Pistolenscheibenstand – wir waren damals beinahe ein bißchen eifersüchtig.“

René schwieg.

„Mag der Teufel wissen, wo er seine Gedanken hat,“ dachte Bohrmann.

„Sie werden jetzt zu thun haben – noch Papiere zu ordnen – ich verlasse Sie – ich komme noch ’mal wieder und helfe Ihnen über den Abend weg.“

René fuhr auf.

„Nein, lieber Bohrmann. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Aber lassen Sie mich allein,“ sagte er.

„Nun, also hol’ ich Sie morgen früh ab. Der Wagen ist bald nach sieben vor der Thür. Man fährt gut und gern eine Stunde bis zur Moorwiese. Magius fährt mit uns. Friedrichs und Plüskow fahren für sich und Wallwitz und Keller. Aber wenn ich doch lieber heut’ abend wiederkommen soll? … Sie sind sehr nervös.“

„Nein, ich bitte Sie,“ sprach René mit dem Ausdruck hoher Qual.

„Ich verstehe – Sie haben sicher viel zu ordnen. Aber trachten Sie, Aufregung zu vermeiden. Schlafen Sie gut. Es wird ja alles unblutig verlaufen. Es wäre schade – zu schade – –“

Bohrmann fühlte eine eigene Ergriffenheit. Er schüttelte René fest und lange die Hand. Er hatte ihn geradezu lieb in diesem Augenblick.

Nun war René wieder allein. Alles war wie vorher: das stille Behagen im Zimmer und der von warmen Farbentönen gesättigte Lampenschein, die Papiere auf dem Schreibtisch und der blanke Wiederglanz des Lichts auf der schwarzen Flügelplatte.

Und doch: alles war anders. Die toten Gegenstände belebten sich und schienen zu dem Mann zu reden, der zwischen ihnen stand und sich wirr umsah.

In seinem Ohr lag der Nachhall von allerlei Worten, die der andere gesprochen, von Papieren, die noch zu ordnen seien und daß es schade, sehr schade sein würde – –

René stürzte an seinen Schreibtisch. Mit bebenden Fingern riß er die Partitur seines Werkes heraus. Die losen Blätter wühlte er durcheinander, die schon ausgeschriebenen und die mit flüchtigen Notizen bedeckten.

Ja, da war etwas zu ordnen, viel – ein ganzer Lebensinhalt, ein ganzer Lebenszweck! Ihm schien es, als habe er um dieses Werkes willen vom Schöpfer aller Dinge einst Atem bekommen; als sei er geboren worden, unter heißer Arbeit und starken Kämpfen erwachsen und gereift, um es schaffen zu können; als seien alle seine Tage nur Vorstufen gewesen bis zu dem Tag, der ihm die Kraft und das künstlerische Wissen gab, dies Werk zu vollenden.

Und ein lächerliches Schicksal sollte ihm dies entwinden? Ihn hinweglöschen aus der Reihe der Lebenden, der Schaffenden? Unvollendet sollte diese That bleiben, mit der er seinem Volk eine edle Gabe zu bieten gedacht?

Ein wahnwitziger Gedanke kam ihm. Wenn er sich jetzt hinsetzte und schrieb und schrieb – – – die Nacht hindurch, den Morgen heran, bis die Freunde kamen, ihn zum Todesgang abzuholen?

Unbändiger Trotz wallte in ihm auf. Seine Augen flammten.

(Fortsetzung folgt.)


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Die Armenier.

Von Emil Jung.

Für den Philister nach Goetheschem Rezept wird in unseren Tagen recht ausgiebig gesorgt. Kaum ist der Riß zwischen den beiden rivalisierenden Völkern im fernen Osten Asiens mühsam verklebt worden, so fangen auch „hinten, weit, in der Türkei“ die Völker an, aufeinander loszuschlagen. Eine orientalische Frage beschäftigt wiederum die europäischen Diplomaten, ja scheint allmählich eine ernste Wendung zu nehmen. Wieder hat sich gezeigt, daß die türkische Regierung weder fähig noch willens ist, ein gedeihliches Verhältnis zwischen ihren mohammedanischen und christlichen Unterthanen herzustellen.

In den jetzt in so blutigen Zügen verzeichneten Fällen handelt es sich um die christlichen Armenier. Die Tageszeitungen haben ausführlich berichtet, mit welch brutaler Grausamkeit ihre endlichen Versuche, den ihnen zugesicherten Rechten Geltung zu verschaffen, in Konstantinopel, Trapezunt, Erzerum begegnet wurde. Armenische Männer und Frauen sind dabei zu Hunderten hingemetzelt worden. Nicht zum erstenmal hat Europa sich mit der Lage dieses Volkes beschäftigt. Schon der Berliner Kongreß vom Jahre 1878 legte der türkischen Regierung die Verpflichtung auf, eine Reform der armenischen Verhältnisse durchzuführen und den europäischen Mächten jedes Jahr darüber Rechenschaft abzulegen. Aber dieser Verpflichtung ist die Hohe Pforte niemals nachgekommen, ja sie behauptete allen Mahnungen gegenüber, daß für die Armenier ein Grund zu klagen gar nicht vorliege, daß ihre Lage vortrefflich sei. – Was sagen dagegen die Armenier?

Greuelthaten, Räubereien, Mordversuche sind schon seit vielen Jahren, so geht ihre Klage, in der Türkei gegen sie im Schwange. Der Armenier ist jede Minute gewärtig, daß ihm sein Hab und Gut, sein Weib und Kind, seine Ehre und selbst sein Leben genommen werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_812.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2024)