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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Unser Heimweg führte über den Kirchhof und da die Sonne noch hoch stand, so beschlossen wir, einmal nach einem Vogelneste zu sehen, daß sich in der Mauer am unteren Ende des Gottesackers befand. Als wir eilfertig den Weg hinabliefen, rannten wir beinahe einen Mann um, der gemächlich vor uns herschritt und einen Kranz aus Buchsbanm trug.

„Kinners, Kinners!“ schalt er verdrießlich, „habt Ihr denn kein Augen im Kopf?“

Aber er schalt zu spät. Wir waren doch gegen ihn angeprallt und hatten ihm den lässig angefaßten Kranz aus der Hand gestoßen. Nun sammelten wir ihn wieder auf und murmelten eine flüchtige Entschuldigung; aber damit war er nicht zufrieden.

„Was’n Manier!“ schalt er. „So auf’n Kirchhof zu spengtakolieren, wo man still und bescheiden gehen muß!“

Es war Herr Dorning, der uns diese strenge Ermahnung gab, und an Anbetracht seiner Speziesthaler, die auch uns Kindern Achwng abnötigten, standen wir bescheiden still und hörten ihm andächtig zu.

„Ich kann Dir ja den Kranz tragen!“ meinte Milo und Herr Dorning wurde etwas weniger ungnädig.

„Nn, for meinswegen! So’n Buchsbaum is auch ümmer klebrig – ich mag das Kram nich in Hand haben. Abers weil heut ihr Geburtstag is –“

„Wo soll der Kranz hin?“ fragte Milo.

Der Gefragte deutete zögernd und unwirsch auf das Grab seiner Frau.

„Nu natürlich, dorten, wo das hohe Kreuz steht! So’n Kreuz is hier nich auf’n ganzen Kirchhof! Fünfhunnert Bankthalers und denn das Gitter! Smiedeeisen!“

Er war wieder ganz vergnügt geworden und er klimperte mit einigen Thalern in der Tasche.

„Was kuckst mir an?“ fuhr er mich plötzlich an. Wahrscheinlich war ihm mein unverwandtes Anstarren nicht gerade angenehm.

„Ich dachte an den Schmetterling!“ sagte ich etwas bestürzt. „Du weißt, der Schmetterling auf dem Kreuz. War Deine erste Frau ein Schmetterling?“

Er lachte. „Nee, das nu gerade nich – abers –“

„Soll der Schmetterling denn Marenz vorstellen?“ unterbrach ich ihn eifrig, während er plötzlich stehen blieb und dröhnend auflachte.

„Das is drollig! Was’n Gedanke! Und was weiß so’n Ding wie Du von Marenz! Da bist zu dumm zu!“

Diese letztere Bemerkung reizte mich.

„Ich bin nicht dumm!“ sagte ich trotzig. „Du willst Marenz ja heiraten, das weiß ich ganz gut!“

„Nu natürlich, das kannst auch gern wissen!“ Dorning hatte beide Hände in die Hosentaschen gesteckt und lachte noch immer. „Heiraten is’n ehrliche Sache und wenn ich so’n armes Ding glücklich machen will, denn kann kein Christenmensch da was gegen sagen. Sollst mal sehen, was Marenz lustig wird, wenn sie erst bei mich auf mein feine Stelle wohnt!“

„Heute weinte sie!“ bemerkte Milo, der bis dahin geschwiegen hatte. Dorning zuckte die Achseln.

„Deerns heulen ümmer,“ bemerkte er dann gleichmütig. „Nu laß uns man weiter gehen!“

Aber er blieb doch stehen, weil ihm ein plötzlicher Gedanke kam.

„Seid Ihr denn bei Marenz gewesen?“

Wir verneinten.

„Da unten saß Marenz und weinte. Unten am Wasser, wo die Frauen immer waschen!“

Er runzelte die Stirn.

„Dumme Deern! Wo kann sie heulen wenn ich ihr doch bald heiraten thu! So’n Glück wie sie hat! Und denn weint sie? Ich will ihr kriegen!“

Er sah so finster aus, daß ich beinahe Angst vor ihm hatte nnd Milo anstieß, um gemeinsam fortzulaufen, aber Herr Dorning hielt mich plötzlich am Arme fest.

„Nee, da is nix von Weglaufen!“ sagte er, „Du sollst for mir nach Oltens gehen und sagen, daß sie auf Marenz passen! Sie soll nich wieder hier irgendwo rumsitzen und weinen! Das will ich nich! Hast mir verstanden? Da bringt sie mir ja in Snackerei, wo sie doch so’n banniges Glück hat. Ich hätt kein Zeit mehr, heut zu kommen, und Frau Olten sollt man auf ihr passen! Nu geh!“

Aber ich schüttelte den Kopf. „Ich gehe nicht zu Frau Olten; die mag ich nicht leiden. Die schlägt Marenz!“

„Dummheit!“ brummte er. „Und Du bist erst rech dumm!“

Das war das zweite Mal, daß er mir Dummheit vorwarf, und ich wurde sehr beleidigt.

„Marenz mag Dich auch nicht leiden!“ rief ich heftig. „Die will Dich gar nicht heiraten! Sie mag Johann viel lieber; aber Frau Olten ist schlecht gegen Johann gewesen, obgleich der viel netter ist als Du!“

Milo nickte. „Ja, der ist netter,“ meinte er. „Das finde ich auch. Der ist lange nicht so dick wie Du und denn auch wohl jünger!“

„Viel jünger, natürlich!“ wiederholte ich. „Marenz hat auch so geweint!“

„Ja, die arme Marenz!“ sagte Milo und Herr Dorning stand ganz unbeweglich und sah bald Milo, bald mich an. Dann räusperte er sich und schüttelte den Kopf.

„Herr Du meines Lebens! Was seid Ihr for unartige Kinners! Sowas is mich in mein ganzen Leben nich vorgekommen! Na, wenn ich Euern Vater mal zu sehn kriege, den will ich was verzählen. Sowas von Lügen! O du meine Zeit!“

Seine letzten Worte regten uns sehr auf. Wir waren zur unbedingten Wahrhaftigkeit erzogen und jede Lüge, wenn sie einmal vorkam, wurde sehr bestraft. Nun wollte Herr Dorning unserem Vater sagen, daß wir lögen, wo wir doch die Wahrheit gesprwchen hatten.

„Wir lügen nicht!“ riefen wir beide.

„Marenz hat geweint!“ wiederholte Milo und ich setzte in höchster, ohnmächtiger Erregung hinzu:

„Ich wollte, daß Du im Wasser lägest, wie Marenz es möchte!“

Nach dieser Aeußermng wandte ich mich kurz ab, um davonzulaufen Herr Dorning hatte mich aber wieder am Arm gefaßt und ließ nicht los.

„Was hat Marenz gesagt? Sie will, daß ich in Wasser liege? Will sie an mein Leben?“

Er war ganz blaß geworden.

„Sie sagte, ich wollte, der alte gräsige Kerl läge hier im Wasser!“ wiederholte ich in dem angenehmen Gefühl, mit meinen Worten Eindruck zu machen.

In seiner Empörung ließ er mich jetzt los und fuhr mit der Hand über sein breites Gesicht.

„Du mein Heiland! Den alt gräsigen Kerl hat sie gesagt? Von mich? Von Krischan Detlef Dorning, vor den alle Leutens den Hut abnehmen? Und in Wasser will sie mir haben, wo gerade in Wochenblatt ein Geschichte steht, daß ein Frau ihren Mann totgeslagen hat? Da sollt ich mir in Gefahr begeben? Ich? Wo gerade die Saat auf meine Felders so gut steht und ich mich neue Starkens[1] gekauft habe, und ich mir so auf die Ernte freue! Der alt gräsige Kerl! Und Oltensch lügt mich ümmer was vor! Die sagt jedweden Tag, sie kommp sich, sie thut man so, sie schaniert sich, sie kann es nich aushalten vor Liebe! Denn will sie mir in Wasser smeißen! Was’n Segen, daß ich mir noch nich fesgemacht hab, wo ich noch ne Pattie in Holstein in Aussicht hab! Mit Geld und allens – bloß daß sie nich mehr jung is und Marenz vielleich ein büschen mehr nach was aussieht!“

Er seufzte kurz auf, schüttelte den Kopf und sah sich langsam um.

„Na Kinners, nu geht man nach Hause! Was’n Segen, daß ich nich in mein Elend renne, wo die Welt so angenehm is und ich die neuen Starkens aus Angeln kriege! Und denn wollt ich mir in Lebensgefahr begeben, wo ich gerade die Geschichte in Wochenblatt lese? Kinners und Narren reden die Wahrheit – man gut, daß ich Euch gesehen hab! Nee doch, nee doch! Der alt gräsige Kerl!“

Langsam ging er davon. Den Kranz, den Milo noch in der Hand hielt, vergaß er; auch sah er kein einziges Mal nach dem Grabe hin, dessen Kreuz so viel Geld gekostet hatte.

Wir sahen ihm mit einem sehr beklommenen Gefühl nach, weil wir uns nicht ganz klar waren, ob wir sehr artig oder sehr unartig gewesen waren. Aber wir brachten den vergessenen Kranz

  1. junge Kühe.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_642.jpg&oldid=- (Version vom 8.2.2023)