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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Bibliothek verbunden ist. Ueber dem Schreibtisch hängt Ditschas Porträt, eine große Photographie im geschmackvollen Rahmen. Sie wird immer dort hängen, hat er erklärt.

„Nein, das wird sie natürlich nicht!“ sagt sich Ditscha, aber wer wird sie verdrängen?

Sie steht davor in tiefem Sinnen, die Hände verschlungen, das Schlüsselkörbchen am Arm, da kommt der Diener und bringt ihr einen Brief.

„Eingeschrieben?“ fragt sie erstaunt.

„Jawohl, gnädiges Fräulein.“

Sie sucht im Schlüsselkörbchen nach einem Bleistift und quittiert mit zitternder Hand. Ein ganzes Weilchen sitzt sie dann im Sessel, in der einen Hand den Brief, in der andern das zierliche Messer mit dem Mosaikgriff, das sie vom Schreibtisch genommen, um den Brief zu öffnen. Ihr ist’s, als ob eine unsichtbare Hand sie zurückhält: Oeffne nicht, es birgt Unglück.

„Lächerlich!“ sagt sie, „warum soll ich denn Angst haben?“ Und sie schneidet das Schreiben auf. Es sind nur wenig Zeilen, fast unleserlich flüchtig geschrieben:

 „Liebe Ditscha!
Komm’! Sieh Dir das Mädchen an, das ich liebe! Ich bin nicht fähig, mehr zu schreiben, ich muß Dich sprechen. Wenn Du mit dem Zehnuhrzuge reist, kannst Du abends sechs Uhr in Dresden sein. Liebe einzige Ditscha komm’, mach’ das Maß Deiner Güte voll! Ich hole Dich ab von der Bahn.
Dein Joachim.“ 

Da ist es – sobald schon! Ach, und er ist doch noch so jung! Sie fahrt empor und blickt um sich. Träumt sie denn? Ihr kommt es vor, als ob die Sonne nicht mehr so golden scheint wie vorhin, als ob die Luft dick und schwer geworden, die sie atmet. Eine herzbeklemmende Angst hat sie plötzlich gepackt.

Wer ist sie? Wen hat er sich erwählt? – Sie geht mit schleppenden Schritten aus dem Zimmer, sie will sich zur Reise rüsten – sie muß hin! Wann wäre sie nicht gegangen, wenn er sie rief, und wohin nicht? – Die Jungfer soll ihr den Koffer packen, sie hat keine Gedanken. Wäre er krank, sie könnte nicht gebeugter, nicht verstörter sein. Mechanisch trifft sie Anordnungen für ihre Abwesenheit, und beim Frühstück erscheint sie bereits in ihrer Reisetoilette, einem dunkelblauen Cheviotkostüm und einem kleinen frauenhaften Kapotthütchen mit einfacher Bandschleife – ihren Jahren angemessen, wie sie sich ausdrückt – das sie aber fast jung erscheinen läßt.

Der alte Herr sieht sie ganz erstaunt an. „Willst Du ausfahren, Sophie?“ fragt er, eigentümlich berührt.

„Onkelchen, ich muß Dich ein paar Tage allein lassen, ich reise zum Jungen nach Dresden, nachher um zehn Uhr,“ sagt sie möglichst unbefangen.

„Ist er krank?“ fragt er hastig, und die Hand, die die Gabel führt sinkt zurück.

„Nein, Onkel Jochen, ganz gesund, sehr gesund,“ tröstet sie.

„So, so – gottlob!“ murmelt er und greift wieder zur Gabel.

Ditscha überlegt. Soll sie dem alten Herrn davon erzählen, daß Achim im Begriff steht, sein Herz zu verschenken, daß er es schon gethan hat? Sie denkt, er wird sich freuen darüber, aber als sie anfangen will, zu sprechen, überkommt sie wieder die sonderbare Angst, und sie schweigt.

„Wir wollen ein wenig Kunst schwärmen miteinander, Onkel,“ sagt sie.

Er nickt. „Nicht lange bleiben, Kind. Bring’ ihn wieder mit!“

„Ja, Onkel!“

Eine Stunde später fährt sie nach Bützow zur Bahn. Der Himmel ist ein wenig bewölkt, ein feuchter warmer Dunst, wie in einem Treibhause, liegt über der Landschaft. „Wachswetter, gnä’ Fröln,“ sagt der alte Kutscher Franz, der einzige außer Hanne, der noch von damals im Dienste ist in Beetzen. „Hab’s nun so oft erlebt, das Frühjahr, aber ’s Herze wird einem noch allemal weit dabei.“

Am Bützower neuen Bahnhof hat sie nicht lange mehr zu warten; der Schnellzug fährt ein, sie nimmt Platz im Coupé, läßt den alten Herrn noch einmal grüßen, und dahin rast der Zug. Sie weiß gegen Abend nicht recht, wie ihr der Tag vergangen ist, in der Hauptsache mit Vernunftpredigten, die sie sich selbst gehalten, aber umsonst, sie kann und kann das thörichte Angstgefühl nicht los werden.

Ueber Dresden liegt ein feiner Regenschleier, ein ganz leiser köstlicher Frühlingsregen ist es. In allen Gärten blühende Sträucher, rosa und weiß und lila, und ein süßer Duft strömt durch das geöffnete Fenster ins Coupé. Auf dem Böhmischen Bahnhof ein reges Gewühl. Ditscha späht aus dem Fenster, dann winkt sie einem schlanken, auffallend hübschen jungen Mann im hellen Anzuge zu, der im nächsten Augenblick mit etwas blassem Gesicht ihr aus dem Wagen hilft, ihr wiederholt die Hand küßt und weiter nichts sagen kann als: „Ich danke Dir, ich danke Dir!“

Handtasche und Koffer sind bald übergeben; er bietet der Schwester den Arm – das Hotel ist ganz nahe – und sie gehen unter dem Schirm, mit dem er sie sorglich beschützt, über den nassen Platz nach dem Gasthof.

„Bei Mama zu wohnen, das hieltest Du nicht aus, Ditscha,“ sagt er. „Sie wissen auch gar nichts von der ganzen Sache, erst muß ich Dich sprechen.“

Endlich sind sie in einem freundlichen Zimmer, dessen Fenster nach dem Garten hinaus schauen, in welchem der Regen alle die jungen Blätter vom Ruß gereinigt hat, so daß sie aussehen, als hätten sie sich in der reinsten Waldluft entfaltet. Es ist ein kleiner Salon mit Rokokomöbeln und ein paar bequemen Polsterstühlen dazwischen; nebenan das Schlafzimmer. Auf dem runden Tisch ein riesiger Veilchenstrauß, der das ganze Zimmer durchduftet.

Ditscha, die Hut und Mantel vor dem Spiegel abgenommen hat, nickt dem jungen Mann im Glase dankbar zu. Er merkt es nicht, er sitzt in einem der Sessel und starrt aus dem Fenster und trommelt mit der Hand auf dem eingelegten Tisch.

„Und nun beichte, mein alter Junge,“ sagte sie, neben ihn tretend und ihm einen kosenden kleinen Schlag auf die Wange gebend. „Was hast Du angefangen, böser Mensch? – Wer ist sie? Wo hast Du sie kennengelernt?“

Er nimmt ihre Hände und drückt sie an seine Augen. „Du wirst sehr müde sein,“ murmelt er.

„Ganz und gar nicht, Joachim.“

„Aber hungrig?“

„Auch nicht. Ich würde nicht essen können, bevor ich alles weiß – spanne mich nicht auf die Folter – sprich, wer ist sie?“

Sie hat sich neben ihn in die Sofaecke gesetzt, stützt die Arme auf den Tisch und sieht ihn an mit den großen stillen Augen, die ihre innere Unruhe nicht verbergen können.

Er antwortet nicht.

„Eine von den jungen Damen, die im Hause Deiner Eltern verkehren – vermutlich?“ fragt sie, als er beharrlich schweigt.

Er schüttelt heftig den Kopf. „Nein, Ditscha, nein – es ist Ellen Perth, die junge Amerikanerin, von der ich Dir schrieb.“

„Ellen Perth? Und Du – Du liebst sie?“

„Ja, Ditscha!“

„Und sie erwidert Deine Neigung?“

„Ja, ich glaube – nein, ich weiß es bestimmt.“

„Ausgesprochen ist das Wort noch nicht?“

„Nein! Das Wort noch nicht. Aber – – ich hatte Dir ja das Versprechen gegeben, Du solltest sie erst sehen, bevor ich es thue.“

„Und Du glaubst, mit ihr glücklich zu werden?“

„Aber, Ditscha, wie Du fragst! Natürlich! Und wenn ich es auch nicht glaubte, wenn ich gewiß wüßte, ich würde totunglücklich mit ihr, ich – ich könnte doch nicht von ihr lassen!“

Sie zuckt zusammen. – Wenn’s so ist, warum fragt er sie erst? Er hat ja das Recht, zu wählen! Wie thöricht von ihr, zu verlangen, daß er sie erst befragen soll, und wie rührend gewissenhaft von ihm, daß er dies Versprechen hält.

Er ist emporgesprungen und geht im Zimmer auf und ab.

„Und ihre Eltern?“

Er hebt die Schultern und streicht sich über die Stirn. „Die Eltern? – Ich weiß nicht, Ditscha – sie leben hier, wie viele Amerikaner, ziemlich luxuriös, versäumen kein Konzert, kein Theater, geben Diners, haben eine Equipage gemietet und Miß Ellen – ich lernte sie kennen in der Manege – reitet, macht wunderbare Toilette, spielt, singt, ist liebenswürdig und schön – weiter weiß ich nichts.“

„Und gebildete Leute?“

„Der Vater scheint es ja – hat – lieber Gott, ich weiß es nicht. Die Mutter – sie gefällt mir weniger, aber ich bin auch sehr verwöhnt, Ditscha. Wenn man immer mit jemand zusammen gewesen ist, wie Du bist, dann –“ er sieht sie zärtlich an dabei und streichelt ihren Arm.

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