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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„In Brüssel ging es Ihnen nicht gut?“ forschte er teilnehmend.

„O, ich kann das nicht einmal sagen! Viele andere hätten mich um das beneidet, was wir dort fanden. Ein wohlhabendes Haus, gebildete Menschen, eine schöne Stadt – aber uns fror, uns fror beständig! Das Haus in Batavia steht in meiner Erinnerung da wie auf Goldgrund, wie in ewigen Sonnenschein getaucht, und in Brüssel war alles so kalt, die Gegend, die Menschen, das ganze Leben! Mama war wie vernichtet, sie war ganz ohne Halt, wie sollte sie mir einen bieten? Ich blieb auf mich allein angewiesen, und dazu mein Schmerz um Papa, meine große gewaltige Sehnsucht nach ihm! Kann es ein tieferes Leid geben als dies heiße lebendige Sehnen nach einem Toten, der uns für immer entrückt ist? Und ich spann mich immer mehr darin ein, wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn nicht“ – sie verwirrte sich von neuem und brach kurz ab.

Ihm widerstrebte es, sie mit Fragen zu quälen, er hatte sich’s nicht umsonst angelobt, es nicht zu thun. Doch konnte er es sich nicht verwehren, innerlich gespannt zu sein. Was war es gewesen, was ihr über den Schmerz zu ihrem Vater endlich hinweggeholfen hatte? Die Liebe zu ihrem Mann? Aber das mußte doch Jahre gedauert haben, bis sie ihn gefunden haben konnte! Oder irgend eine Beschäftigung, ein Beruf – und welcher Art? Wo hatte sie ihren Gatten gefunden, welche Stellung hatte er eingenommen, und vor allen Dingen, wie war der Mann beschaffen gewesen, den eine Frau wie diese geliebt hatte? Denn daß sie ihn geliebt hatte, erschien dem Doktor unzweifelhaft. So jung sie noch war, ohne Liebe hatte Gabriele Hartmann sicher nicht ihre Hand verschenkt.

Und ob sie den Gatten ebenso leidenschaftlich betrauerte wie einst den Vater? Ob sein Tod diesen hoffnungslosen Zug in das junge liebliche Antlitz gegraben hatte? Und was wollte sie später anfangen in der Welt? Worauf bezog sich die Stelle in ihrem ersten Brief an ihn, sie habe eine gute Ausbildung erhalten und werde seine Güte höchstens bis zum Herbst ausnutzen, dann wolle und werde sie selbst für sich sorgen?

Nicht eine dieser zahlreichen Fragen kam über seine Lippen. Er ahnte es nicht, wie unendlich wohl er der jungen Frau damit that! Gewiß, er war gut und taktvoll, aber er war auch teilnehmend, sie las es ihm ja vom Gesicht ab, und auch die Teilnahme fragt, nicht nur die unbefugte Neugier. Und hatte er, als der Pflegebruder ihrer Mutter, als ihr jetziger Beschützer und Freund, nicht auch das Recht, zu fragen? Wie zart von ihm, keinen Gebrauch davon zu machen! Sie dankte ihm dafür in ihrem Herzen.

Nach diesem Gespräch, dem ersten, in dem Gabriele sich ein wenig mitteilsamer zeigte, wollte ein anderes Thema nicht mehr aufkommen. Die beiden schlenderten noch ein wenig im Garten umher; als sie an den Weiher kamen und dort den kleinen blauen Kahn sanft an seiner Kette schaukeln sahen, blickten sie einander lächelnd in die Augen und hatten denselben Gedanken. Seit Wochen lebten sie nun schon zusammen in „Buen Retiro“, und kein einziges Mal hatten sie gemeinsam eine Wasserfahrt gemacht! Röder half seinem Schützling ins Boot, löste die Kette und trieb mit ein paar kräftigen Ruderschlägen den Kahn vom Ufer ab. Es war eine stille, seltsam traumhafte Fahrt, die sanft abfallenden Ufer des Teiches waren bunt von wilden Blumen; die glänzenden Binsen ließen wieder ihr geheimnisvolles Surren hören, und in ihrer Nähe schwammen auf tiefgrünen Blättern bleiche Wasserrosen mit ihren Goldkelchen. Röder holte mit seinem Ruder die langen Stengel aus der Tiefe, schnitt mit dem Taschenmesser die Blüten ab und legte sie Gabriele in den Schoß, sie dankte ihm mit einem Lächeln und behielt die Blumen auf ihren Knien. Er hatte es bisher noch nie gesehen, daß sie sich mit irgend einer Blume schmückte, nur die Narzisse, die er ihr damals ins Haar gesteckt, hatte sie bis zum späten Abend darin behalten. Blauschillernde Libellen tanzten über dem Wasserspiegel und schwirrten zuweilen um Gabrielens Kopf, die Eschen sahen ruhig in das dunkle Wasser.

Diese stille Stunde mit ihrem eigenen träumerischen Reiz, da sie so schweigend miteinander fuhren und jeder von ihnen es empfand, daß in diesem Schweigen weder etwas Peinliches noch auch etwas Drückendes lag, sondern eine innere Zusammengehörigkeit, die sie zu Freunden machte – diese Stunde sollte ihnen beiden noch oft, oft ins Gedächtnis zurückgerufen werden, denn es war das letzte friedliche Beieinandersein für lange Zeit.




8.

Der Doktor war den ganzen Tag in der Stadt gewesen. Er hatte dort mit ein paar Journalisten zu thun und mit seinem Buchhändler zu sprechen, denn er wollte sich ein wissenschaftliches Werk verschaffen, dessen er zu seinen Studien bedurfte. Das alles war am Vormittag erledigt, er hätte schon zu Tisch wieder heimfahren können, er blieb aber. Es war eine eigentümliche Unrast in ihm, etwas wie eine dunkle Warnung, sich nicht gar zu sehr in das Stillleben auf seiner Villa zu vertiefen, dessen wunderbaren Reiz er gestern so stark empfunden. Er hatte sich ja auf die Stille und Einsamkeit gefreut, jetzt aber wirkte sie so fesselnd auf ihn, daß er Gefahr lief, sich ganz und gar von ihrem Zauber einspinnen zu lassen. Und das durfte nicht sein, dagegen mußte er sich zur Wehr setzen. So alt war er noch nicht, um den Verkehr mit der Außenwelt vollständig abzubrechen, wenn er ihn auch entbehren zu können meinte! Und als vollends Mamsellchen heute morgen ihn ermahnt hatte, doch mehr unter Menschen zu gehen, mit dem Zusatz, es sei geradezu eine Schande, wie er sich hier vergrabe, da raffte er sich schnell zusammen und fuhr in die Residenz.

Als seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt waren, suchte er ein paar gute Bekannte auf, die ihm aus seinem Kreise die angenehmsten waren, tüchtige und kluge Leute, der eine ein angesehener Journalist, Redakteur eines bedeutenden Blattes und eifriger Politiker, der andere ein hervorragender naturwissenschaftlicher Gelehrter, Verfasser eines vielgenannten Werkes über fossile Pflanzen und mit Röder seit Jahren bekannt.

Beide Herren empfingen ihn mit freundschaftlichen Vorwürfen über sein langes Fernbleiben, und er fühlte sich etwas beschämt angesichts ihrer unverstellten Herzlichkeit, wenn er bedachte, wie wenig ihm im Grund an ihrer Gesellschaft gelegen war. Er blieb nun mit ihnen zusammen, sie speisten in einem Restaurant zu Mittag und verabredeten, um sieben Uhr im Sommertheater wieder zusammenzutreffen.

Röder fand die Stadtluft außerordentlich heiß und unangenehm, er nahm sich einen Wagen und fuhr weit in einen Park hinaus, wo er die frische reine Luft wiederfand, die er in seinem „Buen Retiro“ jeden Tag genießen konnte. In die Residenz zurückgekehrt, blieb ihm noch eine gute halbe Stunde, in der er die schönsten Straßen durchschlenderte. Er machte dabei die Entdeckung, daß das Hin- und Herwogen des Menschenstromes ihm Schwindel erregte und daß die schönen Dinge hinter den großen Schaufenstern wenig Reiz für ihn besäßen.

Mit den beiden Herren ging er dann ins Theater und saß in den Zwischenpausen bei einem Glas Bier im Garten. Er mußte zugeben, daß das Lustspiel nicht übel und die Ausführung ausgezeichnet war, aber er amüsierte sich nicht. Auch als sie alle drei bei einem kleinen Souper beisammen waren, konnte er nicht mit voller Teilnahme dabei sein. Der Redakteur sprach angeregt und viel, aber Röder fragte sich in seinem Innern verwundert, wie es doch möglich sei, daß ein Mann in reiferen Jahren sich so ungeheuer für Politik interessieren könne, ihm kam dies ganze Parteitreiben so einseitig vor. Der Naturforscher besprach einige Erfindungen der Neuzeit, und hierbei wurde auch Röder lebhafter. Zwischendurch aber hatte er fortwährend die Empfindung, als sei all dies Reden und Thun am heutigen Tag völlig nebensächlich, als erwarte ihn zu Hause etwas ganz Wichtiges, das all sein Sinnen und Denken in Anspruch nehmen müsse. Trotzdem blieb er mit den beiden Herren bis zum Abgang der letzten Pferdebahn zusammen, und als er in dem Vorort ausstieg und heimwanderte, war die Mitternachtsstunde schon nahe.

Es wanderte sich schön in der abgekühlten Luft zwischen den leise wogenden Feldern und den Bäumen, die mit dem Nachtwind Zwiesprache hielten. Der Himmel leuchtete von zahllosen Sternen, die Häuser, die hier und da verstreut waren, lagen in tiefer Dunkelheit. Dann und wann schlug ein Hofhund an, verstummte aber bald wieder. Je näher der einsame Wanderer seiner Villa kam, desto mehr beschleunigte er seinen Schritt, es geschah dies aber ihm selbst vollkommen unbewußt. Endlich bei einer Biegung des Weges sah er das hübsche weiße Haus vor sich liegen.

Was war das? Ein paar Fenster waren erleuchtet, und nicht etwa im obern Stockwerk, wo die junge Frau wohnte, es war unten, in seinem Salon. Und jetzt, waren das nicht verlorene Klänge, die der Nachtwind ihm zutrug? Mit verhaltenem Atem, so leise, als könne sein Schritt die Töne verscheuchen, schlich der

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