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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Wissenschaft und Kunst, durch freie Geistesregungen ausgezeichneten Zeiten, in das 15. und 16. Jahrhundert fällt. Zauberer und Hexen hat es zu allen Zeiten gegeben; sie wurden wohl hier und dort verurteilt und hingerichtet, aber bis zu jener Zeit hatte man von Massenverfolgungen der Bethörten nicht gehört. Diese Schreckensscenen wurden durch zwei Ursachen bedingt.

Der erste dieser Gründe ist in der Aenderung im prozessualischen Verfahren und Beweissystem zu suchen, die im 15. Jahrhundert eintrat. Damals fingen die Gerichte an, das alte, rein formelle, auf Eid und Eideshelfern beruhende Beweissystem zu verlassen und alles vom Geständnisse der Angeschuldigten abhängig zu machen. Dieses Geständnis suchte man mit allen möglichen Mitteln, namentlich durch Anwendung der Folter herbeizuführen. Wir werden später erklären, wie verhängnisvoll dieses Verfahren gerade für Hexen sein mußte.

Der zweite Grund der Anhäufung der Hexenprozesse lag in dem Umstande, daß um jene Zeit die Lehre vom Teufel und seinen Beziehungen zu Zauberern und Hexen zu einem festgefügten System ausgebildet wurde und diese Anschauungen in höchstem Maße volkstümliche Verbreitung fanden. Wir wollen das Bündnis zwischen dem Bösen und den Hexen in kurzen Zügen schildern.

Der Teufel – so hieß es in jener Lehre – pflegte den Hexen unter der Gestalt eines anständigen Mannes, eines Junkers, Jägers, Bürgers und unter verschiedenen Namen, wie Volland, Federlin, Federhanns, Zucker, Kasperle, Gräßle, Hämmerlein, Kreutle etc., zu erscheinen. Er versprach, ihnen in ihren Bedrängnissen zu helfen, gab ihnen auch Geld und Edelsteine, nötigte sie aber, mit ihm ein Bündnis zu schließen. Sie mußten ihm versprechen, Gott abzusagen, Menschen und Tieren möglichst Schaden zuzufügen. Willigte die Verführte ein, so drückte ihr der Teufel sein Zeichen auf, er berührte sie am Arm, an der Stirn oder hinterm Ohre, und diese Stelle des Körpers blieb von nun an für immer unempfindlich; man konnte sie stechen, ohne daß die Hexe dabei Schmerz empfand oder aus der Stichwunde Blut floß. Das war das berüchtigte Teufelsmal, das stigma diaboli.

Nach dem Verschwinden des Bösen erlebte die Hexe eine Enttäuschung, denn Geld und Kleinode, die er ihr gegeben hatte, pflegten sich in Stroh und Dung oder wertloses Zeug zu verwandeln. Der Teufel, in dessen Besitz sie nun war, kehrte jedoch zu ihr zurück und stachelte sie an, ihren Nächsten Schaden zu stiften, zu welchem Zwecke er ihr Zauberpulver und andere Mittel gab. Er behandelte sie aber keineswegs gut, sondern drangsalierte oft sein Opfer; oft peinigte er sie derart, daß sie sich in schrecklichen Krämpfen herumwälzte. Der Böse versammelte auch von Zeit zu Zeit seine Getreuen um sich, und diese Zusammenkünfte, die an entlegenen Orten, auf Bergen, Burg- und Klosterruinen stattfanden und bei welchen verschiedene Scheußlichkeiten und Gotteslästerungen vollbracht wurden, hießen Hexensabbathe. Zu diesen Orgien holte der Teufel die Hexe selbst ab oder sie ritt zu ihnen durch die Lüfte auf einem Besenstiel, nachdem sie sich mit einer aus narkotischen Kräutern (Bilsenkraut, Stechapfel etc.) bereiteten Salbe eingerieben oder den aus gleichen Stoffen gebrauten Hexentrank zu sich genommen hatte.

Wurde nun eine Frauensperson unter dem Verdacht, eine Hexe zu sein, vors Gericht gebracht und leugnete sie die Schuld, so wurde sie zunächst der Hexenprobe unterworfen. Man hatte dafür verschiedene Proben ausgesonnen, wir erwähnen hier nur diejenige, die in der ersten Epoche der Hexenprozesse angewandt wurde. Man entblößte die Angeklagte und verband ihr die Augen; hierauf trat ein Chirurg an sie heran und stach sie in die verschiedensten Hautstellen, um jene Stellen zu finden, die als Teufelsmale unempfindlich waren und nicht bluteten. Solche Male wurden in der That ungemein häufig gefunden.

Leugnete die Angeklagte weiter, so wurde sie gefoltert. Unter den fürchterlichen Qualen gestanden viele alles, was die Richter wünschten, gaben andere Personen an, die mit ihnen am Hexensabbath teilgenommen haben sollten, und zogen neue Opfer ins Verderben. Ueberraschend ist es aber, daß viele der Unglücklichen alle Leiden der Tortur standhaft ertrugen, ohne zu klagen und ohne ein Wort zu gestehen. Das waren nach der Meinung der Richter die schlimmsten Hexen, denn ihnen stand im Augenblick der Tortur der Teufel zur Seite, machte sie gefühllos und legte ihnen das „Hexenschweigen“ auf.

In derselben Weise schlossen männliche Hexenmeister den Bund mit dem Bösen, unb in derselben Weise wurden auch sie gerichtet, aber sonderbarerweise war ihre Zahl im Vergleich zu der der Hexen äußerst gering.

Frankreich bildete den Ausgangspunkt der Massenverfolgung der Hexen. Dieses Vorgehen fand Billigung durch die Bulle des Papstes Innocenz VIII. vom 5. Dezember 1484, und von nun an breiteten sich die Hexenprozesse über alle christlichen Länder aus. Wie wüteten da die Hexenrichter! Zu Hunderten wurden in einzelnen Städten die Unglücklichen verbrannt, und an manchen Orten waren die Pfähle, an denen sie den Tod erlitten, wie ein Wald anzusehen.

Wie konnte die Welt durch einen krassen Aberglauben so furchtbar geblendet werden? Der Glaube an den Teufel allein hatte diese Verwirrung nicht gezeitigt. Es waren noch andere Umstände dabei maßgebend: erstens die Thatsache, daß Tausende von Hexen auch ohne Folter den Verkehr mit dem Teufel eingestanden hatten, zweitens das Vorhandensein von Erscheinungen am Hexenleibe, die nach der Anschauung der damaligen Zeit auf natürliche Weise sich nicht erklären ließen, wie die unempfindlichen, nicht blutenden Hexenmale und die Gefühllosigkeit bei der Tortur. Und doch waren diese Erscheinungen keineswegs Werke des Teufels. Sie waren Folgen einer Vorstellung, welche den Geist der sogenannten Hexen beherrschte und ihren Leib krankhaft veränderte. Noch heute könnte man die Stigmata diaboli zu Tausenden unter Frauen und Männern nachweisen!

Es giebt ein Leiden, das seit uralten Zeiten die Menschheit plagt, da es schon in den ältesten medizinischen Büchern beschrieben wurde, ein Leiden, das häufiger Frauen als Männer befällt und jedem unter dem Namen Hysterie bekannt ist. Der großen Masse des Volkes ist es heutzutage als eine launenhafte Krankheit verleidet, die selbst die längste Geduld auf die härteste Probe stellen kann, und in der That ist die Hysterie so wechselvoll in ihren Symptomen, daß sie dem Ungeübten eine ganze Anzahl von Krankheiten vorzutäuschen vermag. Wie vielfältig ist das Nervensystem der Hysterischen verstimmt. Ihre Empfindlichkeit kann gesteigert sein; sie bringt ihnen ein Heer von Schmerzen in den äußeren und inneren Körperteilen, dabei sind auch die Sinne überempfindlich; das Ohr vernimmt die leisesten Geräusche, das Auge erlangt die merkwürdigste Schärfe, der Tastsinn und der Geruch werden in unglaublichem Maße gesteigert. Aber neben dieser gesteigerten Empfindlichkeit besteht auch ein Verlust derselben, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Hysterie zählt. Derselbe betrifft zumeist die äußere Haut, von der kleinere oder größere Bezirke sich unempfindlich zeigen und dabei so blutarm sind, daß sie, wenn sie mit einer Nadel oder einem spitzen Messerchen gestochen werden, gar nicht oder nur sehr unbedeutend bluten. Diese unempfindlichen Hautstellen, die bei Hysterischen sehr häufig vorkommen, sind eben die „Teufelsmale“, nach welchen die Hexenrichter fahndeten. Die Empfindungslosigkeit kann sogar den ganzen Körper erfassen, sie ist alsdann eine vollkommene, und schrecklich können die Verletzungen sein, die sich die Kranken in diesem Zustande zufügen oder selbst zuziehen. So haben Hysterische glühende Kohlen mit bloßen Händen aus dem Ofen geholt und sie an ihren Körper gedrückt, der nun mit den schlimmsten Brandwunden bedeckt wurde. Nun ist es klar, daß Personen, die mit einer derartigen vollkommenen Empfindungslosigkeit behaftet waren, in Hexenprozessen lautlos alle Qualen der Folter ertrugen, weil sie dieselben nicht fühlten. So erklärt sich das „Hexenschweigen“, durch das sie ihre Henker in Erstaunen versetzten.

Wichtig ist ferner der Seelenzustand der Hysterischen. Viele von ihnen erscheinen uns lasterhaft, und im allgemeinen sagt man ihnen nach, daß sie lügenhaft sind. Unbeständigkeit ist eins ihrer weiteren Zeichen. Die Empfindungen der Kranken wechseln ungemein rasch und damit auch ihre Stimmungen und Klagen. Darum gelten auch die Hysterischen als launenhafte Wesen. Deswegen sind sie aber nicht zu verdammen, sondern zu bemitleiden; denn sie sind ein Spiel von Vorstellungen, die ihre Seele durchzucken. Im Schlafe werden sie von aufregenden und schreckhaften Träumen geängstigt und im wachem Zustande sind sie oft Sinnestäuschungen unterworfen, und was sie in solchen Augenblicken gesehen, gehört und gefühlt haben, das erscheint ihnen wirklich erlebt, Gestalten der Einbildungskraft, lose und tolle Wahngebilde halten sie für Wirklichkeit. Infolgedessen erheben sie gegen sich und gegen andere Beschuldigungen und Anklagen, und noch in der

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