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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Genug!“ sagte Hella ruhig, als das Lied zu Ende war und Lili sich anschickte, auf Wildenbergs Bitte hin ein zweites zu singen. „Tante Lina will schlafen. Es ist besser, wir heben die Musik für ein andermal auf.“

„Meinetwegen musiziert nur ruhig weiter!“ ließ sich die freundliche alte Stimme vom Sofa her vernehmen „Ich bin’s gewohnt.“

„Nein!“ wiederholte Hella mit Bestimmtheit. „Es ist mir lieber, wenn Lili nicht weiter singt.“

Das Mädchen fügte sich mit derselben freundlichen Bereitwilligkeit, mit der es vorhin ans Klavier gegangen war, aber Wildenberg empfand eine leise Verstimmung, auf so unbegründete Weise um den erwarteten Genuß gebracht zu sein und da der Nachmittag mittlerweile schon vorgeschritten war, so empfahl er sich bald darauf.

*  *  *

Eine Woche verging, ohne daß sich die Einladung aus dem Schloß wiederholt hätte, und es schien, als sollte es vorläufig bei jener ersten sein Bewenden haben. Wildenberg hatte inzwischen auch an Pfarrhause seinen Besuch gemacht und war samt dem Oberinspektor zu einem Pastorenkränzchen gebeten worden, bei dem aber Anna Lewrenz allein ihres Amtes am Theetisch waltete und Lili unsichtbar blieb. Dann nahmen wirtschaftliche Interessen seine Zeit vollauf in Anspruch, so daß er keine Muße fand, der herzlichen Aufforderung des Pfarrers folgend, seinen Besuch zu wiederholen. Er hatte seine Pferde nachkommen lassen und ritt viel in Feld und Wald umher. Bei einem dieser Ritte war es, daß er Hella begegnete, die gleichfalls zu Pferde die Schneidemühle am Fluß besucht hatte. Sie wandte ruhig ihre Fuchsstute und ritt an seiner Seite weiter, ohne irgendwie merken zu lassen, ob sie sich freue, ihn zu sehen oder nicht. Sie schickte nur den Reitknecht heim und schlug vor, den Rückweg über das etwas abseits liegende Forsthaus anzutreten, wo sie den Förster zu sprechen wünsche. Seine Begleitung wurde also von vornherein als etwas Selbstverständliches angenommen.

Wildenberg beobachtete von der Seite ihren tadellosen Sitz, und sein Herz klopfte schneller beim Anblick der schlanken blonden Frau, mit der er so allein durch den stillen harzig duftenden Kiefernwald dahinritt. Sie gab sich ungezwungen, war liebenswürdig und heiter, wie er sie bisher noch nicht gesehen hatte, während sie auf mosigen Wegen, die den Hufschlag dämpften, dahinsprengten, aber in ihrer ganzen Art und Weise lag doch immer etwas, was ihn an die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen erinnerte, die sie respektiert zu haben wünschte. Endlich parierte sie ihr Pferd und zwang es, im Schritt neben dem seinigen zu gehen.

„Sie haben mir noch gar nicht von Ihrer Heimat gesprochen,“ sagte sie. „Wo leben Sie und wie? Nachdem ich Ihnen letzthin so offen meine Verhältnisse erzählt habe, darf ich wohl von Ihnen ein Gleiches erwarten, damit ich mir ein ungefähres Bild von Ihnen machen kann. Sie müssen das nicht als müßige Neugier auslegen. Hier auf dem Lande geht man nicht so gleichgültig an den Menschen vorüber wie in der Stadt.“

Ihm ging bei der Frage das Herz auf und er berichtete von dem alten traulichen Hause, dessen weinumrankte Fenster auf die Elbe hinaus sahen, von den dunkelgetäfelten Zimmern mit dem altmodischen Hausrat und den breiten grünen Kachelöfen. Er besaß eine hübsche anschauliche Art zu beschreiben, die das Kleinste mit einem Hauch von Poesie zu umgeben wußte. Hella meinte, die behaglichen Räume, denen der Geist des Besitzers seinen Stempel aufgedrückt hatte, deutlich vor sich zu sehen: an den Wänden in schwarzem Rahmen englische Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, in den Schränken Bücher, deren Zusammenstellung eine ausgesprochene Vorliebe für die Romantiker der alten Schule verriet, hochlehnige bequeme Armstühle, lauttickende schwarzwälder Uhren, dunkle Teppiche und durch alles hindurchgehend ein gewisser genialer Zug von Unordnung und ein leiser Duft von türkischem Tabak. Dann schilderte er den Garten, der, ein wenig verwildert, durchaus einer ordnenden Hand bedürfe, und ging endlich nicht ohne Humor auf seine verfehlten landwirtschaftlichen Versuche über, auf die Beziehungen zu den Nachbarn und seine Erfahrungen dabei.

Das Leben, wie er es beschrieb, war durchaus anders als das ihrige und gab zugleich von dem ganzen Menschen ein so klares und liebenswürdiges Bild, daß Hella völlig davon gefesselt wurde. So ritten sie an dem Forsthause vorüber, ohne daß eines von ihnen dessen gewahr geworden wäre.

„Demnach sind Sie die große Partie Ihrer Gegend?“ fragte sie mit gutmütigem Spott, als Wildenberg endlich lachend rief, daß er von sich nun nichts mehr zu erzählen wisse.

Sein Erstaunen war ganz ungekünstelt. „Ich habe wirklich noch nie darüber nachgedacht.“

„Und man hat Ihnen auch noch nie den Gedanken nahegelegt? Dann müssen die Mütter in Ihrer Gegend anders geartet sein als bei uns. Haben Sie auch noch nie daran gedacht, diesem Junggesellenheim, das Sie mir so anschaulich schilderten, eine Herrin zu geben?“

„O gewiß, das schon! Aber ich warte den richtigen Zeitpunkt ab.“

„Wie meinen Sie das?“

„Den Angenblick, in dem mein Herz ganz unzweideutig sprechen wird: diese oder keine!“

„Das wird schwer festzustellen sein. Die eine wird von den Eigenschaften, welche Sie hochschätzen, diese besitzen, die andere jene, und über dem Abwägen und Ueberlegen werden Ihnen Zweifel kommen, welche die rechte ist.“

„Sie leugnen also die Allgewalt der Liebe, die über jeden Zweifel hinwegträgt?“

„Ja.“

Er sah sie erstaunt an. „Ich mei ne, gerade die Frauen müßten vor allem daran glauben.“

„Ihnen gelten demnach ‚vor allem‘ die Frauen als Wesen, die nach Liebe schmachten müssen? Der Gedanke ist Ihnen wohl noch gar nicht gekommen, daß eine Frau auch ohne eine andere als die rein menschliche Liebe zum Nächsten durchs Leben gehen könne?“

„Ich gestatte mir, an dieser Thatsache zu zweifeln, die Neigung zum Mann ist dem Weibe als Naturtrieb ins Herz gelegt, und wenn es auch gewiß Frauen giebt, die diesen Trieb unterdrücken und dann ob des siegreich bestandenen Kampfes triumphieren, so werden doch auch sie im geheimen die Einsamkeit ihres Lebens oft genug beklagen und es bitter bereuen, den rechten Augenblick des Glücks ungenutzt versäumt zu haben. Die Liebe ist das eigentliche Reich der Frau und rächt sich an der, die sich selbst daraus verbannt.“

Sie lachte kühl und gelassen. „Vielleicht bin ich dann anders geartet als meine Mitschwestern – eine geistige Mißbildung, wenn Sie wollen, denn ich muß bekennen, daß es mich bisher nicht einmal einen Kampf gekostet hat, einsam zu bleiben. Ich schätze meine Freiheit viel zu sehr. Uebrigens werden wir uns über diesen Gegenstand wohl nie vereinigen.“ Mit diesen Worten setzte sie ihr Pferd in Galopp und schweigend erreichten sie den Gutshof.

Trotzdem dieser erste Spazierritt auf diese Weise mit einem Mißton geendigt hatte, trafen Wildenberg und Hella öfters zu Pferde zusammen, ob zufällig, ob von seiner Seite absichtlich, blieb dahingestellt. Jedenfalls duldete die Schloßherrin seine Begleitung und wartete sogar zuweilen auf ihn, wenn er sich verspätete. Er unterhielt sie angenehm, obgleich sie gewöhnlich anderer Ansicht war. Sie hatte bisher niemand gehabt, mit dem sie so sprechen konnte und der doch nie die Grenzen überschritt, die sie eingehalten wünschte. Ab und zu stellte sie daher nach diesen Spazierritten zu zweien noch die Aufforderung an ihn, den Abend im Schloß zu verbringen, Wildenberg hatte die Gewohnheit angenommen, den Damen bei solchen Gelegenheiten vorzulesen. Auch Lili war dann gewöhnlich dabei, und die Notwendigkeit, die Wahl der Bücher, die ihm überlassen blieb, mit Rücksicht auf die Zuhörerschaft eines jungen Mädchens zu treffen ließ seine Gedanken mehr als geboten war, bei ihr verweilen. Er liebte es, aufblickend, ihre sanften Augen auf sich gerichtet zu sehen und den Ausdruck naiven gespannten Anteils in ihnen zu lesen. Unwillkürlich nahm seine Stimme dann einen weicheren wärmeren Klang an, als lese er nur für sie allein. Wenn aber Hella ihn mit einer Frage unterbrach, die bewies, wie genau sie gefolgt war, und ihm Veranlassung zu lebhaftem Meinungsaustausch gab, so regte das seine Nerven prickelnd auf. Er wurde nicht müde, heimlich immer wieder die beiden Köpfe zu betrachten, die sich ihm gegenüber über die Handarbeit neigten, von denen jeder in seiner Art vollkommen schien, der blonde in seiner strengen klassischen Regelmäßigkeit, der dunkle in der lieblichen Jugendfrische und Kindlichkeit.

Wie die Zeit verging, trat der eigentliche Zweck seines Hierseins für ihn allmählich in den Hintergrund, und diese stillen Leseabende im Schloß wurden immer mehr der Mittelpunkt seines ganzen Denkens. Er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, wer der Magnet sei, der ihn festhalte. Fehlte Lili einmal, so war er unruhig und zerstreut und meinte, den Abend ohne sie nicht überstehen zu können; die Sehnsucht nach ihrem frohen Gesichtchen wurde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_562.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)