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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

er noch reich an Vogelleben, seine Felsen erklingen vom Gesang der Lerchen und Ammern und dem Gepiepse der verschiedenen Arten von Mauerläufern. Der halbstündige Weg auf das Tomlishorn ist ein Höhenboulevard durch Tunnel und Galerien, wie man ihn sich schöner nicht denken kann. Bald haftet der Blick an dem Turmkranz von Luzern, das wie eine silberne Krone in blauen Lufttiefen liegt, bald in einsamen Felsen- und Waldschluchten auf der Rückseite des Berges.

Da treffen wir das Hochzeitspärchen, das sich gründlich ausgesöhnt hat. Die junge Frau sitzt halbvergraben unter einer Last von goldgelben Felsenaurikeln, violetten Soldanellen und tiefdunklen Enzianen in einer Felsennische und der Gatte steckt ihr die schönsten der Blumen ins braune Haar.

Das kleine Plateau auf dem Tomlishorn ist herrlich geeignet, um einsam zu sinnen und zu träumen, denn es ist nie so von Gästen belebt wie der „Esel“. In der Oede zwischen Tomlishorn und Gnepfstein soll jener Pilatussee gelegen haben, den der Rat von Luzern am Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat abgraben lassen, um den Geist des Pilatus vom Berge zu vertreiben.

Wer feine Ohren hat, hört wohl ein Sagenklingen in der Abendluft, wenn er weiß, daß „Gnepfstein“ im Schweizerdeutsch das bedeutet, was „pierre branlante“ im Französischen: einen Opferaltar der alten Kelten, die zur Sonne beteten. Pilatus, der Verbannte, der in dem See hauste, ist niemand anders als der große Tagesstern, den das Christentum vom Stuhle der Gottheit gestürzt hat.

Noch beten die Berge jeden Abend und Morgen zur Sonne. – Eben jetzt. – Der Titlis ist zu einem Altar der Verklärung geworden. Seine reine Firnkuppe glüht, durch die beiden dunklen südlichen Pilatusgipfel eingerahmt, als müßten aus ihm jene Flammen hervorbrechen, die dem alten Propheten auf der Höhe des Tabor erschienen sind; über dem Brünig liegt Glanz und Gloria und vor den hochherrlichen Bergen des Berneroberlandes treten hundert kleine Gipfel heraus, die der helle Tag übersieht, sie stellen sich auf die Zehen, um der Sonne noch einen Gutenachtkuß abzuschmeicheln.

Nun geht sie zur Rüste; eine rotglühende, riesenhafte Scheibe, rollt sie über den langgestreckten Rücken des Jura, sie wird dunkelrot, jetzt berührt sie den Horizont – – – jetzt ist ihr letzter Streifen dahin.

Aber noch glühen die Berge. – Vom Eigenthal herauf klingt die Avemariaglocke und auf den nahen und fernen Alpmatten sieht man die Sennen mit gezogenem Käppchen vor die Hausthüre treten. Den hölzernen Milchtrichter setzen sie an den Mund und rufen den Alpsegen über Weiden und Vieh, eine feierliche Symphonie geht durch die Berge.

„Na, ein bißchen anders ist’s doch als in Hinterpommern,“ meint der blonde dicke Herr, der das Abendschauspiel unter stetem Schweißvergießen genießt. Seit einer Weile steht ein ganzes Grüppchen von Gästen auf dem Tomlishorn.

In der Abenddämmerung wandern wir nach dem Gasthofe zurück. Die Tiefe hat ihre Farben ausgelöscht, tausend und aber tausend winzige rote Lichtpunkte schimmern im weiten Land, Luzern aber mit seinen elektrischen Lichtern glänzt wie das Geschmeide einer Märchenprinzessin. Die Nacht ist auf die Berge gestiegen, die Mondsichel schwebt über die Gipfel, wie große Ruinen stehen die Berge da, ein gespenstisches Schweigen liegt über der Welt, eine Ruhe, tiefer als die eines schlafenden Dorfes, eine Ruhe, wie sie eintreten wird nach dem Weltuntergang.

Doch horch – Gesang! Am Oberhaupt hat sich unsere Polin aufgestellt, sie singt. Groß und fromm, schlicht wie im Kirchenstil erklingt ihr fremdes Lied und weckt das Echo am gegenüberliegenden Matthorn. Dem ersten Wiederhall, der Wort für Wort deutlich wiederholt, folgt ein zweiter so fein, als fielen die Töne aus weiter Ferne herab aus der Luft, als stiegen sie aus den Tiefen des Gesteins.

Die Abendmahlzeit ist lebhaft, man ist angeregt von den Eindrücken des Tages. Und kaum ist der letzte Gang vorüber, so werden die Takte eines Walzers angeschlagen. Das junge Volk will tanzen. Ein Paar nach dem andern zieht es in den Strudel – die Pariserinnen rümpfen die Näschen, es sind doch meistens Deutsche, die tanzen. Aber eine Rundtour müssen sie doch auch mitmachen. Und nachdem jede Nation eine Viertelstunde lang für sich getanzt hat, geschieht das Wunder: Deutsche, Franzosen, Engländer, Amerikaner tanzen gemischt. Und das Gigerl ist hin vor Vergnügen, daß es den Arm um die Taille einer Französin legen darf.

Wie sich die Pariserinnen nur so vergessen konnten, mit Deutschen zu tanzen! Darüber verwundern sie sich später selbst. Die Bergluft – ja, die Bergluft! Sie ist entschieden dem Chauvinismus ahhold. – – – –

Etliche der Damen und Herren sehen blaß aus in der Frühe; die ungewohnte Stunde, um die man sich erheben muß, wenn man den Sonnenaufgang sehen will, bekommt ihnen nicht. „Kirsch“ – „Cognac“ – „Rum“. Nur langsam erholen sich die Lebensgeister.

Draußen flüstert der kühle Nachtwind im Gefelse, es dämmert schon und im fernen Osten liegt ein roter Streif. Wie Schattengestalten nehmen sich die Gäste aus, die auf den „Esel“ steigen. Fahlgrüne oder gelbe Töne gehen über das Gestein, in der Tiefe kriechen einzelne Nebel, der ferne rote Streifen, der in der Richtung des Bodensees liegt, wandert gegen Osten und wird breiter und breiter.

Erwartungsvoll, etwas fröstelnd steht das Häufchen der Sonnenaufgangsleute, in Mäntel und Decken gehüllt, den Rockkragen aufgestellt oder die Kapuze über die Ohren gezogen.

Die blaßgewordene Mondsichel sinkt hinter die Zacken der Diablerets, eine weite Helle geht über den östlichen Himmel – der Herold der Sonne ist da, der wie Karfunkel leuchtende Morgenstern. Und jetzt röten sich die Firne, es geht ein Zittern und Wogen durch die Berge. Sie wachsen auf im jungen Licht. Die Spitze des Finsteraarhorns hat Feuer gefangen, sie flammt über dem Hochland – und jetzt hat die „Jungfrau“ ihr Rosendiadem aufgesetzt und die Blümlisalp. Gipfel um Gipfel entzündet sich, wie eitel Rosen liegt’s über dem Steinmeer der Berge und auf dem Spiegel des Vierwaldstättersees. Zwei einsame rote Wölklein spiegeln sich in seinen Tiefen.

Und nun rollt die Sonne hinter dem Säntis empor, mit warmem Licht übergießt sie das Pilatusgestein – bald füllt sich das weite Land mit der goldenen Flut, bald leuchtet sie den Mähdern, die in der Tiefe schon bei der Arbeit sind. In alle Fernen ist die Welt hell, majestätisch wandelt der junge Tag, die Schicksale ausstreuend über Thal und Gebirge.

Die Polin gähnt – die Gäste ziehen sich zurück – sie wollen noch ein paar Stunden schlafen – es schlummert sich gut nach Sonnenaufgang. Wir aber steigen hinab auf den Blumenteppich der Mattalp und pflücken uns einen Alpenrosenstrauß – zum Andenken, denn vom Pilatus heißt es scheiden.

Auf der Aemsigenalp, wo die großen Wettertannen stehen, ein Prachtblick auf das Obwaldnerländchen sich erschließt, holt uns der Frühzug ein. Seine Gäste, darunter das Hochzeitspärchen, das Alpengigerl und die Pariserinnen, sind alle beladen mit leuchtenden Blumen des Gebirgs.

Ueber die Felsen hinab rollt das niedliche Fahrzeug, der See schwebt uns entgegen mit seinem Dampfboot. Wir wollen dem Pilatus Abschied winken. Aber schon schwimmen die Wolken um seine Stirn, er brütet wieder über den alten Sagen.

Wenn heute Gäste kommen, so wird er sie vielleicht enttäuschen – vielleicht aber erbarmt er sich ihrer, wie er sich gestern unserer erbarmt hat, und zeigt ihnen eine strahlende Welt voll Licht und Poesie.


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Unser Drückeberger.

Aus meinem Kriegstagebuch vom Jahre 1870.
Von Fred Vincent.

Die Compagnie ist nachgesehen, Herr Lieutenant, die Compagnie steht vollzählig und feldmarschmäßig zum Ausrücken bereit!“

Es war ein prachtvoller Sonntagnachmittag, der Nachmittag unseres neunten Mobilmachungstages, des 24. Juli 1870, und es mochte fünf Uhr sein, als mir unser Feldwebel Schmidt diese Meldung machte. Auf dem Hofe der Prinz Karl-Kaserne der Festung Mainz standen die zwölf Compagnien unseres Regimentes in Compagnie-Kolonnen zum letzten Appell in der Garnison und erwarteten den Befehl zum Ausrücken nach der französischen Grenze. Wohl waren vom XI. Armeecorps, dem wir bei der Mobilmachung zugeteilt worden, Dispositionen und Marschtableau eingetroffen, allein das VIII. Corps, welchem wir bis jetzt angehört, hatte das

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