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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

antrieb, diese zu beschleunigen, ward ihm die Pflicht noch beängstigender. Der Reiz des größten Hindernisses war gefallen. René hatte ganz allein in Magdas Liebe für ihn solches erblickt. An Hindernisse äußerer Art dachte er gar nicht. So über alle Maßen er auch in Lilly verliebt war, die Notwendigkeit, sie zu heiraten, erfüllte ihn nicht mit fraglosem Jubel. Ihm bangte davor, seinem Leben eine feste Gestalt zu geben.

In der heimlichen Verlobung mit Magda hatte er gar keine Fessel gefunden, der Termin ihrer endlichen Vereinigung schwebte in so unbestimmten Zeitfernen. Und dann war Magdas ganzes Wesen und ganze Persönlichkeit so gar nicht aufdringlich oder störend. Es war ihm vom ersten Augenblicke an gewesen, als seien sie vertraut zusammen aufgewachsen, als habe er sie von je gekannt, als könne sie nie etwas thun, das sich nicht in vollkommener Harmonie den Bedürfnissen und dem Geschmack seiner Seele anschlösse.

Die kleine Lilly war ein aufregendes Persönchen, und alles, was sie umgab, die glänzende Familie, die vielen Standesrücksichten, verhieß viel Störung in seiner Arbeit.

„Laß es schnell sein – schnell!“ Ja, gewiß. Nun war es am besten, sich ohne Besinnen in die Ereignisse hinein zu stürzen. Morgen schon. Nein, morgen abend hatte er eine große Oper zu dirigieren. Da durfte er seine Nerven nicht mit anderen Dingen aufregen, da hieß es, sich still halten.

Aber Montag mittag – gewiß. René kannte die Hausordnung bei Lillys Großmutter genau. Von vier bis fünf nachmittags schlief die alte Dame. Er wollte dann zu Lilly gehen und mit ihr besprechen, ob er seinen Antrag unvermittelt bei der alten Dame anbringen oder erst ihren Bruder dafür gewinnen solle, der ihn, daran zweifelte er nicht, mit offenen Armen als Schwager aufnehmen würde. Und Magda sollte dann sofort und von ihm selbst erfahren, daß die Sache in Ordnung sei.

Plötzlich fiel ihm ein, daß sie gesagt hatte: ich weiß, wer es ist. Sie hatte ihn doch nie mit Lilly zusammen gesehen. Wie wunderbar! „Ja,“ sagte er sich, „Frauen, die wahrhaft lieben, haben noch einen Sinn mehr als andere Menschen.“

Er erinnerte sich der Qual, die so deutlich in Magdas Angesicht zu lesen stand. Und in der Dunkelheit der Nacht verbarg er noch sein Gesicht in der Hand.

Er hatte zum erstenmal in seinem Leben eine edle Frau wahrhaft leiden und durch sich selbst leiden sehen. Eine große Scham kam darüber in seine Seele, denn ihm war, als habe er eine Rohheit begangen, indem er in das Innerste eines Herzens sah.

Leiden, das war ihm etwas, das man verbarg, daran man weder mit Blick noch Wort rührt. Er selber war einer von denen, die lieber in stummer Qual vergehen, ehe sie einem Menschen ihr Leid enthüllen. Und so war ihm, als begehe er brutale Zudringlichkeit, wenn er ein anderes Wesen leiden sah. –

Die Nacht verging ihm so und auch der andere Morgen, den er thatenlos in grübelnden Gedanken in seiner Wohnung verbrachte.

Als er am Abend den Orchesterraum betrat, vergaß er, daß Lilly im ersten Rang saß und einen Blick von ihm erwartete. Es fiel ihm erst während der Ouverture ein, als er in der Doppelthätigkeit, die jedes Menschen Hirn in besonderen Momenten hat, wahrnahm, daß da oben ein großer heller Fächer sich immer hin und herbewegte. Ohne hinzusehen nahm sein Auge doch von seitwärts den lichten Punkt und die Bewegung wahr.

Es erregte ihn unwillig. So viel Takt und Kunstverstand sollte sie doch haben, daß man nicht während der „Oberon“-Ouverture lebhaft den Fächer gebraucht.

Seine Truppen merkten bald, daß er nervös war. Aber sie waren wohlgeschult und ihm ergeben und erzwangen sich ihrerseits die Aufmerksamkeit des Dirigenten. René vergaß, der Kaspari ein Zeichen zu geben; sie aber mit ihrer nie versagenden Sicherheit setzte trotzdem richtig ein. Er bemerkte nun seine Unterlassungssünde, lächelte dankbar zur Sängerin hinauf und war fortan ganz bei der Sache.

Für einige Zeit kehrte seine unbefangene Fröhlichkeit ihm ungetrübt wieder und er grüßte auch mit aufstrahlendem Blicke zu den Wallwitzens hinauf.

Dennoch war es ihm am Montag morgen unmöglich, zu arbeiten; er zählte die Stunden, bis es halb vier war und er sich auf den Weg zu Lilly machen konnte.

Die Sonne verschwand schon hinter den westlichen Höhen, aber der Himmel war taghell und lichtblau. Ein herber Wind fegte durch die Straßen, Renés Mantel flatterte und er mußte seinen Hut halten.

Da er Lilly am Morgen durch einen Boten hatte sagen lassen, daß er komme – sie verkehrten durch Notensendungen, denen ein verstecktes Zettelchen beigefügt ward – empfing ihn ihre Jungfer schon im Flur und meldete mit halb vertraulichem Lächeln, daß das Fräulein im Spielzimmer sei. Es war das kleine Gemach, wo die Gräfin ihre Whistpartien hielt. Dort stand ein grünbezogener Spieltisch mit den in seinen Rand eingelassenen Geldnäpfen vor einem altmodischen Sofa. Glasschränke mit alten Silberstücken und seltenem Porzellan hinter den Scheiben hatten an der Wand gegenüber Platz. Von der Decke hing ein merkwürdiger Kronleuchter herab, aus gläsernen grünen Blättern und weißen Callablüten, in denen immer frische Lichter steckten.

René trat ein. Lilly saß am Fenster in einem riesigen Ohrenlehnstuhl und las in einem französischen Roman. Sie legte das Buch umgewandt mit offenen Seiten auf das Fensterbrett, hielt sich mit auseinander gebreiteten Armen an den Lehnen, legte den Kopf zurück und spitzte die Lippen. Das hieß so viel als: komm her, gieb mir einen Kuß und sag’ mir guten Tag.

René kam heran und folgte der stummen Einladung flüchtig.

Sie rückte dann in die eine Ecke des Lehnstuhls. Es konnten ganz wohl zwei Menschen darin nebeneinander sitzen. René zwängte sich an ihre Seite, umfaßte sie und sagte:

„Weißt Du, liebes Kind, daß ich Dich eigentlich um Verzeihung bitten sollte?“

„Wofür? für große Sünden? Wir wollen ’mal sehen, ob wir gnädig sein dürfen. Also los mit der Beichte!“

„Es ist nur eine Unterlassungssünde. Ich hätte schon vor drei Wochen, weißt Du, nach jener Stunde, da Du wie eine schöne Fee aus dem Märchenland in mein armes Zimmer tratest, thun müssen, was nun nicht länger aufgeschoben werden soll. Aber – Gründe – –“ Er stockte. Ihm verbot ein starkes Gefühl, davon zu sprechen, daß er nicht frei gewesen. Wenn auch Magdas Name nicht genannt wurde – so schien sie ihm doch schon entweiht, wenn er nur in unbestimmten Ausdrücken von dieser Liebe sprach.

„Nun was denn, was denn?“ fragte sie sehr ungeduldig.

„Bei Deiner Großmama um Dich anhalten,“ sagte er.

Sie sprang auf. Aber sie fiel ihm nicht um den Hals, sondern lachte nervös. „O Du meine Güte, was für pedantische Ideen. Unser heimlicher Liebesfrühling ist ja so reizend,“ rief sie.

„Nein, mein Kind,“ sprach er ernst und stand in stolzer Haltung vor ihr, „ich darf Dich und Deinen Ruf keinen Gefahren aussetzen. Ich will nicht, daß der in Leopoldsburg immer wache Klatsch sich unserer Namen bemächtigt. Ich will nicht, daß Deine Großmama nachher sagt: die Leute hatten schon zuviel davon gesprochen, ich mußte mich darein finden. Ich will freudig von ihr als Enkelsohn angenommen sein, das bin ich Dir und mir schuldig. Es handelt sich nur darum, daß wir besprechen, ob ich Deiner Großmama schreiben soll, oder ob wir Walfried als unseren Freiwerber gewinnen.“

Lilly stand verlegen da. Sie hielt die eine Hand mit der anderen erfaßt und strich mit dem Daumen der Rechten an den Fingernägeln der Linken herunter, als wollte sie diese blank polieren.

„Ach,“ sagte sie leichthin, „laß doch das! Wie kommst Du auf den Einfall? Das verlange ich ja gar nicht. Du bist ein Künstler und brauchst noch Freiheit.“

René sah sie erstaunt und unsicher an. Soviel Selbstlosigkeit hatte er hier nicht erwartet. Und der Ton klang auch nicht, als entstamme das Wort liebevoller Rücksicht auf ihn.

Ein merkwürdiges Gefühl kam über ihn. Es war, als gehe er auf Sumpfboden, als könne die Erde unvermutet unter ihm hinwegweichen. Er war nicht der Mann, sich auf solchen Unsicherheiten tastend vorwärts zu schleichen.

„Du liebst mich?“ fragte er plötzlich scharf.

„Ueber alle Maßen,“ rief sie und fiel ihm um den Hals, „ich habe es Dir tausendmal gesagt und so innig bewiesen.“

Sie küßte ihn, einmal, mehrmals, wie toll. Aber seine Lippen blieben geschlossen, seine Haltung erwartend.

„Also was meinst Du,“ fragte er, „soll ich direkt an Großmama schreiben?“

Sie hielt ihre Hände noch in seinem Genick gefaltet und wiegte seinen Kopf im Uebermut ein bißchen hin und her.

„Du lieber, dummer Mensch,“ sagte sie zärtlich, „als wenn

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