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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

reizenden Gesicht, mit den braunen „Ponies“ auf der Stirn, noch etwas Fremdes, Außerordentliches, das wohl für jeden, der „schwie“ war, ihren Wert erhöhte.

Der dunkelblonde Rudolf, der sie führte – seine Bogen waren untadelhaft – zog den Hut und grüßte, da sie nun vorbei kamen; er versuchte zu lächeln, herzlich und strahlend, wie es seine Art war; aber sonderbarerweise ward sogleich wieder tiefer, gleichsam befangener Ernst daraus. Nun begann er auch zu erröten, fast über das ganze Gesicht. Vater Volkmar, der dies alles bemerkte, nahm den Hut vom Kopf, die Dame zu grüßen; sie erwiderte durch eine leichte, reizende Bewegung; dann entschwand ihm schon ihr Antlitz. Das Paar „holländerte“ weiter, der sechzehnfüßigen Gruppe folgend, die man in der Ferne noch nach rechts und nach links konnte schwanken sehen.

O Gott, wie ihre Augen blitzten, sagte Helene leise. Was sind das für Augen!

Hast sie recht angeguckt, Onkel? fragte Toni, die erst jetzt wieder Atem holte.

Volkmar nickte lächelnd.

Ist sie nicht entzückend? – Nun müssen wir ihr aber nach, Onkel; nimm mir das nicht übel. Das müssen wir, Helene; nicht? – Also, Onkel Albert, adjö!

Wir wollen an ihr vorbeiläufen, sagte Helene und seufzte. Damit lief sie schon. Die beiden Mädels holten aus, fast als wären sie Strandjungens, und sausten auf der langen Bahn flußauf, dem oberen Hafen zu.


2.

Nachdenklich, langsam ging Volkmar zur Stadt zurück. Das wehmütige Gefühl, das ihn aus Rudolfs Zimmer hinausgetrieben hatte, war einem anderen gewichen, das ihn auch nicht frei machte: einer dumpfen Sorge. Das wunderliche Gesicht seines Jungen, das tief errötende, ernste; dieses Gesicht, das er so gut kannte, so leicht durchschaute wie kein anderes auf der Welt … Verliebt! Offenbar in Thea verliebt! – Nun ja, das war er schon oft: verliebt. Sein leichtentzündetes Herz war ja fast stadtbekannt; in seiner Flatterhaftigkeit fand es immer seine Rettung. Doch eines bedrückte Volkmar: dieser offenherzigste aller Söhne, dessen höchster Stolz es war, vor seinem geliebten Vater kein Geheimnis zu haben, der ihm alles gebeichtet hatte als dem „besten Freund“, von Mund zu Mund oder durch sein Tagebuch – warum war er über Thea stumm? Wie konnte er vor diesem besten Freund heute so erröten? – Nun, wenn er eben erst heute Thea kennengelernt hatte … Aber warum das? Weil er es gewünscht, gesucht. Seit Wochen ging sie ihm offenbar viel im Kopf herum. Sie beschäftigte seine Phantasie. Er sprach gern von ihr. Es war, als beneide er den Fellenberg …

Immer tauchte es wieder vor Volkmar auf, dieses befremdend ernste Gesicht. Eine Schauspielerin wie die: in dieser guten Stadt nicht von gutem Ruf … Aber der unerfahrenen Jugend, die sie in edlen Rollen sieht, erscheinen sie als Engel. Warum auch nicht, für eine Weile; möcht’ er immerhin verrückt für sie schwärmen – dachte Volkmar – wie diese Backfische; und mag er auch in heimlicher Verzückung mit ihr Bogen laufen. Nur daß er nicht verstummt gegen mich! Und nicht dies Gesicht!

Er kam nach Haus und ging in sein Zimmer; er vertiefte sich in ein Buch, um die Unruhe abzuschütteln, bis zur Essenszeit. Sophie rief ihn zu Tisch, seine jüngste Schwester, die seit dem Tod seiner Frau mit ihm und dem Jungen lebte. Als er ins Speisezimmer kam, stand Rudolf schon an der Tafel; seine Wangen glühten; ob nur von der raschen Bewegung in der kalten Luft, oder auch aus irgend einem unsicheren Gefühl, konnte man nicht sehen. Volkmar, seiner Art getreu, begann in behaglicher Unbefangenheit von dem angenehmen Eindruck zu sprechen, den ihm sein Sohn als kunstgerechter Bogenlehrer einer hübschen jungen Dame gemacht habe; und von dieser schönsten und gesündesten aller Bewegungen, dem Schlittschuhlaufen, doppelt nützlich für einen Abiturienten, der sonst so viel über den Büchern hockt. Er verhehlte nicht, daß ihm Theas „Feuerfleck“, von dem die Stadt so viel spreche, durchaus nicht mißfallen habe, so wenig der auch zu den akademisch anerkannten „Schönheiten“ der menschlichen Gestalt gehöre. Endlich erzählte er, mit seiner dramatischen Lebendigkeit, sein Gespräch mit den Backfischen, und wie der Schwie-Zustand dieser beiden werdenden Menschen sich entladen habe.

Die Schwester Sophie, eine kleine, lebhafte, heitere Dame, schüttelte doch über diese „tollen Mädels“ den Kopf. Rudolf lächelte über sie, ohne laut zu lachen, wie er sonst wohl pflegte. Die Glut auf seinen Wangen war mittlerweile vergangen, er sah eher blaß aus.

Der Vater blickte ihn liebevoll lächelnd an. Es geht Dir doch allmählich auf die Nerven, sagte er, dieses Examengefühl; diese Spannung zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung. Du bleichst doch ab, mein alter Junge.

O nein, mein junger Alter, antwortete Rudolf, mit etwas erzwungener „Fidelität“. Glaub’ mir, das sieht nur so aus. Diese Zeit strengt mich gar nicht an; ich bin eher zu leichtsinnig. Die andern behaupten auch, daß man mir das mündliche Examen ganz erlassen wird; eigentlich sei ich schon durch!

Und was meinst Du selbst? fragte Volkmar.

Jeden Morgen was anderes, sagte Rudolf mit selbstverspottendem Lächeln. Die Frage ist ja nur: hab’ ich beim schriftlichen Examen in allen Fächern ganz genügt? Dann lassen sie mich vom mündlichen fort. Das Dumme ist, daß ich das, wenn’s wahr ist, erst am Prüfungsmorgen und erst in der Schule erfahre. Armer Vater, den Frack hast Du mir doch müssen machen lassen. Na – er sitzt wenigstens gut!

Der Vater ist seinem Sohn einen Frack schuldig, erwiderte Volkmar; zum Glück konnt’ ich ihn auch bar bezahlen, bin ihn also nicht auch dem Schneider schuldig. Zu meiner Zeit gab es solche Dispensationen vom mündlichen Examen nicht, auch für den besten nicht; die Welt wird doch gemütlicher! – Was ich übrigens noch sagen wollte: die aufgeregten Backfische haben mir vorgeworfen, daß ich hier nie ins Theater gehe. Es ist wahr, ich bin darin etwas wehleidig: ich erspare mir gern den Schmerz, schlecht spielen zu sehen. Und in unserer alten Stadt – obwohl sie doch auch eine Musenstadt, eine Universitätsstadt ist – wird so im ganzen, um gerecht zu sein, hundsföttisch schlecht gespielt. Aber nun haben wir ja einen „Stern“: diese Thea Schüler. Sie wird ja nicht bloß von halben Menschen, wie Toni und Helene, sondern auch von ganzen als Talent gepriesen. Du hast sie ja einigemal gesehen; was sagst Du dazu?

Rudolf, der die treuherzigen Augen fest auf den Vater geheftet hielt, konnte doch eine aufsteigende Röte nicht ganz unterdrücken. Was ich schon neulich sagte, gab er mit etwas bedeckter Stimme zur Antwort; ich glaube, sie hat viel Talent. So ’was Frisches hat sie; so ’was – wunderbar Natürliches. So wie sie auch im Leben ist; ich hab’s ja heute gesehen und gehört. Aus Bayern soll sie sein; das hört man ihr auch an –

Und es steht ihr gut? fragte Volkmar.

Sehr gut! – Die beiden Worte kamen heraus wie hervorgestoßen; Rudolf fühlte das, und in einem jähen Unmut darüber verzog der gute Junge den Mund.

Dann muß man sie also sehen, sagte Volkmar ruhig. Auch muß ich mich bei den Backfischen wieder in Achtung setzen, wenn’s noch möglich ist. Nicht wahr, Helene speist heute oben?

Ja, bei ihrer Toni, antwortete die Schwester. Die beiden Mädels sind ja seit Weihnachten rein wie die Kletten.

Dann könnt’st Du ihnen sagen, Rudolf, daß ich sie einlade, heute als meine Gäste, mit mir ins Theater zu gehn. Und der Tante Anna laß’ ich sagen, daß ich für die Mädels fürbitte, für dies eine Mal. Es müsse etwas für unsre Bildung geschehen. Auch wird heut Goethe gespielt.

O! sagte Rudolf, sich für die Mädchen freuend. Das will ich ihnen sogleich – – Er blieb aber stehen. Eine Frage, die er nicht aussprechen mochte, lag ihm auf der Lippe.

Ja, und was dabei aus Dir wird? fragte Volkmar, der diese Frage erriet. Du gehst natürlich mit – wenn Du magst. Und wenn Du nicht fürs Mündliche notwendig arbeiten mußt –

Rudolf schüttelte nur den Kopf. Ein ganz eigener Ausdruck von Rührung, der das weiche, edle Gesicht noch verschönte, lag jetzt um die strahlenden blaugrauen Augen herum. Plötzlich ging er auf seinen „jungen Alten“ zu, um ihn zu umfassen. Was hab’ ich für einen Vater! sagte er leise, während er ihn in seinen kräftigen Armen hielt. Er hätte offenbar gern noch mehr gesagt; sein Herz schien von allerlei voll; mit einem flüchtigen Blick auf die Tante trat er aber zurück. Ich dank’ Dir, sagte er nur. Ich hab’ Zeit und geh’ mit. Also hinauf zu den „Dirns“! – Damit lief er schon aus der Thür.

(Fortsetzung folgt.)


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