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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

erhielt ich einen Pflaumenkern, und als ich in heller Entrüstung eine ganze Pflaume verlangte, sagte er:

„Ueb immer Treu und Redlichkeit, bis an Dein kühles Grab! Und magst Du nicht darüber sein, so saug an einem Pflaumenstein!“

Da weinte ich gerade so bittere Thränen, wie Marenz sie vergossen hatte. Aber ich wurde bald wieder heiter – wartete meiner doch ein sehr angenehmer Auftrag.

Die Großen waren plötzlich gegen Marenz freundlicher gesinnt geworden und ich durfte ihr ein Paket hinbringen, in dem sich nicht allein ein nettes Schultertuch, sondern auch eine fertige rosa Kattunjacke befand, wie sie bei uns die Dienstmädchen viel tragen.

An einem Sonnabendnachmittag, an dem, wie ich wußte, Marenz zu Hause war, erschien ich bei ihr mit meinen Gaben.

Sie war eben auf dem Boden des kleinen, winzigen Bäckerhauses und scheuerte die Fußdiele. Als ich ihr triumphierend mitteilte, weshalb ich gekommen sei, ließ sie den Scheuerbesen vor Ueberraschung fast hinfallen und sah wortlos, mit hochroten Wangen, zu, wie ich alles auspackte.

„Allens for mir?“ fragte sie immer wieder. „Warraftig for mir? Und ’ne rosa Kattunjack! Rosa!“

Sie hielt die Jacke so, daß das Licht der kleinen Lampe darauf fiel, und dann schüttelte sie wieder halb ungläubig den Kopf.

„Ein Jack, wie die ganzen feinen Dienstmädchens, die bei Herrschaftens dienen! Und was forn Tuch! Was giebt es doch for gute Menschens!“

„Du kannst die Jacke auch noch umtauschen, wenn Du etwas anderes dafür haben willst!“ bestellte ich, aber Marenz schüttelte den Kopf.

„Umtauschen! Was sollt ich sowas Prachvolles woll umtauschen! Vielen, vielen Dank!“

Sie scheuerte schon wieder eifrig; aber die Freudenthränen liefen ihr über das Gesicht.

„Was hast Du Dir denn für den halben Bankthaler gekauft?“ fragte ich; „oder hast Du ihn in Deinem Strumpf verwahrt?“

Sie wischte sich die Thränen aus den Augen und lachte.

„Nee – Geld in Bettstroh mag ich nich mehr haben – da släft man zu slecht von. Ich hab mich abers was gekauft –“ sie scheuerte mit strahlendem Gesicht weiter. „Willst ihm mal sehen?“

Sie stellte den Besen in die Ecke und drängte mich in ihr kleines Zimmer, wo sie von der Garderobe einen winzigen Käfig nahn: und mir hinhielt.

„Da is er ein! Js er nich nüdlich?“

Ein kleiner graugelber Kanarienvogel hüpfte in dem Käfig hin und her und sagte fortwährend Piep. Er sah struppig aus und hatte überhaupt etwas Fremdartiges an sich.

„Einen Swanz hat er nich!“ sagte Marenz entschuldigend. „Alle Vögelns brauchen ja auch keinen Swanz, und er kann da nix for, daß er sich den Swanz mal abgestoßen hat!“

„Singt er denn schön?“

„Singen?“ Marenz wurde rot. „Nu ja – denn und wenn sagt er Piep! O, was klingt das einmal süß! Alle Vögelns können ja auch nich singen, und wenn er singen könnte, hätt Sneider Lehmstuhl ihm auch nich fliegen lassen wollen. Der hat nämlich ein Vogelheck, und as ich da neulich Herr Olten sein Rock hinbringen that, sagt er gerade, er wollt diesen Kanalljenvogel fliegen lassen! Nu bei die Kälte und in Februarmonat! Er sagt, er hätt genug Weibchens – die fräßen so viel! Du lieber Gott, was kann so’n Vogel dafor, daß er ein Weibchen is und hungerig is! Herr Lehmstuhl, sag ich, schenken Sie mich den Vogel! Abers er sagt, verschenken thät er ihm nich – er hätt schon so viel Futter gekriegt! Nu, weil ich es war, hat er ihn mich billig gelassen, forn halben Bankthaler mit Bauer wo zwei Stöcke ein sind!“

„Aber das Bauer ist schrecklich klein!“ bemerkte ich und Marenz sah sehr nachdenklich aus.

„Wenn ich man bloß Geld hätt for’n neues Vogelbauer! Abers wenn ich nu in Maimonat mein Lohn krieg, denn muß ich den beinah allens zun Schuster bringen, wo ich so viel Toffeln brauche. Fünf Bankthalers krieg ich denn; abers weg geht es allens wieder!“ – Sie hatte den Käfig mit dem piependen Weibchen wieder fortgestellt und besah sich noch einmal die rosa Kattunjacke.

„Rosa Kattun!“ sagte sie zärtlich und dann fuhr sie liebkosend mit den Fingern über das Kleidungsstück.

„Sowas hab ich in meinen ganzen Leben nich gehab un wer mich das ins Armenhaus gesagt hätt, daß ich noch mal so’n Jack kriegen sollt, dem hätt ich ausgclach! Abers –“ sie schob die Jacke von sich und sah nach dem Vogelbauer. „Sie is zu fein for mir! Viel zu fein! Dein Mutter hat gesagt, ich durft ihr umtauschen – dürft’ ich da woll das Geld for kriegen?“

„Das Geld? Was willst Du mit dem Gelde anfangen?“ fragte ich, nicht gerade angenehm berührt.

Marenz war blaß geworden und man merkte, daß sie einen Kampf kämpfte, aber sie bezwang ihre zitternde Stimme.

„Ich mein, daß ich den kleinen Kanalljenvogel ein Bauer geben muß, wo er sich in umdrehen kann. Er is ja bloß ein Weibchen – abers Weibchens können auch fühlen! – Vielleich, daß er noch’n Swanz krieg, wenn er in ein großes Bauer springen kann! Meinst nich auch? Und’n Swanz is doch mehr wert wie’n Jack, nich?“

Glücklicherweise wußte ich, daß bei uns auf dem Boden ein altes Vogelbauer stand – das versprach ich an Marenz und sie schrie darauf so laut vor Freude, daß Frau Olten unten aufwachte und mit lautem Schelten die Bodentreppe erklomm. Ich versteckte mich hinter einem Balken und konnte später unbemerkt entkommen.

Marenz-bekam auch das Vogelbauer, obgleich mir bei dieser Gelegenheit bedeutet wurde, daß selbst die Sachen der Rumpelkammer nicht von mir verschenkt zu werden brauchten; aber das lustige Gesicht von Marenz stimmte selbst die Erwachsenen weich und das Weibchen ohne Schwanz wurde sogar in einer Gesellschaft besprochen.

Nun kam der März und mit ihm hin und wieder ein Frühjahrslüftchen. Die Sonne begann ganz kräftig zu scheinen und in den alten Kirchhofslinden saßen die Stare und schwatzten sehr lange und lustige Geschichten. Marenz kam an einem dieser Sonnentage zu uns, um sich bei meiner Mutter für die rosa Jacke zu bedanken. Wir Kinder saßen gerade auf der Treppe, die, ganz in der Nähe unseres Hauses, zum Kirchhof hinauf führte, und wir ließen uns von der warmen Sonne mit dem angenehmen Gefühl bescheinen, es werde nun Sommer. Zu gleicher Zeit hatten wir noch Muße genug, Herrn Dorning zu beobachten, der vor unserer Hausthür stand und sich ein paar dicke wollene Handschuhe anzog.

Er hatte etwas mit unserem Vater zu besprechen gehabt; nun blinzelte er zu uns herüber und rief einige Scherzworte, die wir natürlich beantworteten. Plötzlich schwieg er still und blickte zu Marenz hin, die von der Stadtscitc herangegangen kam. Sie hatte entschieden auch gedacht, es sei Sommer – denn sie trug nur den braunen Rock mit der rosa Kattunjacke, und der helle Sonnenschein stand ihr sehr gut.

Ihre Haare glänzten goldig, ihre Augen blitzten, und die ganze zierliche Gestalt hatte selbst für unsere Kinderaugen etwas Anziehendes.

Jürgen und ich standen auf und gingen ihr entgegen.

„Du siehst gar nicht aus wie die braune Marenz!“ bemerkte mein Bruder. „Nun sollst Du die rosa Marenz heißen!“

Sie sah ihn freundlich an.

„Laß mir man die braune Marenz bleiben! In mein braunen Kleid bin ich so lustig, wo ich nu den süßen Vogel hab und das feine Bauer!“

Herr Dorning hatte starr auf Marenz geblickt; jetzt kam er hastig auf sie zu.

„Was bist Du for ein?“ fragte er im befehlenden Tone des reichen Mannes, Marenz aber antwortete nicht und sah verlegen zur Seite.

„Kennst Du Marenz nicht mehr, Herr Dorning?“ fragte Jürgen. „Sie hat doch Deine achthundert Speziesthaler gefunden und Dir alles ehrlich wiedergebracht. Du schenktest ihr einen halben Bankthaler; weißt Du das nicht mehr, Herr Dorning?“

Der Hofbesitzer schien ein schlechtes Gedächtnis zu haben. Er Wurde nur etwas röter als er schon war, und murmelte einige verdrießliche Worte vor sich hin. Dann aber griff er erst in die eine, darauf in die andere Westentasche, holte ein Geldstück hervor, besah es, seufzte, steckte es wieder weg und behielt die Finger dann halb unschlüssig in der kleinen Tasche.

Marenz hatte seine Bewegungen nicht bemerkt. Sie hatte die Augen gar nicht aufgeschlagen und zupfte an ihrer weißen Schürze. „Ich bedank mir auch noch vielmals for das schöne Geschenk!“ stotterte sie. „So viel Geld – ich hab mir da gräsig über gefreut, wenn ich mir damals auch nicht bedankte. Abers –“ sie stockte und Herr Dorning zog das Geldstück wieder aus der Westentasche.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_626.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)