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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Das fünfzigjährige Stiftungsfest des Allgemeinen Turnvereins zu Leipzig. (Mit dem Bilde S. 753.) Am 5. und 6. Oktober beging einer der ältesten Turnvereine Deutschlands, die größte Turngemeinde Sachsens, der Allgemeine Turnverein zu Leipzig die 50. Wiederkehr des Tages seiner Begründung. Das Fest bestand aus einer Vorfeier (Festkneipe), einem Schauturnen in der Alberthalle des Leipziger Krystallpalastes und einem Festessen im blauen Saale des letzteren. Erhielt die Vorfeier, an der Hunderte fremder Turner teilnahmen, ihren Charakter vornehmlich durch die Uebergabe zahlreicher Stiftungen und sinnvoller Geschenke, ganz besonders aber durch die vortrefflichen Reden des Oberbürgermeisters Dr. Georgi, des Vorsitzenden der deutschen Turnerschaft Dr. Goetz aus Leipzig-Lindenau und des Vereinsleiters, Professor Dr. Lion, so gab am anderen Tag nach alter Leipziger Sitte das Schauturnen, das man den Zuschauern zuliebe aus den beschränkten Räumen der städtischen Turnhalle in die Arena der Alberthalle verlegt hatte, den Turnern selbst Gelegenheit, den Gedanken der Feier zum Ausdruck zu bringen. Natürlich konnten hier nicht alle 54 Riegen des mehr als 1000 Mitglieder zählenden Vereines auftreten, sondern nur die tüchtigsten und besten Turner mit ausgewählten Uebungen, daneben aber auch die Turnerinnen der beiden Damenabteilungen. Die Kinderklassen des Vereins, die gleich den Damenklassen von Vereinsturnlehrern geleitet werden, hatten ihr Turnfest schon acht Tage früher abgehalten. Die Veranstaltung, deren Hauptmomente unser Bild auf S. 753 wiedergiebt, brachte einen Stabreigen von 40 Turnern unter A. Erbes, Hantelübungen und reigenartige Gruppen von Stabübungen, die L. Schützer mit 84 Damen vorführte, dann das bunte Durcheinander des Riegenturnens, wie es tagtäglich in der städtischen Turnhalle an der Turnerstraße zu sehen ist, und schließlich Kürübungen der Vorturner am hohen, dreiholmigen Barren, zusammengestellt von Dr. Lion, eingeübt und vorgeführt durch P. Erbes. Dies Jubel-Schauturnen war in jeder Beziehung geeignet, die Entwicklung zu veranschaulichen, welche der Verein seit den Tagen genommen, da ihn im Jahre 1845 Männer wie Karl Bock, Lampe, Schreber und Biedermann gründeten, freilich mehr zu dem Zweck, eine heilgymnastische Pflegestätte des Körpers zu sein, denn ein Tummelplatz leiblicher Kunstübung und kühnen, turnerischen Wagemutes.

Daß später neben dem gereiften Alter auch die Jugend ihr Recht erhielt, daß überhaupt aus der Turnanstalt allmählich ein Turnverein wurde, ist wesentlich das Verdienst eines damals noch gar jugendlichen Mannes, des Vorturners Alwin Martens. Selbst ein vortrefflicher Turner, stellte Martens beim Turnen neben die Forderungen der Nützlichkeit und die Gesetze der Methode das Verlangen nach Schönheit und Harmonie der Bewegungen. Nach außen hin vertrat er seine Ansichten in der von ihm unter Ernst Keils Hilfe mitgegründeten und zeitweise geleiteten „Deutschen Turnzeitung“, in seinem Vereine aber durch die Neuschöpfung der Körperschaft der Vorturner, denen er jene Ansichten in begeisternden Vorträgen einzuimpfen wußte. Er gab ihr auch jenes Grundgesetz, das diese freiwillige Turnlehrerschaft des Vereins für ihre mühsame und stetige Arbeit auf dem Turnplatze durch eine hervorragende, ehrenvolle Stellung entschädigt und ihr einen leitenden Einfluß auf alle Vereinsangelegenheiten zu sichern weiß. Als die Verbindung des Schulturnens mit dem Männerturnen im Allgemeinen Turnverein die Berufung eines Mannes notwendig machte, der auch in erzieherischer Hinsicht die Leitung des gesamten Leipziger Turnwesens übernehmen konnte, da war es wiederum Martens, der zuerst auf eine geeignete Persönlichkeit, seinen Freund und Strebensgenossen J. C. Lion aus Göttingen, hinwies. Ein unerbittliches Schicksal riß den 29jahrigen Mann aus dem Kreise seiner Turner wenige Monate vor der Berufung Lions nach Leipzig hinweg, im Februar 1862.

J. C. Lion.

Alwin Martens.

Justus Carl Lion, der Sohn eines Göttinger Docenten, hatte schon mit 19 Jahren das Turnen am Gymnasium seiner Vaterstadt geleitet, einen studentischen Turnverein daselbst gegründet und, gleich gewandt in Schrift und Wort, im Kampfe gegen die von Preußen begünstigte schwedische Gymnastik an erster Stelle gefochten. Als er nach Leipzig berufen wurde, war er Mathematiklehrer in Bremerhaven und zählte 33 Jahre. Die gleiche Zeit hat er nunmehr in Leipzig gewirkt und den Ruhm der Leipziger Turnerei, den Martens für das Vereinsturnen schuf, zu Ehren des Allgemeinen Turnvereins überall gemehrt und auf das Leipziger Schulturnen übertragen. Turnten doch noch 1867 mehr als 4000 Kinder fast sämtlicher Leipziger Schulen unter der Obhut des Allgemeinen Turnvereins und unter Lions Leitung.

Die Anleitung, die er der Schar seiner Leipziger Vereinsturnlehrer unter dem Namen „Bemerkungen über den Turnunterricht in Knabenschulen und in Mädchenschulen“ gab, sind allen deutschen Turnlehrern eine Richtschnur geworden, wie überhaupt sämtliche Schriften Lions – und er schreibt über alle Gebiete des Turnens – durch knappe Form, edle Sprache und mathematische Genauigkeit bei der Behandlung des Stoffes, durch Schärfe des Urteiles und erschöpfende Darstellung den klassischen Turnschriften von Guts Muths, Jahn und Spieß ebenbürtig zur Seite stehen. Mit der Erbauung von eigenen Schulturnhallen verließen die Schulen den Verein und Lion legte sein Amt als dessen technischer Direktor nieder, blieb ihm aber als Mitglied des Turnrats, der verwaltenden Behörde des Vereines, dessen Vorsitzender er jetzt ist, treu. Der Vorturnerschaft des Allgemeinen Turnvereines aber hat Professor Lion als ein Dichter in der Turnkunst, die er selbst einst als die Poesie des Leibes bezeichnete, immer neue Anregung und Belehrung gegeben. Wenn der Allgemeine Turnverein zu Leipzig heute weit über Sachsens Grenzen hinaus in ganz Deutschland rühmend genannt wird, so gebührt der Dank seiner Mitglieder erstmals der stillen und treuen Vorarbeit von Alwin Martens, dann aber Lions Thätigkeit in den letzten drei Jahrzehnten. P. A.     

Der Heimat zu! (Zu dem Bilde S. 741.) Der Heimat zu ist der Kiel des Schiffes gerichtet, das sich im Hafen von New York soeben zur Abfahrt in Bewegung gesetzt hat; der Heimat zu wenden sich nun auch die Gedanken der einsamen Reisenden, deren Blicke noch abschiednehmend an dem Bild der gewaltigen Stadt hängen, aus der sie so großartige Eindrücke mit in das Vaterland heimnimmt. Ja, Großes und Schönes hat sie in Amerika gesehen, wo sie in der Familie lieber Verwandten, die, einst von Deutschland eingewandert, in New York zu Wohlstand und Ansehen kamen, einige Jahre zugebracht hat. Im Verkehr mit ihren Cousinen hat sie selbst etwas vom Schliff einer jungen Amerikanerin angenommen, und unter Thränen hat sie sich von ihnen, von den Verwandten und Freunden losgerissen, die ihr bis an den Einschiffungsplatz das Geleit gaben und zum Abschied kostbare Blumensträuße ihr in die Hand drückten. Mit Wehmut denkt sie all der schönen Stunden, die sie hier im Kreise guter Menschen verlebt, zugleich mit innigem Dank gegen die, welche ihr so viel Teilnahme und Freundschaft erwiesen. Aber schon beginnt der Gedanke an die Heimat ihre Seele aufzurichten. Eines konnte ihr die Fremde doch nicht gewähren, was sie in der Heimat in Fülle besaß und ihr warm entgegenschlagen wird, wenn sie wieder zum erstenmal ihr Haupt an das treue Herz der Mutter schmiegen darf. Und an der Stelle des Abschiedsschmerzes überkommt sie die wohlige Sehnsucht, mit der einst Goethe auf der Rückkehr aus Italien das Wort niederschrieb: „Heimatwärts – liebewärts!“

Senta erblickt den Holländer. (Zu dem Bilde S. 745.) Den Vater zu begrüßen, der aus Sturmesnot glücklich im Hafen gelandet ist, wendet sich Senta der aufgehenden Thüre zu, und herein tritt über die Schwelle, vom Vater geleitet, die hohe Gestalt des bleichen fremden Mannes, dessen ernste Züge ihr so innig vertraut sind. An der Wand der Stube hängt ja seit langem sein Bildnis, das Bild des Unseligen, dessen ergreifendes Schicksal sie aus der düsteren Ballade kennt, die ihr als Kind schon die Amme vorgesungen. Eben erst hat sie wieder in Träumen vor dem Bilde gestanden und das Lied vom „Fliegenden Holländer“ ward auf ihren Lippen lebendig: das Lied von dem einsamen kühnen Seefahrer, den ein voreiliger Fluch in die Gewalt Satans geraten ließ und der nun rast- und ruhelos durch die Meere im schwarzen Gespensterschiff dahin fahren muß, ohne ein winkendes Obdach, und nur erlöst werden kann durch ein liebendes Weib, dessen Treue kein Makel trübt. Nur alle sieben Jahre darf er einmal vor Anker gehen, um den Versuch zu wagen: aber so oft es bisher geschehen, nie fand er das Weib, das die Treue ihm hielt. Und nun tritt er Senta leibhaftig entgegen; sie liest den unnennbaren Gram aus seinen Leidensmienen und aus seinen Augen die heiße Bitte, die um Erlösung fleht. Da leuchtet dem Gast aus den ihren das Bekenntnis entgegen, daß sie bereit ist, ihm ihr Herz zu weihen, und das Hochgefühl schwellt ihre Brust, daß sie den Schwur der Treue ihm halten werde durch Zeit und Ewigkeit. Sie vergißt in diesem Augenblick, daß ein andrer schon früher von ihr den gleichen Schwur empfing, und ahnt nicht das tragische Verhängnis, das sich vorbereitet, indem sie dem Jäger Erik dem Holländer zulieb die Treue bricht. – Die aus der romantischen Oper Wagners wohl allen Lesern bekannte Scene hat auch der Maler unsres Bildes verstanden, ergreifend zur Anschauung zu bringen.


Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (4. Fortsetzung). S. 741. – Der Heimat zu! Bild. S. 741. – Senta erblickt den Holländer. Bild. S. 745. – Die Opfer der Elektrotechnik. Zur ersten Hilfeleistung in Hochspannungs-Unfällen. Von W. Berdrow. S. 747. – Das neue Heim des Reichsgerichts. Von Hermann Pilz. S. 748. Mit Abbildungen S. 748, 749, 750 und 751. – Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (Schluß). S. 752. – Blätter und Blüten: Cottascher Musen-Almanach für 1896. S. 755. – Das fünfzigjährige Stiftungsfest des Allgemeinen Turnvereins zu Leipzig. S. 756. (Zu dem Bilde S. 753 und zwei Bildnissen S. 756.) – Der Heimat zu! S. 756. (Zu dem Bilde S. 741.) – Senta erblickt den Holländer. S. 756. (Zu dem Bilde S. 745.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_756.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)