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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Wo soll ich das alt Kram hinbringen?“ fragte Marenz ungeduldig, und ich fuhr aus meinen Gedanken auf.

„Bringe das Geld, wenn Du es wirklich nicht behalten willst, an Großvater. Der wird wohl davon Bescheid wissen!“

„Wo soll ich das hinbringen?“ Marenz ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen. „Zun Herrn Jostizrat? Mit den soll ich snacken? Marenz, ausn Armenhause? Nee, mein Beste!“

„Aber Marenz, Großvater thut Dir nichts!“

„Das kannst leicht sagen! Dich thut er woll nix, abers mir, mir steckt er ins Loch, wenn ich mit einmal bei ihm ankomm! Oha – wenn ich man bloß das alt Klöterkram inn Graben gelassen hätt!“ Sie seufzte tief auf und ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

„Ich glaube nicht, daß Du bestraft werden wirst!“ meinte ich endlich und Marenz schüttelte den Kopf.

„Das kann man allens nich wissen! Ins Armenhaus sagten sie auch immer: man nix mit die Pollerzei und sowas zu thun haben! Da kann man grasig bei anbacken, und kommst in Loch und weiß nich, wie man reingekommen is!“

Da aber kam mein Bruder Heinrich des Weges. Der war viel verständiger als ich, und als er erfahren hatte, um was es sich handelte, versicherte er, daß Marenz nicht ins Gefängnis käme, wenn sie das Geld gleich abliefere. Wenn sie aber den Beutel länger behielte, dann könnte sie wohl bestraft werden.

„Länger behalten? Ganzen gewiß nich!“ Marenz schüttelte sich. „Kein Wink Slaf in mein Augcns und denn hat mich das Ding auch noch gedrück – ich kann nich begreifen, wie die reichen Leutens slafen mögen!“

„Sei nur nicht ängstlich, Marenz!“ tröstete Heinrich sie.

„Geh heute nachmittag zu Großvater und bringe das Geld mit! Um fünf Uhr ist er im Kontor und vielleicht ist Herr Dorning auch da. Weil heute nämlich Donnerstag ist und die Herren in die Stadt kommen. Großvater thut Dir nichts – ich werde schon mit ihm sprechen!“

Marenz stöhnte. „Was’n Unglück! Was hab ich auch for’n Mallöhr! Is es denn ganzen gewiß, daß ich nich in Prisong komme?“

„Heute noch nicht!“ versicherte Heinrich. „Aber wenn Du bis morgen wartest –“

„Gott soll mir bewahren! Was war es gut, mein Heine, daß ich Dir getroffen hab! Was bist Du einmal klug! Na, denn will ich den Beutel heut hinfahren; abers Du sollst dabei sein, mein Heine, und ein gut Wort for mir einlegen!“

Heinrich versprach ihr seine Gegenwart mit sehr viel Würde, und um fünf Uhr nachmittags standen wir zwei vor der Thür des großelterlichen Hauses, denn auch ich hielt es für angemessen, dieses große Ereignis mit meiner Gegenwart zu verschönen.

Langsam kam Marenz mit ihrem Handwägelchen vor die Thür gefahren, und dann schleppten Heinrich und sie den schweren Beutel auf den erleuchteten Hausflur, wo er hingesetzt wurde.

„Nu Adjüs!“ murmelte Marenz, deren Gesicht blaß vor Angst war; Heinrich hielt sie aber am Rock fest.

„Nun man herein ins Kontor!“ rief er, und ehe Marenz sich viel wehren konnte, stand sie schon in der kleinen Schreibstube, in der Großvater saß. Er war nicht allein. Herr Dorning saß neben ihm und beide Herren sahen erstaunt auf, wie sich plötzlich drei Menschen unangemeldet zu ihnen hineindrängten. Einer besondern Erklärung bedurfte es übrigens nicht. Mühsam hatte Heinrich den schweren Beutel hinter sich hergezogen und im Kontor auf die Erde gestellt. Beim Klang des Silbers fuhr Herr Dorning in die Höhe und kniete bald vor seinem Eigentum. Er prüfte die Siegel, mit dem der Beutel geschlossen war, fühlte die schmutzige und feuchte Leinwand an und nickte äußerst zufrieden.

„Kuck mal an! Das is ja mein Geld! Das is nett!“

Marenz lehnte kreideweiß an der Thür und ihre Kniee schlotterten so, daß sie sich an mir festhielt. Die dunkle Schreibstube mit ihren Aktenbündeln mußte einen furchtbaren Eindruck auf sie machen. Ihr versagten denn auch die Worte und wir mußten erzählen, wie alles gekommen war. Daß wir eine sehr deutliche Darstellung der Thatsachen gaben, kann ich mir kaum denken; aber unser Großvater verstand uns doch. Er war auch der einzige, den die Geschichte interessierte; Herr Dorning hatte seinen Beutel geöffnet und zählte die Speziesthaler. Ihm schien es einerlei zu sein, wo sie gewesen waren.

Als Großvater alles begriffen hatte, nickte er Marenz freundlich zu. „Das hast Du gut gemacht! Du bist ein braves Mädchen!“

Die also Belobte sah sehr überrascht aus; aber das Zittern ihres Körpers ließ nach und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Nun wandte Großvater sich zu Herrn Dorning, der noch immer an seinen Thalern zählte, und sagte ihm halblaut einige Worte.

Der Hofbesitzer fuhr etwas in die Höhe und faltete die Stirn.

„Nu ja, gewiß, gewiß, Herr Justizrat!“

Er grub mit seinen dicken Fingern erst in der linken, dann in der rechten Westentasche, holte endlich ein Geldstück heraus und überreichte es Marenz.

„Hier, mein Deern!“ sagte er mit einer gewissen eindrucksvollen Feierlichkeit. „Ueb immer Treu und Redlichkeit bis an Dein kühles Grab! Da hast auch ein Belohnung!“

Stumm und ergriffen drängten wir uns mit der Beschenkten wieder aus dem Kontor, und als wir auf dem Hausflur standen, schluchzte Marenz laut auf.

„Aber Marenz!“ riefen wir, „Du bist ja gut davongekommen, weshalb weinst Du nur?“

Sie kauerte sich auf die Treppe und ihr ganzer Körper bebte. Endlich fand sie wieder Worte.

„Nee doch! wie einmal schön! Was war es rührend und was war Herr Jostizrat süß! O, was’n Mann! Und hat kein einzig Mal von Loch gesprochen, wo ich doch so Angst vor hatte! Der Andere abers –“ sie schluchzte wieder etwas – „daß der mich auch gleich was von mein Grab sagen mußte! Gott o Gott! Kommp man da eher ein, wenn man Geld findet?“

„Sieh doch nach, was er Dir geschenkt hat!“ rief Heinrich ungeduldig und Marenz öffnete zögernd ihre bis dahin krampfhaft verschlossene Hand. Mein Bruder griff hastig nach dem Geldstückn das darin lag, und legte es dann langsam wieder an seinen Platz.

„Ein halber Bankthaler[1]!“ sagte er mit dem Ausdruck größter Enttäuschung. Darauf drehte er sich kurz um und verließ das Haus.

Marenz sah ihm erstaunt nach und trocknete allmählich ihre Thränen.

„Was is doch mit Heine los? Is er böse, weil daß ich weinte? Da kann ich doch nix vor, wenn die Leutens so gut gegen mir sind, wo ich das doch nich verdiene! Wo ich doch in Armenhaus groß geworden bin und es mich ümmer stecht gehen muß, wie mein Ohlsch, die Oltcnsch, sagt. – O – was sah er einmal geruhig und gesund aus!“

„Wer?“ fragte ich.

„Nu, der Mann mit all die Thalers! Mein Gott, wo kann man so gesund aussehen und auch noch rote Backens haben, wenn er jedwede Nach, die Gott giebt, auf seine Thalers passen muß! – Sonst abers ein netten Mann! Gieb mich orrentlich ein Geschenk!“

Sie besah sich den halben Thaler von allen Seiten und wurde immer heiterer.

„So viel Geld auf einmal! Da will ich mich abers was Feines for kaufen zum Andenken an den netten Mann. Bloß, daß er das mit das kühle Grab sagte, war ein büschen wehleidig! Ich mag noch nich sterben!“

„Nun kannst Du Dir ein Schultertuch kaufen, Marenz!“ meinte ich. Denn über den Wert des Geldes hatte ich bis jetzt nur unbestimmte Ahnungen.

Diese schüttelte den Kopf. „Ich glaub, das krieg ich nich dafor! In Februarmonat kann man sich auch nix Warmes mehr kaufen – da singen die Lerchens mannigmal schon! Nee – ich denk mich was Feines aus!“

Allmählich ging Marenz wieder nach Hause. Sie war äußerst vergnügt geworden und sagte noch öfters, daß sie nicht gedacht habe, Großvater könne so süß sein. Auf der dunklen Straße hörte ich sie dann noch singen.

Von den achthundert Speziesthalern, die Marenz Herrn Dorning wiedergebracht hatte, wurde in unserer Familie viel gesprochen. Was die Erwachsenen darüber sagten, erfuhr ich nicht recht; Heinrich aber drückte sich sehr verständlich aus. Er sagte, Herr Dorning habe sich ungemein schäbig benommen, und wenn er die achthundert Spezies gefunden hätte, dann würde er sie ihm einzeln an seinen dicken Kopf, und zwar immer an dieselbe Stelle, geworfen haben.

Jürgen erfand ein neues Spiel, das er „Herr Dorning“ nannte. Er versteckte einige Backpflaumen, die ihm geschenkt worden waren, und ich mußte sie suchen und ihm wieder bringen. Zur Belohnung

  1. etwa eine Reichsmark.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_624.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)