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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Ich habe gar nichts angefangen. mein Vater und Kronen sind Jugendfreunde, das ist alles.“ Er überhört die Frage nach Ditscha.

„Ein urkomisches Gestell, der Joachim von Kronen,“ meint einer.

„Lächerlich stolz! Was nicht von den Montmorencys abstammt, existiert nicht für ihn,“ bestätigt ein anderer.

„Sonst ein ganz fideles altes Haus, der tolle Jochen.“

„Ach ja, wenn er genug intus hat.“

„Er ist so wunderlich geworden seit dem Tode seines Jungen,“ nimmt ein älterer Gymnasiallehrer das Wort. „Stellen Sie sich vor, meine Herren, der Einzige, der Erbe, ertrinkt am Weihnachtsabend – es war schrecklich!“

„Haben Sie es miterlebt?“ wird er gefragt.

„Ja!“ antwortet er einfach, „ich war zu jener Zeit Hauslehrer auf Beetzen. Es ist kein Geheimnis, wollen Sie es hören, Herr von Perthien?“

Die beiden Herren setzen sich weit entfernt von den Spielenden in eine Fensternische, die Kellnerin bringt ihnen frisch schäumende Seidel und der blondbärtige kleine Doktor Rietner erzählt:

„Ich setze voraus, daß Sie mit allen Familienverhältnissen der Kronens vertraut sind?“

„Durchaus nicht,“ antwortet der junge Mann. „Mein Vater ist vor etwa dreißig Jahren mit Herrn von Kronen bekannt gewesen, damals lagen noch die Dragoner hier in Bützow, und beide Herren haben zu jener Zeit gemeinschaftlich ihr Jahr abgedient. Mein Vater ist oft auf Beetzen gewesen, spricht noch heute von dem für damalige Zeiten glänzenden Hause und ich erinnere mich, daß er von dem Baron als ‚dem tollen Jochen‘ zu sprechen pflegte.

„Ganz recht, der tolle Jochen, so hieß er früher,“ lächelte der Doktor.

„Später sind die Beziehungen der beiden Herren,“ fuhr Perthien fort, „wohl ganz eingeschlafen, und erst jetzt, als mein Vater mir empfahl, ich solle einen praktischen Kursus auf Uechte durchmachen, erinnerte er sich, daß dort Beetzen in der Nähe liegt, und äußerte den Wunsch, daß ich Herrn von Kronen aufsuchen möge.“

„Nun, Sie sind bald unterrichtet von den Verhältnissen,“ nahm der Doktor das Wort. Die Gattin des tollen Kronen war ein Fräulein von Zweifelden, ein gutes einfaches Geschöpf, ziemlich hübsch, sehr wirtschaftlich erzogen und reich, vor allen Dingen aber von gutem alten Adel. Nach zwei Jahren hatten sie einen Sohn. Natürlich große Freude! Die zwei Schwestern des tollen Jochen, Fräulein Anna und Fräulein Klementine, die unverheiratet geblieben sind, sowie der jüngere Bruder, der Vater des jungen Mädchens, das jetzt auf Beetzen lebt – damals war er noch Fähnrich – standen Pate, und aus dem tollen Jochen wurde, angesichts des Sohnes und künftigen Erben, ordentlich ein zahmer Jochen. Die junge Frau, die während der ersten Jahre ihrer Ehe allerlei Grund zur Unzufriedenheit mit ihrem Gatten hatte, konnte sich nicht mehr beklagen. Er kehrte sämtliche Tugenden eines braven Hausvaters hervor und auf Beetzen war ein Leben wie im Himmel, wenn man so sagen darf.

Als der Junge, der zum Unterschied von seinem Vater ‚Achim‘ gerufen wurde, zehn Jahre alt war, kam ich ins Haus. War auch meine goldenste Zeit, Herr von Perthien, denn was Gemütlicheres wie das Leben in dem alten Herrenhause können Sie sich nicht vorstellen. Der tolle Jochen immer vergnügt und zufrieden, seine Frau immer für das leibliche Wohl ihrer Umgebung besorgt, seine Schwestern einen nicht übertrieben geistigen aber doch anregenden Hauch hineintragend, besonders die Aeltere, die Klementine, die dann nachher – doch davon später! Eine allerliebste Geselligkeit, einfach, gesund, fidele Erntefeste, Sommerpicknicks, kleine Sylvesterscherze – wirklich, es war nett. Und damals trank er noch nicht Grog und – – na, das ging so weiter, bis der Bursche sechzehn Jahre alt war. Kein übermäßig begabtes Kind, aber wie seine Umgebung einfach, gesund und voll überfließenden Wissensdurstes für alles, was seinen künftigen Beruf anbetraf. Dabei schlank wie eine Tanne, mit braunem Kraushaar, und allem Sport fanatisch ergeben. Der Junge saß zu Pferde – einfach prachtvoll! Des Vaters verklärtes Gesicht, wenn er mit ihm vom Hofe ritt, war gar nicht zu beschreiben. – –

Da kommt dies verhängnisvolle Weihnachten! Das Haus war voller Besuch, unter andern der Bruder mit seiner eben angetrauten jungen Frau – er war damals Rittmeister – noch ein paar Vettern auf Urlaub und Consinen, wie’s so auf dem Lande ist. Der Junge sollte ein neues englisches Pferd zum Geschenk erhalten, und man hatte ihn fortgeschickt, damit er es nicht sähe, wenn es auf den Hof gebracht würde; es stand bei dem Händler Grundmann hier im Stalle und war direkt aus England über Hamburg gekommen.

Ich weiß nicht mehr, wie es zuging, daß ich ihn nicht begleitete, die Gnädige hatte sich wohl meine Hilfe bei den Vorbereitungen erbeten; ich weiß nur noch, daß ein festliches Treiben im ganzen Hause herrschte, daß es schneite und fror, daß es überall nach Kuchen roch und die Herrschaften nicht wußten, wie sie ihre Zeit bis zur Bescherung verbringen sollten, und daß Fräulein Klementine endlich vorschlug, man solle einen Gang über die Wiesen thun bis hinunter zu dem Strom. – Ich sah sie vom Fenster aus fortgehen, Fräulein Klementine voran. Sie war noch eine hübsche stattliche Dame damals und des Jungen ganzer Charme. Man sagte, sie trüge eine unglückliche Liebe im Herzen, hätte sich in ihrer Jugend in einen jungen Professor von der Berliner Sternwarte verliebt gehabt, den sie in irgend einem Badeort kennengelernt, na – eine Kronen und ein Professor! Der tolle Jochen hätt’s natürlich nie zugegeben und – sie entsagte und ist keinem lästig gefallen mit ihrem Kummer.

Also, ich sehe sie fortgehen und Fräulein Klementine ruft mir hinauf, sie wolle Achim suchen.“

Der untersetzte Mann hört einen Augenblick auf zu erzählen, er atmet tief, winkt, fährt mit den Fingern in die schwarze Krawatte, als drücke es ihn an der Kehle, dann fährt er heiser fort:

Sie haben ihn auch gefunden. Er ist Schlittschuh gelaufen auf dem Strom, das heißt so zwischen den Buhnen, und die Gesellschaft ist vom Deich hinuntergestiegen und Fräulein Klementine hat sich aufs Eis gewagt, um ihren Goldjungen, wie sie ihren Neffen zu nennen pflegte, aus nächster Nähe zu bewundern. Er ruft ihr etwas zu, das sie nicht versteht, und sie geht weiter in der Meinung, er habe gesagt: ‚Nur immer dreist, Tante Klementine!‘ Da fühlt sie das Eis unter ihren Füße wanken, fühlt, wie es bricht und wie sie einsinkt. Sie schreit und verliert die Besinnung, und als sie wieder zu sich kommt, da – findet sie sich gerettet, aber der Junge – der Junge ist unter die Scholle, unter das Eis – – fort – tot.

Ich habe schon viel erlebt, Herr von Perthien, habe die Düppeler Schanzen mit erstürmt, aber – so ’was – nein, nein – ich kann auch nicht weiter davon sprechen, denn wenn ich hundert Jahre alt werde, vergesse ich nicht des tollen Kronen wahnsinnige Wut, nicht sein schreckliches Lachen und nicht die darauf folgende Reaktion, die ihn fast zum Idioten machte – von der Frau lassen Sie mich schweigen. – –

Deshalb scheint die Sonne nicht mehr in Beetzen, deshalb gedeiht da keine Geselligkeit, und deshalb vertrauert das schöne Mädchen dort seine Jugend. Deshalb ist die Frau nur noch das Gespenst der Vergangenheit, ist des Mannes Humor so grammig, deshalb der Grog, der viele Grog. – Ueber dem Hause steht kein Stern mehr; der Pächter macht, was er will, und Jochen von Kronen ist’s egal, denn sein Erbe ist tot – –.“

„Und die unglückliche Schwester?“ fragt Perthien.

„Gelähmt seit dem Tage – durch die Kälte des Wassers oder das grausige Erwachen? Ich weiß es nicht.“

„Und wie kommt das junge Mädchen nach Beetzen?“

„Dem starb die Mutter bei der Geburt, und der Vater hat das Kind der Frau Bertha gebracht, in der Meinung, er könne sie dadurch von ihrem Schmerz ablenken. Sie hat’s ja auch genommen; es hat Essen und Trinken und Kleidung erhalten und weiß, sie ist eine von Kronen und die mutmaßliche Erbin der ganzen Geschichte, aber –“ er zuckte die Achselu – „die Sonne fehlt, die Sonne. Und wenn ich das Geschöpfchen sehe neben der Tante Anna oder Bertha mit seinem blassen Gesicht und den traurigen fragenden Augen – – Herr Gott! Meine Mädels sind arme, arme Dinger, aber lachen können sie und frisch hineinschauen in das Leben auch!“

Herr von Perthien ist nachdenklich geworden. Wie, wenn er die verzauberte Prinzessin erlösen könnte?

„Ich will jedenfalls öfter ’mal nachsehen da,“ äußert er.

„Geben Sie sich keine Mühe,“ sagt der andere und steht auf, „das zweite Mal ist niemand für Sie zu Hause.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_242.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)