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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Da war nämlich ein junger Herr beim Amtsrat Calwerwisch –“ erklärt sie, um etwas zu sagen.

„Der mir das Geschäft abnehmen wollte,“ ergänzt der Onkel.

„Aber Joachim,“ fällt Tante Anna sittlich entrüstet ein, „das wäre ja Wilddieberei gewesen!“

„So ungefähr!“

„Ohne Zweifel!“ giebt Herr von Perthien ernsthaft zu.

Tante Bertha bittet den Gast, der keine Miene macht, sich zu entfernen, zum Abendessen zu bleiben; er nimmt an mit tiefer Verbeugung und einem Blick auf Ditscha. Nach Tische muß sie Klavier spielen; Onkel Joachim hat zwar einen Versuch gemacht zur Konversation, indem er fragt, ob das väterliche Gut des Herrn von Perthien jetzt verpachtet sei, greift dann aber, ohne eine Antwort abzuwarten, mechanisch zur Zeitung, und Tante denkt, daß ihr einziger heiß betrauerter Sohn jetzt ein ebenso stattlicher junger Mann sein könnte, wenn er nicht – lieber Gott – –

Herr von Perthien ist an den Flügel getreten und betrachtet das junge Mädchen, das mit vieler Empfindung eine Beethovensche Sonate spielt. „Lieben Sie so ernste Musik?“ fragt er, als sie schließt.

Sie nickt, sie kennt gar keine andere.

„Tanzen Sie gern?“

„Sophie tanzt nie!“ ruft Tante Anna streng aus der Sofaecke.

„Warum nicht?“

„Eh! Mit wem soll sie denn tanzen?“ wirft Onkel Joachim ablenkend ein – er ist noch beim ersten Glas. „Die Bälle in Bützow sind nicht verlockend; ein paar Gymnasiasten, ein paar Referendare, dazu eine Million Mädchen und überhaupt – – wissen Sie – wir, meine Frau und ich – nicht wahr, Alte –?“

„Darin liegt überhaupt nicht das Glück,“ unterbricht ihn Tante Anna rasch.

Die Hausfrau hat ihren Mann angesehen, und ein ernstes Nicken bestätigt seine Meinung. „Ja, mein Alter – überhaupt wir – wir beide – –“

Er schneuzt sich sehr geräuschvoll und lange. „He, Ditscha,“ ruft er dann, „hast Du noch heiß’ Wasser?“

Sie kommt mit dem blitzblanken Kesselchen, Tante Anna erhebt sich würdevoll bei diesem Signal und verläßt mit einem „Gute Nacht, Ihr Lieben, Adieu, Herr von Perthien!“ das Zimmer mit dem Anstand einer tragischen Bühnenheldin, die „glanzvoll“ abzugehen hat. Herr von Perthien setzt sich an das Klavier und beginnt einen Walzer zu spielen, die „schöne blaue Donau“ von Strauß.

Ditscha steht hinter dem Sessel ihres Oheims und lauscht mit roten Wangen und glänzenden Augen den prickelnden Tönen. Wie das lockt, wie das wiegt, wie er spielen kann!

Der hübsche Mensch mit dem kecken Gesicht scheint selbst mitzutanzen, und nun hebt er den Blick und sieht sie an, ein Blick, in dem alles Mögliche liegt, brennende Lebenslust und Mitleid, Mitleid mit ihr – armes Mädchen, wo ist deine Jugend?

Sie fühlt, wie sie errötet, und schlägt die Augen nieder; ein zorniges Gefühl überkommt sie – was weiß er von ihr, von ihrem Leben?

Tante Bertha hat den Strickstrumpf sinken lassen und starrt ins Leere mit gerunzelter Stirn, der Onkel trommelt auf dem Tische, es zuckt ihm im Gesicht, als er Ditscha ansieht.

„He, Ditscha,“ fragt er, „Dir zappeln wohl die Füßchen? Möchtest auch ’mal tanzen, wie? – Na, Alte, denn suche doch ’mal Deine Künste hervor, spiele ’mal den beiden einen Schottischen.“

Aber Tante Bertha legt, statt aller Antwort, ihr Strickzeug auf den Tisch und schreitet eilig der Thüre zu, im Gehen krampfhaft nach dem Tuch in ihrer Tasche suchend.

Onkel Joachim sieht ihr nach, nickt ein paarmal mit dem Kopfe, steht dann auf und sagt mit einem grimmigen Lächeln: „Na, da will ich ’mal sehen, ob’s noch zu einem Schottischen langt. – Allons, mein Herr, engagieren Sie Ihre Dame!“

Und gleich darauf sitzt er am Klavier und seine harten steifen Finger hacken auf den Tasten wie auf einem Holzklotz herum, und zu gleicher Zeit pfeift er mit ernsthaft wunderlichem Gesichtsausdruck die Melodie zu dem Tanz. Ditscha aber weiß nicht, wie ihr geschehen, als sie, von dem Arm des jungen Mannes umfaßt, im Zimmer umherwirbelt, atemlos, lächelnd – rechts herum – links herum – gradeaus – rückwärts –. Sie bemerkt auch nicht, wie die Thür aufgeht und eine kleine runde dicke Frauengestalt eintritt, die völlig versteinert stehen bleibt, eine Rheinweinflasche unter den Arm geklemmt des bequemeren Tragens wegen, eine Schale mit Obst und Kuchen, Dessertteller und Gläser auf einem Präsentierbrett in beiden Händen.

Ditscha und ihr Tänzer halten eben ein, der Spieler am Klavier klatscht „Bravo!“ und die Dienerin ersehend, erhebt er sich, stürzt auf sie zu und entreißt ihr die Flasche.

„He! Du! Rheinwein muß kühl stehen, nennst Du das kühl stehen, wenn Du sie ans Herz drückst, alte Schachtel?“ Und er lacht, daß es durch das ganze Zimmer dröhnt.

Die Alte erwidert nichts; sie stellt mit undurchdringlichem Gesicht das Präsentierbrett auf den Tisch und entfernt sich. Dann tritt die Hausfrau wieder ein; sie hat rote Augenränder, als habe sie geweint. Onkel Joachim fliegt bei dem Anblick wieder ein Zucken über das Gesicht. Er geht zum Klavier und schmettert den Deckel zu. „’s ist genug davon,“ sagt er und zieht den jungen Mann zum Tisch. Ditscha sitzt neben der Tante, noch heiß vom Tanze.

Arme kleine Ditscha! Es ist das erste und letzte Mal in ihrem Leben, daß sie getanzt hat.

Der Wein fließt in die Gläser, und der Hausherr stößt mit dem Gaste an, auf seinen Vater, auf vergangene Jugendzeit – aber es kommt kein Gespräch mehr in Fluß. Herrn von Perthien ist es fast unheimlich geworden unter diesen merkwürdigen Menschen, die zwischen Lachen und Weinen schwanken. Das Mädchen sitzt da wie ein verschüchtertes Vögelchen.

„Dittchen,“ schreit der alte Herr, „hast Du noch heiß’ Wasser?“ Er hat den Rheinwein verschmäht und den Grog ausgetrunken.

Ditscha gießt zum viertenmal ein; Tante Bertha sieht es ruhig mit an und sagt dann nur: „Ditscha!“

Sie versteht, kommt herüber und küßt der alten Dame die Hand zur „guten Nacht!“ – Onkel giebt ihr einen schallenden Kuß auf die Stirn und schreit: „Sieh’ ’mal, Berthchen, wie der Hexe die roten Bäckchen kleiden!“

Ditscha wird noch röter, grüßt zu Herrn von Perthien hinüber und ist im nächsten Augenblick aus dem Zimmer verschwunden.

Dem jungen Manne kommt es nach ihrem Fortgehen vor, als sei es finster in dem Raume geworden. Die beiden Leute vor ihm scheinen das Sprechen verlernt zu haben. Er erhebt sich endlich und bedankt sich für freundliche Aufnahme. Von Wiederkommen spricht keiner seiner Wirte. Aber er will wiederkommen. Er fragt mit einem Handkuß die Hausfrau, ob er sich erlauben dürfe, in einiger Zeit sich nach dem Befinden der Damen zu erkundigen.

Tante Bertha erwidert nichts.

Der Hausherr räuspert sich. „Ja, sehen Sie, lieber Perthien, wir sind alte Leute, bei uns giebt’s keinerlei Geselligkeit – hm – Wenn nicht zu langweilig für Sie – werden wir uns gewiß freuen – gelegentlich einmal – aber – hm – versprechen Sie sich nicht zuviel von unserem Hause und grüßen Sie Ihren Vater. Werden schreiben sollen, wie Sie mich gefunden? Sagen Sie ihm – alt, einsam, sehr einsam, und hier, hier besonders.“ Er zeigt auf sein Herz. „Nicht wahr, Berthchen, hier?“

Dann schneuzt und räuspert er sich, tupft mit seinem Foulard gegen die Lippen unter dem melierten Bart und spricht nichts mehr, ebenso wie Frau Bertha, die nur stumm das Haupt neigt und das Gestammel des jungen Mannes: „es sei ihm gewesen in diesen Räumen, als wäre er heim gekommen“, gar nicht beachtet.




Hanne steht indessen in der Turmwohnung vor ihrem Fräulein Klementine. Sie ist ganz rot vor Aerger und redet in ihrem wunderlichen Gemisch von Hoch- und Plattdeutsch ununterbrochen, während über das vergeistigte feine Leidensgesicht der Kranken ein trübes Lächeln fliegt.

„Da hab’ ich vorhin, gnä Fröln, weil der Friedrich nicht gleich bei der Hand war und weil ich ja doch einmal nach oben ging, Wein und Kuchen man bloß so aus Gefälligkeit in die Wohnstuw gebracht, aber ich wollt’, ich hätt’s gelassen, denn man muß sich nur ärgern und bekommt Nackensläg’ vor seine Gutmütigkeit – – Hüppt da unser Fröln Ditscha mit einem fremden jungen Herrn herum, als wär’ sie narrsch geworden, un der gnä Herr speelt und fläutet da noch ordentlich zu. ’ne Sünd’ und ’ne Schand’ is, wie das Kind hier behandelt wird! Sie ziehen ihr, mit Verlöf zu sagen, durch alle Zäume; Fräulein Anna quält sie tot mit ihre Missionsgeschichten und der gnä’ Herr machen

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