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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

hinzu, denn er begriff, daß er etwas Ungeschicktes gethan: man sieht die Handschrift auf den Briefen anderer Leute nicht.

Magda sah ihn an, er Magda. Ihre Blicke wurzelten ineinander. Magda wurde rot.

„Magda hat Flemming kennengelernt, wir trafen ihn auf der Reise,“ sagte Hortense mit oberflächlichem Ton.

Nicolai ließ seinen Blick nicht von Magdas Gesicht. Er atmete kurz, wie jemand, dem die Luft ausgehen will. Magda faßte sich und ergriff Nicolais Hand.

„Also, Sie werden morgen mit Papa essen,“ sprach sie herzlich. „Ich danke Ihnen.“

Er fühlte, es hieß soviel als: gehen Sie nun, ich bedarf der Einsamkeit. Ueber seine Lippen kam kein Wort mehr, er zog sich mit einer linkischen Verbeugung zurück.

Hortense sah ihm nach. „Armer Teufel,“ murmelte sie.

„René entschuldigt sich – er war zu beschäftigt,“ sagte Magda mit unsicherm Ton.

Ihr war, als müßte Hortense dem Brief von außen ansehen, daß so wenig darin stand, und Magda wollte verbergen, daß sie durch die Kürze enttäuscht war.

Die kluge Freundin fühlte genau, daß Magda ihr etwas verbarg. Und obschon sie wußte, daß die Aermste sich nun vielleicht mit einem Phantom stundenlang herumquälen werde, ließ sie ihr das Schweigen. „Das muß durchgemacht sein,“ sagte sie sich philosophisch und verließ Magda.

Diese nahm den Brief wieder vor und las ihn noch einmal. Warum führte er die Gründe nicht an, die ihn abgehalten hatten? Warum beschrieb er nicht den Inhalt all seiner Stunden seit vorgestern? Fühlte er denn nicht, daß dies allein Magda überzeugen konnte, wie es ihm wirklich unmöglich gewesen, zu kommen? Wußte er denn nicht, daß die flüchtigen Minuten, die er verschmähte, ihr immer noch eine unendliche Freude bereitet hätten, daß sie ihn lieber im Fluge als gar nicht sah? Verstand er denn so gar nicht, was einem Frauenherzen wohl und not thut? Daß man ihm mit einem herzlichen, erklärenden, zärtlichen Wort tausend stille Qualgedanken ersparen kann?

Magda fühlte sich verzweifeln. Aber es lag nicht in ihrer Art, sich dann hinzuwerfen zu weinen und zu toben. Sie stand still und starr und fragte sich, ob sie geliebt sei, so wie sie wünschte und begehrte, von ihm geliebt zu sein, und ob es nicht besser wäre, diese Qual durch einen scharfen Schnitt zu enden.

Davor erschrak sie aber so, daß es ihr schien, ihr jetziges Elend sei ein besserer Zustand als der frühere Friede.

Sie ging all ihren Obliegenheiten mechanisch nach. Bei Tisch sorgte sie wie immer für den Vater. Die alte Excellenz saß, sorgfältig in Schwarz gekleidet, im Fahrstuhl. Ruhland hatte ein Gesicht, dessen feine Züge durch Arbeit und Leiden ins Messerscharfe vertieft waren. Der weiße Backenbart endete in den Mundwinkeln und ließ das Kinn frei. Die Augen unter der hohen Stirne lagen tief und hatten einen seltsamen, glänzenden Blick. Er sprach etwas schwer, wie jemand der mühsam seine Gedanken zusammenhält. Seine Krankheit war in ihren Anfangsstadien und schritt langsam vor. Magdas Freunde wünschten Ruhland einen baldigen Tod, damit der Tochter schlimme Zeiten erspart würden.

Magda teilte ihm nie mit, wenn sie einmal abends ausging. Ihre Absicht würde er begriffen haben und darüber verstimmt sein, während er in der That nur nach ihrer pflegsamen Nähe bei seinen Mahlzeiten verlangte. Und die letzte erhielt er um sechs Uhr.

Als Magda sich in ihrem Zimmer für das Theater ankleidete, wich der Druck von ihr, der seit Mittag auf ihr gelegen. Der Gedanke, René bald, wenigstens von weitem zu sehen, gab ihr schon so viel Freude, daß sie den Brief noch einmal hervorholte und ihn wieder las. Jetzt blieb ihr Auge zumeist auf der Stelle haften: „Voneinander fern, fühlen wir dann doch unsere innerste Zusammengehörigkeit“.

Unterwegs nach dem Opernhaus – sie mußte fast die halbe Ringstraße entlang wandern – dachte sie an Renés Erzählungen, mit denen er sie bei der Table d'hôte manchmal unterhalten: von den unglaublichen Schwierigkeiten der Einstudierung einer Oper, von den tausend unvorhergesehenen Hindernissen, die oft noch am letzten Tage entstehen und durch heiser gewordene Primadonnen, fingerkranke Harfenspieler, launische Tenoristen etc. hervorgerufen werden.

Der Septembertag war so schön gewesen, Magda hatte ihn in den Terpentindünsten ihrer Malstube verbracht. Nun er sank und mit einer letzten, zagenden Dämmerung noch eine friedliche Färbung über Himmel und Erde legte, atmete Magda erquickt seine Reinheit. In der freien Luft war ihr immer besser. Sie kam sich froher und gläubiger vor, frischere Lebensquellen sprangen in ihr auf.

Gleich ihr strebten ganze Scharen dem Opernhaus zu, vor dessen weißem Prachtbau elektrische Lampen Tageshelle verbreiteten. Und endlich saß sie auf ihrem Platze, ganz glücklich, ganz erlöst. Draußen im Korridor war ein Zettel angeschlagen gewesen: man kündigte an, daß nicht Herr Meyer den Heerrufer singe, sondern daß infolge einer plötzlichen Heiserkeit dieses Künstlers Herr Reuter heute morgen die Partie übernommen habe. – Nun wußte sie, daß René den ganzen Morgen noch mit dem Ersatzmann studiert haben mußte.

Seltsamer Mensch! Karg mit Worten, sagte er nur die Thatsachen und forderte offenbar, daß sie immer blind an die Unabänderlichkeit derselben glaube.

Dies war nur eine kleine Sache gewesen und Magda hatte sie sich selbst bald erklären können, freilich nach einigen Zweifelsstunden. Wie schwer, ja zu schwer für ein Frauenherz mußte die Zumutung in großen Dingen sein!

Magda sah sich im vollen Hause um. Sie hatte an der rechten Seite in einer Loge einen Platz in der zweiten Reihe bekommen. Drüben, links, saß Hortense, mit ihrem aschblonden Haar und ihrem Sammetkleid, das ein wenig den Hals frei ließ, anzusehen wie eine Schönheit in voller Blüte. Neben ihr saß die kleine Sibylle von Lenzow, mit dem schwarzen Köpfchen, dem pikanten Gesicht, hübsch im rosa Kleidchen. Sibyllens Vater nahm einen der Hinterplätze ein. Der Rest der Loge war auch besetzt – lauter Abonnenten, daher fand sich in ihr für Magda kein Raum.

Man unterhielt sich sehr lebhaft, es war eine festliche Bewegung im Hause. Vor Magda saß der Lieutenant von Wallwitz, die junge Dame in Weiß neben ihm war vermutlich seine Schwester. Er hatte Magda so förmlich gegrüßt, wie ihre flüchtige Bekanntschaft es forderte. Sie aber sah ihn mit Interesse an, fühlte sich ihm nahe und hätte am liebsten ein Gespräch mit ihm angefangen. War er doch „sein“ guter Freund. Hinter Magda, in der letzten Logenreihe, und neben ihr saßen insgesamt drei Damen, die sich über Theaterangelegenheiten mit der Ungeniertheit unterhielten, welche ständige Besucher sich angewöhnen.

„Nie präcise, wenn Flemming dirigiert,“ sagte die eine, „es ist schon fünf Minnten nach.“

„Er charmiert wohl noch mit seiner Kaspari,“ meinte die zweite.

„Heute wollen wir ’mal tüchtig aufpassen – Ihr sollt sehn, sie kokettiert von der Bühne ’runter zu ihm.“

„Ob's wohl zur Heirat kommt?“

„Keine Idee! Das wird wieder werden wie voriges Jahr mit der Bertens: wenn er es satt hat, heißt es mit einemmal, sie hat keine Stimme mehr, oder sie macht nicht genügend Fortschritte, und dann kommt sie fort.“

Magdas Herz klopfte, daß die Spitzen an ihrem Halse zitterten.

Sie hätte den Weibern ins Gesicht schreien mögen: schweigt mit eurem elenden Klatsch!

Plötzlich verdunkelte sich das Haus. Zugleich trat von links, durch eine kleine Thür, René in den Orchesterraum. Während er sich schnell durch die Stühle und grünbeschirmten Gaslampen wand, die ihm für Fuß und Schultern den Weg versperrten, flog sein dunkles Auge suchend über den ersten Rang.

„Er sucht mich!“ jubelte es in Magda und unwillkürlich reckte sie den Kopf und erhob sich ein wenig, damit er sie sähe, was aber natürlich nicht möglich war.

„Ist er das?“ fragte das Fräulein vor ihr den Lieutenant. Der nickte.

Die junge Dame in Weiß nahm hierauf das Opernglas und sah sich den Kapellmeister genau an, der, sobald er auf seinem Schemel stand, nur noch im Wangenprofil sichtbar war, wenn er sich nicht gelegentlich beim Dirigieren den rechts sitzenden Cellisten, Holzbläsern und Hörnern zuwandte.

Magda hörte nichts vom Vorspiel. Sie sah nur die schlanke Gestalt im schwarzen Frack und sah die herrschenden, ausdrucksvollen Bewegungen seiner Arme und Hände.

Als nach dem Vorspiel rauschender Applaus ertönte, errötete sie, als gelte es ihr mit. Der Vorhang ging auf. Magdas Blick suchte unwillkürlich die Kaspari.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_694.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)