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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

unter diesen muß also doch die Kurzsichtigkeit schon verbreitet gewesen sein, wenn man ein Gesetz im Hinblick auf sie machte.

Im Mittelalter wurde die Kurzsichtigkeit schon bei den Zweikämpfen berücksichtigt. Wer kurzsichtig war, konnte ein Duell unbeschadet seiner Ehre ablehnen, da es mit 5 Fuß langen Piken ausgefochten wurde, also auf eine Distanz, auf die der Betreffende nicht mehr deutlich sehen konnte. Man hat sogar neuerdings behauptet, daß es bestimmte Helme für Kurzsichtige gab, sogenannte Kesselhauben, wie sie sich in der Wartburg noch heute im Rüstungssaale und in Wien im Kunsthistorischen Museum finden, diese Helme haben in der Augenhöhe einen horizontalen, langen Spalt, der gewissermaßen das Zusammenkneifen der Lider, die Verengerung der Lidspalte beim Zwinkern ersetzt haben könnte, doch scheint mir diese Erklärung sehr gewagt, vermutlich sollte der schmale Spalt dem Auge unter möglichstem Schutz Ausblick gewähren.

Der berühmte Physiker Cardanus, der 1501 bis 1576 lebte, der Erfinder des Ringes, in welchem der Kompaß seine ruhige Lage behält, hat ganz vorzüglich die Leiden der Kurzsichtigen beschrieben; am Schlusse behauptet er in humoristischer Weise, daß die Kurzsichtigen besonders verliebt wären, da sie die körperlichen Fehler nicht bemerken und alle menschlichen Wesen für Engel halten.

Im 16. Jahrhundert lebte in Padua ein berühmter Professor, Hieronymus Mercurialis, welcher es sehr merkwürdig fand, daß es in Italien so viele Kurzsichtige und in Deutschland damals so wenige gäbe, man hätte, meint er, immer behauptet, die Kurzsichtigkeit käme vom vielen Trinken, das könne aber nicht sein, denn im Trinken seien doch wohl die Deutschen entschieden den Italienern überlegen. Und darin hat er gewiß recht, vom Trinken kommt wohl Schwachsichtigkeit, aber keine Myopie.

Die Myopie ist also keine neue Krankheit unserer überkultivierten Zeit, sie hat schon früher existiert, aber gewiß nicht in so großer Ausdehnung, wie seit Erfindung des Bücherdrucks und seit der obligatorischen Einführung des Leseunterrichts. Denn jetzt wird ein jeder der Schädlichkeit, kleine Buchstaben in der Nähe schon in der Jugend zu betrachten, ausgesetzt.

Aber es scheint, daß das Hilfsmittel der Kurzsichtigen, die Konkavbrille, erst 200 Jahre später als die Konvexbrille erfunden wurde. Auf alten Bildern, z. B. aus dem 15. Jahrhundert, findet man wohl schon mitunter ältere Personen mit Brillen, offenbar mit Konvexbrillen bewaffnet gemalt, jüngere Personen wollten sich wahrscheinlich nicht gern durch eine Brille verunstaltet malen lassen. Das erste Bild, auf welchem eine Konkavbrille vorkommt, ist von Raphael gemalt, und zwar im Jahre 1547; es hängt im Palazzo Pitti zu Florenz und stellt den Papst Leo X. dar, der ein rundes Glas mit ziemlich langem Stiele in der Hand hält und damit Zeichnungen betrachtet, die vor ihm aufgeschlagen sind. Das ist kein Vergrößerungsglas, wie Horner nachgewiesen hat. Leo X. war, wie historisch festgestellt ist, außerordentlich kurzsichtig; er bediente sich auf der Jagd eines Glases, mit dem er besser sah als seine Begleiter, er hatte gerade im Gegensatz zu Nero, von dem wir im Anfange sprachen, stark hervorspringende Augen wie die meisten sehr Kurzsichtigen. Raphael hat das Glas auch so gemalt, daß es spiegelt wie ein Konkavglas. Der Papst hält das Glas in der Hand, um einen besseren Ueberblick über die Zeichnungen zu haben, ohne sich bücken zu müssen. Also steht fest, daß im 16. Jahrhundert auch die Kurzsichtigen die Wohlthat einer Brille erhalten hatten.

Im Anfange des 16. Jahrhunderts wurde auch zuerst eine richtige Erklärung der Wirkung der Konkavbrille gegeben und zwar von dem schon genannten Maurolycus. Er zeigte, daß durch sie die Strahlen zerstreut, durch Konvexgläser aber gesammelt werden. Kepler, der große Astronom, kannte die Arbeiten von Maurolycus nicht und konnte im Jahre 1601, als ihn Herr von Dietrichstein fragte, warum die Kurzsichtigen durch Konkav- und die Weitsichtigen durch Konvexgläser besser sähen, keine Antwort geben; dies gelang ihm erst, nachdem er 3 Jahre über diesen Fragen studiert hatte.

Freilich begann auch gegen Ende des 16. Jahrhunderts schon eine Reaktion gegen das Brillentragen, und selbst die Aerzte fingen damals an, dagegen zu predigen. So eiferte besonders Georg Bartisch, der das erste Lehrbuch der Augenheilkunde schrieb, im Jahre 1583 gegen die Brillen. Er schrieb ein eigenes Kapitel „wie man sich vor denen Prillen und Augengläsern bewahren und enthalten soll“. Es fehlte freilich ihm wie allen damaligen Augenärzten und herumziehenden Starstechern jede Spur von physikalischen wie physiologischen Kenntnissen.

Auch Goethe scheint, obgleich er doch unzweifelhaft ein wahrhaft großer Naturforscher gewesen ist, eine Antipathie gegen Brillen gehabt zu haben, freilich nur aus ästhetischen Gründen. In den „Wahlverwandtschaften“ fand ich in Ottiliens Tagebuche folgende Stelle: „Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.“

Es verging übrigens lange Zeit, bis die Augenärzte selbst anfingen, den Brillen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Noch vor 30 Jahren wurden die Augengläser selbst in den dicksten Lehrbüchern der Augenheilkunde auf wenigen Seiten abgehandelt, und meist wurden sehr falsche Ansichten über die Brillen dabei entwickelt. Seitdem aber hat sich das Blatt gewendet. Die Lehre von den Brillen bildet heute ein so riesiges Kapitel, daß es auf jeder Universität in einem eigenen, das ganze Semester dauernden Kolleg vorgetragen werden muß. Die heutigen Augenärzte sind auch gerade mit den technischen und physikalischen Hilfsmitteln sehr wohl vertraut, das Studium der Baufehler des Auges, bei denen eine Brille notwendig ist, ist ein ganz mathematisch exaktes geworden, und nicht zum kleinsten Teil geschah dies infolge der großartigen Erfindung des Augenspiegels. Die Namen Helmholtz und Donders werden bis in die fernsten Zeiten in der Geschichte der Brillenlehre mit höchsten Ehren genannt werden.

Erst in neuerer Zeit sah man ein, daß das Wesen der Kurzsichtigkeit eine Verlängerung der Augenachse ist. Das gesunde Auge mißt von vorn nach hinten etwa 22 Millimeter, das kurzsichtige 26, 30 und mehr Millimeter. Je kurzsichtiger, desto länger ist es.

Die Kurzsichtigkeit ist eine Krankheit, welche meist in der Jugend schon entsteht und während der Beschäftigung der Augen in der Nähe zunimmt. Die Lichtstrahlen fallen von fernen Gegenständen nicht auf die Netzhaut, sondern vor dieselbe. Konkavgläser aber sind imstande, die aus der Ferne kommenden Strahlen so zu zerstreuen, daß sie sich auf der Netzhaut wieder vereinigen, daß sie also dem Auge aus der Nähe zu kommen scheinen. Der Grad der Kurzsichtigkeit wird ausgedrückt durch die Nummer desjenigen schwächsten Konkavglases, mit welchem der Betreffende in die Ferne scharf sieht.

Die Frage, ob man Konkavbrillen geben soll, ist nicht so einfach zu beantworten als die nach den Konvexbrillen. Es stehen sich hier zwei Ansichten der Sachverständigen direkt gegenüber. Die einen geben die stärksten Brillen und wollen durch dieselben das kurzsichtige Auge in ein normales verwandeln, die andern verabscheuen alle Brillen, halten kurzsichtige Augen für kranke Augen, die man schonen müsse, und meinen, daß der civilisierte Mensch zufrieden sein könne, wenn er in der Nähe zu seinen Arbeiten sehe; es gebe gar nicht so viel Schönes auf der Straße und in der Ferne zu sehen; der Betreffende möge sich wie im Altertum mit Zusammenkneifen der Lider behelfen. Die Wahrheit liegt hier wie überall in der Mitte.

Bei der Entscheidung dieser Frage handelt es sich nach meinen 30jährigen Erfahrungen um zweierlei: 1. um den Grad der Kurzsichtigkeit und 2. um die Entfernung, für welche die Brille benutzt werden soll.

1. Der Grad der Myopie. Man bestimmt ihn leicht durch die Entfernung, bis zu welcher noch kleine Schrift gelesen werden kann. Wer nur noch bis 1/2 Meter liest, braucht für die Ferne Konkavglas – 2, bis 1/4 Meter – 4, bis 1/10 Meter – 10, bis 1/20 Meter – 20. Nun muß man aber wissen, daß die Konkavgläser von 1 bis 6 fast gar nicht verkleinern; die stärkeren Gläser aber von 6 bis 20 verkleinern wohl, was ein unbehagliches Gefühl hervorruft und die höchsten Gläsernummern überhaupt gar nicht anzuwenden gestattet. Die Größe, die Orientierung und die Perspektive werden um so mehr geändert, je stärker das Konkavglas ist. Dazu kommt aber noch, daß fast alle Kurzsichtigkeiten, die stärker als 6 sind, mit Folgekrankheiten im Auge verbunden sind. Sie zeigen schon sehr bedeutende Ausdehnung der Häute des Auges, „fliegende Mücken“, Aderhauterkrankungen, sie sind die gefürchtete Form, bei denen häufig Trübungen im Glaskörper, Blutungen und Zerstörung der Netzhaut, selbst Ablösung der Netzhaut eintritt. Solche Augen, die mehr als Kurzsichtigkeit 6 haben, sind eben meist kranke Augen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß niemand zum Militär genommen wird, der stärkere Kurzsichtigkeit als 6 hat. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_370.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2021)