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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Immer hilfsbereit, ging Christian Struve darauf zu. „Fehlt der Demoiselle etwas?“ fragte er leise.

Er hatte trotz der Dämmerung an der Kleidung erkannt, daß das Mädchen nicht von niedrigem Stande war, obgleich es ein Tüchlein über den Kopf geknüpft trug in nicht ganz städtischer Weise.

„Ach nein,“ flüsterte eine süße Stimme in dem singenden Dialekt des Thüringer Waldes, „ich weine vor Freude. Der Herr muß nämlich wissen: ich bin mit der Musik groß gezogen worden wie die Amseln und Drosseln im Wald. So spielte mein Vater selig auch, wenn es Abend war, die Lehrjungen ausgedudelt und ausgefiedelt hatten, Mutterchen die Kühe mit den läutenden Glocken in den Stall gebracht hatte. Es war der Kantor Michael Bach im Waldamt Gehren, und das Stück, das der Sebastian spielt, ist eine Motette von ihm.“

„Demoiselle ist die Tochter von Michael Bach, unserem berühmtesten Kantor?“ fragte Struve überrascht.

Sie nickte. Dann aber sagte sie fast feierlich: „Der Sebastian da drinnen ist mehr. Hört Er, wie die Antwort: ‚Sei willkommen, Du edler Gast,‘ sich aufbaut, immer wieder wie aus unerschöpflicher Quelle in veränderter Gestalt aufsteigt? Ach, Vater, wenn Du das erlebt hättest!“ Und hingerissen, selbstvergessen setzte sie laut wieder ein:

„Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an!“

Die Musik brach ab; rasche Schritte stürmten an das Fenster. Es wurde aufgeschoben – der mit echt deutschen Ecken und Kanten versehene Kopf des jungen Organisten fuhr heraus.

Die Sängerin war geräuschlos davon geflattert.

Weit bog sich Bach vor. Seine lebhaften, aber kurzsichtigen Augen, über denen starke Brauen sich wölbten, hefteten sich auf den weitergehenden Sekretarius.

Dann schob er brummend das Fenster wieder zu. Der stattliche Mann konnte doch nicht so süß gesungen haben! Und wer verstand hier so richtig zu pausieren?

„Ei, ei!“ rief eine krächzende Stimme hinter Christian. Es war der Justizienrat, der Vater des heirathsfähigen Christelchen, früher zärtlicher Freund, jetzt grätiger Gegner. „Auf welchen Wegen wandelt der Herr Sekretarius?“

„Was will der Herr Justizienrat damit sagen?“ fragte Christian scharf.

„Hä! hä!“ lachte der andere auf seinem einzigen Zahn. Dann rief er laut: „Nichts für ungut, Herr Sekretarius, daß ich das Nachtschwälbchen verscheuchte, mit dem Er unter dem Rosenbusch sponsierte. Ihre hellen Strümpfchen rannten durch die Dunkelheit davon wie Bachstelzenbeinchen.“

„Herr Justizienrat!“ rief Struve entrüstet.

„Hä! hä!“ der Herr Kollege stampfte davon.

Magdalenens Fenster klirrte zu.

In äußerster Empörung stand Struve auf dem dunklen stillen Pfarrhof. Der Justizienrat war verschwunden; er konnte doch auch nicht auf der Straße einen Krakehl anfangen! Nun, morgen in der Session wollte er den heimtückischen Mann für seine Stichelreden bezahlen!

Aber auch Magdalene stellte seine Geduld auf harte Probe. Wie konnte sie jedem giftigen Wort Gehör geben?

Mit dem Gassieren: dem sittig am Fenster vorüber Wandeln, sich mit den Augen Festhalten, da die Hände es noch nicht dürfen, auf respektvoll werbenden Gruß ein schüchtern verheißendes Gegengrüßen in Empfang nehmen – mit all diesem süßen Zeitvertreib war es vorüber.

Finster kehrte Christian zu seinen Akten zurück.

(Fortsetzung folgt.)


Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln

Von Ernst von Hesse-Wartegg.

An den „Sehenswürdigkeiten“ chinesischer Städte, an Tempeln, Pagoden und Ehrenpforten, hat sich der Europäer gewöhnlich bald satt gesehen, denn der großen Mehrzahl nach sind sie von einem ewigen Einerlei. Kam ich im „Reiche der Mitte“ in eine mir noch unbekannte Stadt, so bangte mir gewöhnlich schon vor dem Confuciustempel oder der Pagode, die ich besichtigen sollte. Was wirklich interessant wäre wie die Kaiserpaläste und Ahnentempel in Peking, ist nicht zugänglich, und wo diese Kaiserpaläste und Tempel wirklich zugänglich wären wie in Nanking, sind nur noch traurige Ruinen davon übrig.

Weit interessanter als diese Bauten in den chinesischen Städten ist das Leben und Treiben ihrer Einwohner, darunter vor allem die chinesische Industrie. Nach dem allgemeinen Ueberblick, den der Aufsatz „Ein Tag in China“ in Nr. 47 des vor. Jahrg. der „Gartenlaube“ den Lesern geboten, darf ich bei ihnen für eine Schilderung meiner im vorigen Jahre persönlich gesammelten Eindrücke auf ebensoviel Verständnis wie Interesse rechnen. Kam ich in eine chinesische Stadt, so ließ ich mich von meinem Dolmetscher gewöhnlich zuerst in die Geschäftsstraßen führen, wenn die engen, dunklen, feuchten Gäßchen der meisten Städte den Namen „Geschäftsstraßen“ überhaupt verdienen würden. Allerdings war ich selbst dort viel mehr der Gegenstand der Neugierde, als es die Chinesen für mich waren. So lange ich mich mitten durch das rege Gewühl und Gedränge fortbewegte, beschränkte sich mein neugieriges Gefolge gewöhnlich nur auf etwa ein Dutzend Personen; blieb ich irgendwo stehen, so verdoppelte sich der mich umdrängende Menschenhaufen, und begann ich gar durch meinen Dolmetscher zu fragen oder zu feilschen, dann schrieen die bezopften Straßenjungen vor lauter Verwunderung und lockten noch die Menschen aus den Seitengäßchen herbei. In der ersten Zeit war mir diese schmutzige, zerlumpte Gesellschaft in hohem Grade lästig, aber später gewöhnte ich mich daran. Bei solchen Gelegenheiten kam mir immer der erste Chinese in Sinn, den ich als kleiner Junge in Europa gesehen habe. War ich ihm dort etwa nicht ebenfalls nachgelaufen? Wurde er nicht durch böse Gassenjungen geneckt und beim Zopfe gezupft und ausgelacht? Jetzt zahlten seine Landsleute mir diese Neugierde zurück.

In Canton kümmern sie sich um die Europäer wenig mehr. Canton, diese größte Stadt des „Reiches der Mitte“, ist an Europäer schon seit dreihundert Jahren gewöhnt, man sieht ihrer dort viel mehr als in anderen Städten Chinas, und das Gefolge beschränkt sich gewöhnlich nur auf ein halbes Dutzend Menschen, die man sich hier auch leichter vom Leibe halten kann. Dazu ist Canton das Paris, oder ich möchte lieber sagen, das New York von China, Peking ist sein Washington. Canton ist der Hauptsitz der chinesischen Industrie; Hunderttausende sind dort mit der Anfertigung von Waren beschäftigt, die auf zahllosen Dschunken und Kanalbooten, auf dem Rücken von Mauleseln oder Lastträgern durch das ganze Reich geführt werden; in Canton sind die geschicktesten Arbeiter, die reichsten Kaufleute, die schönsten Läden, und wohin ich auch kam, nach Ningpo und Hangtschou, nach Tschingkiang und Sutschou und Wuhu, Städte in Nord und Süd – in den Industrievierteln fand ich mit geringen Abweichungen doch nur den Abklatsch des industriellen Lebens von Canton. Es ist in dieser Hinsicht die Hauptstadt Chinas, alles andere Provinz.

Gerade wie es in vielen Städten Europas der Fall ist, so sind auch in den chinesischen Städten die einzelnen Industrien gewöhnlich in bestimmten Quartieren zu finden; hier eine Gasse, vielleicht ein bis zwei Kilometer lang, gefüllt mit Goldarbeiterläden, die sich dicht aneinander reihen, so daß ich oft gar nicht wußte, ob ein Schaukasten zu dem einen oder dem anderen Laden gehörte; bog ich um eine Straßenecke, so befand ich mich vielleicht im Viertel der Fächerfabrikanten, in der nächsten Straße in jenem der Möbeltischler etc.

Ein Haus gleicht dort dem andern: das untere Stockwerk wird ganz von dem Geschäft eingenommen, das von der einen Hauswand zur anderen offen steht, um das in den düsteren Gäßchen an und für sich spärliche Licht einzulassen; im oberen Stockwerke sind die Wohnungen, und vor jedem Hause baumeln die roten, gelben, goldenen ober schwarzen langen Schilder herab, mit gewöhnlich vergoldeten oder schwarzen Schriftzeichen; ein Wald von Schildern, der jeden Ausblick verhindert, das Sonnenlicht ausschließt und die Gäßchen selbst in ewige Dämmerung hüllt, während die Schilder darüber glitzern und glänzen. Man

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_586.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)