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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

„Immer müde! Ich habe zu arbeiten versucht, es ging nicht! Nicht einmal das kann ich mehr! Ob das immer so bleiben wird?“

Ohne weiteres nahm er ihr die Handarbeit fort und legte sie auf den Tisch. „Kein Gedanke daran!“ betonte er nachdrücklich. „Bei Ihrer Jugend – ich bitte Sie! Nur dürfen Sie solches Zeug“ – er warf einen unwilligen Seitenblick auf die Häkelei – „nicht machen, das schadet Ihren Nerven! Was hat Ihnen denn eigentlich der Arzt verordnet und verboten?“

„Ach, mancherlei! Ruhe soll ich haben, gute Pflege, gesunde Luft, sehr viel Aufenthalt und Bewegung im Freien, das war die Verordnung. Das Verbot: keine Aufregung, keine ergreifende Lektüre, vor allem kein Theater –“

Die junge Frau stockte plötzlich, ihr blasses Gesicht war von flammendem Rot übergossen.

Dies war so auffallend, daß Röder stutzte und lebhaft fragte: „Was haben Sie denn?“

Sie suchte offenbar nach einer ausweichenden Antwort, war aber viel zu verwirrt, um eine zu finden.

„Was haben Sie?“ wiederholte er betroffen.

„Ich – ich – ach, meine Mutter hat es mir gesagt, Sie hätten – Sie hätten eine so große Abneigung gegen das Theater!“

„Das trifft nicht ganz zu!“ entgegnete der Doktor ruhig. „Ich bin ein eifriger Theaterbesucher gewesen und schätze die Schauspielkunst und die dazu Auserwählten sehr hoch. Wenn aber Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, daß ich mit allem Nachdruck dagegen war, als sie selbst zur Bühne gehen wollte, dann hat sie recht berichtet – ich that das und würde es heute wieder ebenso thun.“

Die junge Frau atmete rasch und hatte den Blick zu Boden geschlagen. „Warum?“ fragte sie nach einer kleinen Pause mit mühsamer Stimme. „Hielten Sie meine Mutter nicht für begabt, nicht für eine Auserwählte?“

„Ich glaube wohl, daß sie Talent hatte – es gelüstete mich jedoch nicht nach einer Probe desselben. Wie gesagt, ich traute es ihr zu. Für eine Auserwählte, die den zahllosen Gefahren und Versuchungen gerade dieses Standes siegreich getrotzt hätte, hielt ich sie bei ihrem feurigen Temperament, ihrem raschen Sinn nicht, und wenn auch! Der Gedanke, sie, die in meinem lieben gemütlichen Elternhause neben mir wie eine Schwester aufgewachsen war, heute in dieser, morgen in jener Rolle auf der Bühne zu sehen, da die hingebend Zärtliche spielend, wo sie gestern die Hassende war, dieser Gedanke hatte für mich etwas Trauriges und Abstoßendes zugleich, ich hätte sie nie in Ausübung ihrer Kunst sehen mögen. Ich möchte überhaupt kein weibliches Wesen, das mir irgendwie nahesteht, auf der Bühne sehen wollen. Das widerstreitet meinem Gefühl!“

Gabriele senkte den Kopf, wie wenn seine Worte sie schwer getroffen hätten. Sie schwiegen beide. Einmal öffnete sie die Lippen, um etwas zu sagen, aber dann seufzte sie nur und schüttelte wie entmutigt den Kopf.

Schräge, brennend rote Abendsonnenstrahlen fielen durch das Blätterwerk der Laube, die weiche Sommerluft zog kosend hindurch. Aus dem nahen Dickicht fing schüchtern die Nachtigall an zu locken, es folgten sehnsuchtsvoll langgezogene Flötelaute, nun eine ganze Skala leidenschaftlichsten Verlangens. Es war, als sei die kleine Sängerin dicht über den Häuptern der beiden, sie stimmte ein wahres Triumphlied der Wonne an. Gabriele hatte die Lippen halb geöffnet, als wollte sie die Töne in sich trinken; ein neuer Ausdruck, den Rüder sich nicht zu deuten wußte, lag auf ihrem Gesicht. Minuten vergingen so, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, nur die Nachtigall jubelte und schluchzte über ihnen im Gezweig. Der Narzissenduft drang stark in die Laube herein.

Endlich brach der Doktor das schwüle Schweigen. „Wollen wir nicht lieber fort? Die Narzissen duften so betäubend.“

„Wenn Sie es wünschen, können wir gehen – sonst – die Narzisse ist meine Lieblingsblume –“

Ohne etwas zu erwidern, stand er auf, pflückte einen der bleichen Blütensterne und steckte ihn mit leichter Hand in Gabrielens lichtbraunes Haar. Wie hingeweht lag die weiße Blume darin. Die junge Frau sagte nichts, sie sah verträumt vor sich hin, vielleicht beachtete sie sein Thun nicht einmal.

Wohl aber that dies Mamsellchen, die soeben den Abendtisch in der Veranda gedeckt hatte und nun im Garten erschien, um dies zu melden. Ihr scharfes Auge konnte zwar beim besten Willen keine Veränderung im Gesicht ihres Doktors entdecken, er hatte seine gewöhnliche ruhige Miene, aber die Thatsache war doch da: er hatte einer jungen Dame eine Narzisse ins Haar gesteckt! Und war diese zehnmal Margots Kind und hätte dem Alter nach seine eigene Tochter sein können, und that sie zehnmal so, als ginge sie der ganze Vorgang nichts an, und saß da wie halb schlafend, müde und blaß gleich einer Schwerkranken – die Thatsache blieb bestehen: Doktor Cornelius Röder hatte einer jungen Dame eine Narzisse ins Haar gesteckt!




6.

Indessen blieb dies das einzige Beweisstück, das Mamsellchen auf lange Zeit hinaus zu verzeichnen hatte. Sie stellte es sehr geschickt an, schlich leise wie eine Katze auf unhörbaren Sohlen um die beiden Verdächtigen herum, tauchte gänzlich unvermutet vor ihren Augen auf und betrat Zimmer und Garten unter häuslichen Vorwänden zu ganz ungewöhnlichen Zeiten, sie nahm jedoch durchaus nichts Verdächtiges mehr wahr, nicht den kleinsten „Fallstrick“ von seiten der jungen Frau, nicht das leiseste Anzeichen beginnender Verliebtheit von seiten ihres Herrn. In der That schien es nach jenem ersten Tag, an dem es der Doktor für seine Pflicht gehalten hatte, seinen Gast mit Haus und Garten bekannt zu machen und sich als Hausherr um die junge Frau zu bemühen, ein stillschweigendes Abkommen der beiden zu sein, sich so wenig wie nur irgend möglich um einander zu kümmern. Ihre beiderseitige Tageseinteilung kam dem übrigens zu Hilfe. Während Röder ein Frühaufsteher war und seine Arbeiten, die ihm jetzt gut von statten gingen, gern in den Morgenstunden erledigte, schlief Gabriele, die oft erst in der Frühe etwas Schlummer fand, bis in den hellen Tag hinein. Wenn der Doktor dann Briefe schrieb oder zur Stadt ging oder las, wanderte sie mit ihrer Hängematte zum Weiher, ruhte dort stundenlang, ohne Buch oder Handarbeit, im Schatten der alten schönen Bäume, die Augen träumerisch auf den dunkeln Wasserspiegel gerichtet oder in das ernste Grün des dichten Blätterwerks vertieft. Erst bei Tische bekamen die beiden einander zu Gesicht, aber auch dann gab es keine lebhafte Unterhaltung, keinen irgendwie anregenden Gedankenaustausch. Die geistigen wie die körperlichen Kräfte der jungen Frau schienen gleicherweise ermattet zu sein und unfähig, sich auf sich selbst zu besinnen. So kam es, daß Cornelius Röder, im ganzen ein guter Menschenkenner und sehr geneigt, aus Margots Tochter ein Studium zu machen, am vierzehnten Tage ihres Beisammenseins noch nicht klüger aus ihr geworden war als am ersten. War sie eine innerlich reiche Natur, oder war dies müde Verstummen und Insichversinken das Zeichen angeborener Indolenz, die überhaupt nicht über sich selbst hinaus konnte? Schlummerte ihr Verstand oder war sie von Ursprung her unbegabt und zeigte sich einfach, wie sie war? Besaß sie Charakter und Willenskraft, beides nur durch körperliches Leiden unterdrückt, oder war ihr das versagt geblieben? Ihm wurde täglich dasselbe Schauspiel: eine blasse, zarte Frau mit müden Augen und langsamen Bewegungen, mit schleppendem Gang und leiser Stimme, unabänderlich in demselben schlichten grauen Kleide, das ihre feine Gestalt knapp umschloß, ohne Schmuck, ohne Freude an allem, was sie umgab, willig, aber kurz auf seine Fragen antwortend, im übrigen sichtlich froh, wenn er sie sich selbst überließ, anscheinend nie Langeweile empfindend, ohne Sehnsucht nach geistiger Speise, nach Zerstreuung oder Vergnügen, – bei dem bloßen Gedanken, zur Stadt zu fahren, Menschen zu sehen, in sich zusammenschauernd.

Auch seine Abendspaziergänge machte der Hausherr allein. Wie sollte er Gabriele auffordern, einen weiten Weg zu unternehmen, wenn er sah, daß sie auf ihrer kurzen Wanderung zum Teich unterwegs in der Laube oder auf einer der umherstehenden Bänke Halt machen mußte, da ihre Kräfte sie verließen? Die kalten Bäder schienen ihr mehr zu schaden als zu nützen, sie sah an solchen Tagen noch abgespannter aus und die Schatten um ihre traurigen großen Augen vertieften sich.

So kam es, daß Röder es zuweilen ganz vergaß, daß die Tochter seiner Pflegeschwester überhaupt bei ihm wohne, und sich dann mit einem förmlichen Schreck auf ihre Anwesenheit besann. Alle seine geheimen Befürchtungen von gestörter Arbeitszeit, geänderter Lebensweise und höflicher Selbstüberwindung waren unnötig gewesen, sein „Buen Retiro“ trug immer noch seinen Namen mit Recht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_039.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)