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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Ich werde es rasch abmachen, das ist das Beste. Mama ist heute abend nicht daheim; ich schreibe ein Billet an sie, packe ein paar Sachen ein und bin zur Zeit wieder hier. – Es ist das Richtigste, sie erfahren gar nicht, daß Du hier gewesen bist, Ditscha.“

„Hattest Du eigentlich etwas vor, heute abend, Joachim?“ fragt sie.

Er sieht sie groß an. „Ja,“ sagt er dann kurz, „ich glaube – ich wollte mich verloben – weiter nichts.“

„Mein Gott!“ stottert sie.

„Ich war bei ihnen eingeladen heute, zum erstenmal.“

„Bei den Perths?“

„Ja!“ –

„Ums Himmelswillen – Du willst doch nicht hin, Joachim?“

Er antwortet nicht, er sucht nach seinem Ueberzieher und Stock. „Ein Feigling bin ich nicht, Ditscha,“ sagt er dann, „und sehen will ich sie noch einmal. Leb’ wohl indes!“

Ditscha ist es, als müsse sie ihn mit Gewalt festhalten, aber sie steht da inmitten des Zimmers, die Arme schlaff herunter hängend, und betrachtet die Thür, hinter der er verschwunden ist, als könne sie von dieser einen Rat ablesen. Jetzt erst, wo sie allein ist, überkommt sie das Schreckliche dieser Begegnung, und alle alten Erinnerungen sind aufgewühlt.

Ein Kellner erscheint und bringt ein kleines Souper – der Herr habe es bestellt. Sie flüchtet ins Nebenzimmer, setzt sich auf das Bett und windet die Hände ineinander. Wenn er doch erst zurück wäre, wenn er erst neben ihr säße! Als das Geklapper der Teller und Tassen verstummt ist, kehrt sie zurück, packt ihre Sachen ein und wartet; an Essen denkt sie nicht. Endlich Schritte draußen, ein kurzes Klopfen und dann tritt er ein.

Sie starrt ihn befremdet an, er sieht so schrecklich verändert aus, wie verfallen; sein Gesicht erinnert sie an das Kindergesicht, das er in schweren Krankheitsfällen hatte. So verständnislos die Augen, die sich in die ihren förmlich hineinbohren, wie angstvoll fragend, als habe er seine Schwester noch nie gesehen.

„Du mußt allein reisen,“ sagt er, und ehe sie noch reden kann, fährt er fort, „ich komme morgen oder übermorgen nach – ich habe hier noch – ich kann heute nicht gleich fort – –“

Er setzt sich im Ueberzieher an den Tisch und nimmt die Serviette vom Teller. „Willst Du nicht etwas essen, Ditscha?“

„Nein! Sage mir, weshalb Du hier bleibst.“

„Aber wirklich – um nichts! Um Mama noch ’mal zu sehen.“

„Du belügst mich.“

„Ich habe wirklich nur noch mit Mama zu reden, habe außerdem Kopfweh, die Nachtfahrt ist mir unangenehm.“

Sie setzt sich ins Sofa. „Soll ich warten, bis Du mitkommst?“

„Nein!“ antwortet er kurz. Er gießt ihr Wein ein und reicht ihr die Schüsseln. Dabei immer wieder dieser eigentümliche Blick. Auf einmal setzt er sich neben sie auf das Sofa, faßt sie um und sagt: „Ach, Ditscha, Ditscha –“

„Was denn, mein alter Junge?“

„Nichts!“

„Hast Du Abschied genommen?“

„Ja, ja, frage mich nicht.“

„Aber weh thut es, sehr weh!“ flüstert sie und streichelt sein Haar.

„Weißt Du das auch?“ fragt er laut.

Sie sieht befremdet auf ihn hinunter. „Ja, Achim, ich weiß es auch! Aber man lernt ruhiger werden, Herz.“

„Recht rasch manchmal,“ sagt er halblaut.

„Ja, Ihr Männer!“ bemerkt sie ebenso, sich zum Lächeln zwingend.

„Du warst doch immer sehr gut zu mir, Ditscha,“ beginnt er dann ganz unvermittelt, „ich muß es Dir heut’ abend noch einmal wiederholen; Du bist nun wieder hergekommen um meinetwegen, hast mich vor Unglück bewahrt, und doch – –“

„Siehst Du das letztere schon ein?“ fragt sie aufatmend.

Er zögert ein Weilchen. „Man muß wohl!“ murmelt er. „Aber nun komm, es ist Zeit!“

„Welch ein Unsinn, daß Du mich zu dieser nächtlichen Reise zwingst,“ schilt sie.

„Ach, es ist viel besser so, Ditscha, ich möchte nicht, daß Mama von der Geschichte erfährt.“

Er hüllt sie in den Reisemantel und führt sie auf den Bahnhof zurück, so sorgsam, wie er sie hergeführt. Und jetzt redet er von allem möglichen, von Sachen, die sie gar nicht interessieren. Morgen sei Rennen, er wolle vielleicht auch hinaus; jedenfalls bis spätestens übermorgen abend werde er auf Beetzen sein. – Grüß Onkel und die Alte! – Wie fandest Du eigentlich die Vorstellung heute abend? Famos – nicht wahr? Wir wollen doch im Winter öfter einmal ein paar Wochen in eine Großstadt gehen, Ditscha.“

Sie schreitet neben ihm in der Halle auf und ab, deren Gasflammen im feuchten Regenwind zittern; es ist empfindlich kühl und ihr ist zum Weinen schwer zu Mut. Endlich kommt der Zug. Ditscha steigt ein und beugt sich aus dem Fenster, die Hand erfassend, die sich ihr entgegenstreckt.

„Joachim, komm bald!“ sagt sie mit schwankender Stimme.

„Ich hoffe so, Ditscha!“ Er sieht sie wieder an, so groß, so fragend, dann fliegt sein altes, liebenswürdiges Lächeln über das blasse Gesicht. „Danke Dir, Ditscha, tausend Dank!“

Er geht noch neben dem Zuge hin, seine Hand in der ihren, bis ein Beamter ihm zuruft, er solle zurücktreten. Dann erst bleibt er stehen, den Hut in der Hand, und sieht ihr nach, auch jetzt noch lächelnd. Sobald der Zug nicht mehr zu sehen ist, setzt er den Hut mit einer hastigen Gebärde auf, das Lächeln ist verschwunden und er geht mit raschen Schritten vom Bahnhof fort durch die Straßen, ziellos, planlos. – Die letzten Stunden sind ihm vergangen, als ob er wüst und schwer geträumt habe, und als komme nun allmählich das Bewußtsein wieder, aber noch unter dem Banne des Traumes.

Wie war es doch?

Ditscha ist hier gewesen, hat in der Oper Ellen gesehen und hat behauptet, die Mutter zu kennen, eine frühere Untergebene der Kronens, die von Onkel Jochen mit Schlägen aus dem Hause gejagt wurde. Ehrlich gestanden, er hat an Ditschas Behauptung gezweifelt, so bestimmt sie auch gemacht wurde, und so unbedingt er ihr sonst glaubt … Da hat er sich denn auf eine Stunde von ihr beurlaubt und ist zu Perths gegangen; er will Gewißheit haben.

Was da geschehen, ist ihm nicht voll gegenwärtig, und doch so klar, so unbarmherzig klar.

Offenbar war die Familie noch nicht lange aus dem Theater zurück. Er hatte ein Weilchen allein im Salon zu warten, der mit einigen rotverschleierten Lampen erleuchtet ist und dessen Hauptdekoration das riesige seidene Sternenbanner ausmacht, das über einem Oelbild arrangiert wurde, einer Ansicht von New York mit der Statue der Freiheit. Sonst ist es die herkömmliche Einrichtung eines amerikanischen Salons in Dresden, mit geliehenen Möbeln, Vorhängen und Teppichen, wenig geschmackvoll und keine Spur von Individualität, wenn man nicht die üppigen Blumenarrangements dafür nehmen will, die Miß Ellen so liebt.

Sie tritt nach einigen Minuten ein, noch in der weißen Seidenrobe, die sie im Theater getragen hat, und gleicht in dem Purpurlicht einer lebenden Marmorstatue. Sie kommt ihm etwas befangener entgegen als sonst, bietet ihm aber mit aller Herzlichkeit die Hand.

„Wie nett von Ihnen,“ sagt sie freundlich, „daß Sie trotz der Ritterpflichten gegen Ihre Schwester noch zu uns kommen.“

„Sie wissen, daß die Dame – meine Schwester ist?“ fragt er mit einem Anflug von Erstaunen und Mißtrauen.

„Ich vermutete es – Sie erzählten mir ja oft von ihr. Wollen Sie nicht Platz nehmen?“

Er setzt sich ihr gegenüber. „Ich danke, Miß Ellen, ich bin nur gekommen, um Ihnen Lebewohl! zu sagen, denn ich gehe noch in dieser Nacht mit meiner Schwester nach Beetzen zurück, unser alter Onkel wünscht meine Gegenwart.“

Ueber das schöne Antlitz des jungen Mädchens fliegt einen Augenblick lang eine Purpurglut, ein tiefes Erschrecken zeigt sich in ihren Augen, nur eine Sekunde lang, dann sagt sie spöttisch:

„Heimgeholt? Man ist wohl besorgt um den kleinen Bruder?“

Er antwortet nicht.

„Wie pietät- und rücksichtsvoll doch die Deutschen sind,“ fährt sie fort, „fast zu sehr, denn es kann ja niemand hier sein eignes Leben voll ausleben vor lauter Rücksichten auf seine lieben Angehörigen.“ Sie hat eine feine Falte zwischen den Brauen und zerpflückt mit den weißen Zähnchen die Maiglöckchen, die sie noch in der Hand hält.

Sie ist furchtbar enttäuscht, sie ist so erregt. Ihre Mutter war in einem wahren Anfall von Tobsucht zu Hause angelangt. Was geschehen – sie weiß es nicht, sie fragt auch nicht danach, sie ist so völlig Amerikanerin, daß sie das, was ihre Mutter aufregt, äußerlich nicht beunruhigt. Aber soviel Deutsche ist sie doch, daß sie sich ganz rechtschaffen sentimental in den hübschen Jungen verliebt hat, daß sie sehr unglücklich sein wird, nicht mit ihm

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