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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Vater sich einst verschworen, begann vor Verschwörungen seines Sohnes und seiner nächsten Angehörigen zu zittern, selbst vor der Tochter machte sein Argwohn keinen Halt, und der treffliche Comines erzählt, daß er bald auch Verdacht gegen seinen Schwiegersohn faßte, so daß er sich gegen seine Familie förmlich verschanzte und abschloß.

Er zog sich, gealtert und kränkelnd, aber mit ungebrochener Herrschsucht und Raubgier in sein Schloß Plessis-les-Tours zurück, wo er seine sieche Person hinter furchtbaren Mauern und Befestigungen vor unberufenen Eindringlingen zu schützen suchte. Nicht weniger als drei Mauern von verschiedener Höhe, die durch Türme und Brücken mit einander verbunden waren, umgaben das in der Nähe von Tours gelegene Nest, in dem der alte Gewalthaber hauste.

Zur besonderen Bedeckung hatte er sich eine schottische Leibwache eingerichtet, die von versteckten Orten aus mit sicherem Schuß jeden zu Boden streckte, der sich der Zugbrücke oder einem Teile der Mauer in verdächtiger Weise näherte. Fallgruben, Fußsicheln, Schlingen und andere versteckte Vorrichtungen sorgten dafür, daß die Herankommenden gefangen oder verstümmelt wurden. Und wenn schon hierdurch der Aufenthaltsort Ludwigs einen unheimlichen Charakter hatte, wurde er unerhört grauenhaft durch die schauerliche Art, in welcher der menschenfeindliche Einsiedler durch Tristan Justiz üben ließ.

Er ließ zum Zwecke der Abschreckung überall in der Umgebung seines Wohnsitzes die Leichen derer an den Bäumen befestigen, welche dem Annäherungsverbot zuwidergehandelt oder sonst sich vergangen hatten und deshalb von dem ambulanten Hinrichtungsbureau des „Gevatters“ exekutiert worden waren. Hoch oben in den grünen Aesten schwankten, vom Winde bewegt, die Leichen der Gerichteten, und nicht nur Scott hat im Quentin Durward diese unheimliche äußere Eigentümlichkeit von Plessis-les-Tours in seine Schilderungen verwebt, sondern auch Banville, der lyrische Parodist und Dramatiker, weist in erschütternder Art auf sie hin, indem er die rührende Gestalt seines Straßensängers Gringoire das „Lied von den Gehenkten“ singen läßt, das unter den geängstigten Bewohnern der Umgegend im Schwange ist.

Der argwöhnische Tyrann fand an der Thätigkeit seines getreuen Tristan nicht volles Genügen. Er nahm sich persönlich die Mühe, Marterwerkzeuge zu erfinden, da er in der reinen Ausübung der Grausamkeit, ohne Rücksicht auf die Person der Opfer, eine wollüstige Wonne empfand. Duclos berichtet, daß, wenn der „Gevatter“ Angeklagte foltern ließ, Ludwig hinter einem Vorhang lauschte. Mit welcher Behaglichkeit mag daher der König den Vorschlag eines Herrn seiner Umgebung entgegengenommen haben, der ihm empfahl, niedrige Käfige von acht Fuß Länge bauen zu lassen, in denen nachher die Gefangenen mittels einer besondern Art von Ketten mit schwer wuchtenden Kugeln, die man „Königstöchterlein“ (les fillettes du roi) nannte, qualvoll gefesselt wurden. Der Herr, der den Vorschlag machte, war der Bischof von Verdun. Der erste, der die Verwendbarkeit der neu konstruierten sinnreichen Behälter praktisch zu erproben hatte, war er selbst, und mit ihm – sein Genosse la Balue, wie Comines und Duclos übereinstimmend berichten.

Die Persönlichkeit des Kardinals la Balue ist in mehr als einer Hinsicht interessant. Er war der Sohn eines Schneiders. Früh hatte er den geistlichen Stand erwählt, und, unterstützt von den allgemeinen Zuständen, benutzte er denselben nur zur Befriedigung seiner auf die weltlichsten Genüsse und Ehren gerichteten Begierden. Vermöge seiner großen Geriebenheit gelang es ihm auf irgend eine Art, in intime Beziehungen zu dem Bischof von Poitiers zu gelangen, nach dessen Tode er einen Teil seines Nachlasses in die Tasche steckte. Dann schmuggelte er sich in die Umgebung des Bischofs Beauveau hinein und trieb in den Kanonikaten, die er von ihm erhielt, schmachvollen Schacher. Als er endlich an den Hof Ludwigs gelangt war, wurde die Gewandtheit des talentvollen Ränkeschmiedes rasch bemerkt, und um ihretwillen übersah der König selbst die freche Liederlichkeit, mit welcher der lüsterne Patron die gemeinsten Ausschweifungen unbefangen beging. Er wurde sogar von Ludwig zum Parlamentsrat ermannt, vergalt rasch seinem Wohlthäter Beauveau die Vergangenheit, indem er ihm eine einträgliche Pfründe abjagte, und wurde nach kurzer Zeit Bischof von Evreux.

Bei einem galanten Abenteuer wurde dieser unheimliche Usurpator kirchlicher Gewalten angegriffen und verwundet; seitdem widmete er sich ausschließlich Staatsgeschäften. Ludwig, der nicht nur an der Schlauheit des Mannes, sondern auch an seiner niedrigen Gesinnung Gefallen gefunden haben muß, kettete ihn eng an sich, er überschüttete ihn mit Gunstbezeigungen, und was bei ihm noch mehr sagen wollte, er vertraute ihm.

Dem Abenteurer, der zum Minister geworden war, behagte die Stellung, die er einnahm, nicht übel. Aber er hatte die Schwäche, allerhand Eitelkeiten an den Tag zu legen, die den Emporkömmling kennzeichnen. Natürlich protzte er am stärksten, wie das zu gehen pflegt, mit Eigenschaften, die er nicht hatte. Er liebte es, den Ritterlichen herauszukehren, und strahlte gefallsüchtig wie ein Affe vor Glück, so oft es ihm vergönnt war, sich an der Spitze eines Truppenteils zu zeigen. Ein General sagte deshalb zum König, wie Duclos berichtet: „Majestät, lassen Sie mich über Priester kommandieren, da der Bischof die Parade abnimmt.“ Bei der allgemeinen Lächerlichkeit, der sich la Balue durch diese Schwäche in Hofkreisen aussetzte, würde er bald eine komische Figur geworden sein, wenn er nicht zugleich ein so stark umneideter und gefürchteter Mann gewesen wäre.

Der dreiste Streber schien sich in Wahrheit alles erlauben zu dürfen, wonach seine Laune stand: er hatte den mächtigsten Mann von Frankreich hinter sich und wußte das. So glaubte er einen unerhörten Gewaltstreich wagen zu können, bei dem für ihn nicht nur eine neue Würde abfiel, sondern auch reichlicher Geldgewinn einzuheimsen war. Er beschloß nichts mehr und nichts weniger, als seinen Wohlthäter Beauveau zu stürzen und sich selbst an seine Stelle zu setzen. Gedacht, gethan: Beauveau, der Bischof von Angers, wird verleumdet, vom Papst in Rom daraufhin exkommuniziert, abgesetzt, und der brutale Intriguant la Balue erhält die Stelle des Mannes, bei dem er früher Lakai gewesen und dem er so vieles zu verdanken hatte. La Balue ist nun Bischof von Angers, und der ihm am letzten Ende auch diese neue Macht verschafft hat, ist niemand anders als sein allergnädigster Herr und König, der in Briefen an den Papst sich eifrigst für seinen Liebling und dessen Pläne verwendet hat.

Der finstere und kalte Monarch hatte lange Jahre für diesen geschmeidigen Emporkömmling eine unbegrenzte Vorliebe. Er schenkt ihm ein halbes Dutzend Abteien, er empfiehlt ihn an alle möglichen Persönlichkeiten, er drängt sogar die Kurie um die Kardinalswürde für ihn, die er auch schließlich erhält. Ludwig verwendet ihn fortdauernd zu den wichtigsten Geschäften, er läßt sich von ihm lange Zeit uneingeschränkt und widerstandslos lenken, und schon hat es den Anschein, als sei der Eigenwille, die zähe, leidenschaftliche Herrschbegier des Königs für immer gelähmt – da begeht la Balue Verrat.

Es mußte so kommen. Es war ja eine seiner Eigenheiten, die infamsten Haudlungen gegen die zu begehen, die ihm Gutes erwiesen hatten.

Er schrieb also einen ausführlichen Brief an Ludwigs gefürchtetsten Gegner, den Burgunderherzog, und gab ihm entsprechende Anweisungen, gegen die Interessen des Königs zu handeln. Ihn trieb dabei der Wunsch, sich bei diesem im voraus unentbehrlich zu machen. Als der plumpe Schwindel entdeckt wurde, erwachte in Ludwig die Tigernatur. Er machte kurzen Prozeß; die Käfige, die la Balues Mitschuldiger erfunden hatte, traten in Funktion …

Trotzdem hat la Balue den König überlebt.

Ludwig starb, von furchtbarer Todesangst gepeinigt, als der Sommer des Jahres 1483 zu Ende ging. Er war sechzig Jahre alt geworden. Den Kardinal hatte er ein paar Jahre zuvor freigelassen, weil die Kurie drängte, der Papst selbst wollte den Kardinal in Rom bestrafen. Aber kaum war la Balue in der ewigen Stadt, so gelang es ihm, sich zu rechtfertigen. Er erholte sich dort gründlich von den Strapazen seines zwölfjährigen Käfigdaseins. Und als dann das dreiste Gaunergenie vergnügt und frisch wieder nach Frankreich zurückkehrte, moderten die Gebeine seines Gegners und Königs in der Erde.




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