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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Weltverbesserer.[1]

Von Dr. J. O. Holsch.
VIII.
Die Weltverbesserer der Gegenwart.

Seitdem die Druckerschwärze so billig und das Papier so geduldig und „endlos“ geworden ist, schießen auch die Weltverbesserungsphantasien üppiger als je ins Kraut. Es gehört sozusagen Zum „guten Ton“, über die soziale Frage zu schreiben; jeder „löst“ sie in irgend einer Weise „endgültig“, selbstverständlich gewöhnlich gerade da am wenigsten, wo er allein sollte und könnte, nämlich in seiner eigenen unmittelbaren Umgebung. Und doch sind all die Tausende, ja Hunderttausende, welche gegenwärtig ihre Gedanken nach dieser Richtung wenden, nur Atome in einer großen sachgemäßen und kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Wendung des Zeitgeistes und des modernen Menschenlebens überhaupt: die Epoche des losgelassenen und gewaltig emporgestiegenen Individualismus, die jeden auf sich selbst stellt und für sich selber sorgen läßt, geht ihrem Ende entgegen, eine neue Zeit beginnt sich zu entwickeln, eine Zeit, die, ohne sozialdemokratisch zu sein, doch in den Grundlagen ihrer Rechtsordnung sozialistische Eckpfeiler haben wird. Wir müssen es uns versagen, die Fülle der noch lebendigen papierenen Weltbeglücker auch nur zahlenmäßig zu umschreiben, wir begnügen uns, zwei der klügsten und begeistertsten Propheten kommender glücklicher und goldener Tage herauszugreifen.

Der eine dieser Männer ist drüben auf dem fruchtbaren Boden der Neuen Welt gewachsen, Edward Bellamy; er hat 1888 seinen „Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ („Looking Backward“) veröffentlicht, ein Buch, das seinen Weg bald in die Alte Welt gefunden hat und nunmehr wohl in einer Million von Exemplaren über die civilisierte Erde verbreitet ist. Ihm hat die „Gartenlaube“ schon früher (Jahrgang 1890, Nr. 50) ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Der andere, Theodor Hertzka, ist ganz ein Kind der alten europäischen Kultur, ein nüchterner aber glänzender Zeitungsmann, der als Redakteur österreichischer Zeitungen die Kolonialbewegung mit Verständniß und Interesse verfolgt hatte, ehe er sein Werk „Freiland, ein soziales Zukunftsbild“ im Oktober des Jahres 1889 von Leipzig aus vom Stapel ließ.




„Nach langem Studium der Weltgeschichte und der Entwicklung unseres industriellen Systems“ - so lesen wir in Bellamys Vorrede – „kam ich zu der Ueberzeugung, daß die große Masse des amerikanischen Volkes die Gefahren, welchen wir entgegen gehen, nicht sieht. Ich wollte meine Mitmenschen warnen und ihnen ein Mittel zeigen, mit Hilfe dessen eine bessere Civilisation als die heutige geschaffen werden kann, ohne daß die Straßen mit Blut getränkt werden.“

Das „Mittel“, welches Bellamy in Gestalt eines Romanes seinen etwas starke Anregungen liebenden Zeitgenossen einflößt, ist denn auch ein recht wirkungsvolles. Julian West aus Boston, ein vornehmer Junggeselle, nimmt unmittelbar vor der Hochzeit mit seiner schönen und hochgebildeten Braut Edith Bartlett ein wenig zu viel von seinem Schlafmittel. Die Folge davon ist, daß er genau 113 Jahre 3 Monate und 11 Tage schläft, dann in dem Boston des Jahres 2000 im Hause eines sehr verständigen Arztes, des Dr. Leete, aufwacht, um nach kurzer Frist in die Frage auszubrechen: „Welche Lösung haben Sie für die Arbeiterfrage gefunden?“

Die Antwort erhält er in der Form, das man ihn eine Woche lang im „neuen“ Boston herumführt. Edith Leete, die wunderliebliche Jungfrau des Jahres 2000, nimmt den armen Jüngling des 19. Jahrhunderts zunächst mit in das „Warenhaus des Bezirks“, welches Muster sämtlicher Waren enthält. Das Bestellte wird samt Rechnung durch Rohrpost dem „Centralwarenlager“ gemeldet, von dort in Leetes Wohnung befördert und der Betrag auf der „Nationalcreditkarte“ der Familie Leete angeschrieben. Julian West erfährt im Laufe der Woche, daß es eine Stufenleiter von öffentlichen Arbeitspflichten und Nutzungsrechten giebt, während der Begriff des „Arbeitslohnes“ der kapitalistischen Aera nicht mehr bekannt ist, selbst der Kellner des großartig eingerichteten Speisehauses erfüllt seine Obliegenheiten mit dem BewuStsein, einer öffentlichen Aufgabe zu dienen. Die Einzelheiten der Einrichtungen, welche im Laufe der Erlebnisse unseres Helden vorgeführt werden, sind im großen Ganzen nicht neu; sie zeigen jedoch insofern guten Geschmack, als nichts technisch geradezu Unmögliches erscheint. Mit besonderer Spannung liest man dagegen die Schilderung der Umwandllmg der alten kapitalistischen Gesellschaft in diejenige des Jahres 2000.

Im Anfang des letzten Jahrhunderts – also etwa um 1900 – so hören wir, hatte der Entwicklungsprozeß mit der Konsolidation, d. h. Zusammenlegung des gesamten Nationalvermögens geendet; das Volk richtete sich ein als Handelsgesellschaft, in der alle anderen Gesellschaften aufgingen, es war der einzige Kapitalist, der einzige rechtmäßige Unternehmer, an dessen Gewinn jeder Bürger seinen Theil hatte. Die öffentliche Meinung war voll dafür herangereift und die ganze Masse des Volkes stand hinter ihr. Man erkannte, ohne gegen einzelne Glieder und Gruppen der seitherigen Gesellschaft gehässig zu sein, daß die Aufgabe des Staates nicht mehr die sogenannte Politik, sondern die Volkswirthschaft sei. Das Arbeiterproblem wurde demgemäß nach dem Muster der allgemeinen Wehrpflicht durch die geordnete Arbeitspflicht aller arbeitsfähigen Personen beider Geschlechter gelöst. Bei voller Beibehaltung der Möglichkeit, von einer Stufe zur andern zu steigen, wurde unter Wahrung der freien Berufswahl die vollkommene Gleichstellung der Mitglieder der Gesellschaft durchgeführt.

Die bewegende Kraft, welche bei dem Inslebentreten dieser neuen Arbeits- und Gesellschaftsverfassung wirksam war, das waren keineswegs die sogenannten „Arbeiterparteien“, wie uns der Dr. Leete des Jahres 2000 ausdrücklich versichern kann. „Dazu war ihr Gesichtskreis nicht weit genug.“ Erst als es zum öffentlichen Bewußtsein geworden war, daß eine Neubildung der Gesellschaftsordnung im Interesse aller Klassen sei, der Reichen wie der Armen, der Gebildeten wie der Ungebildeten, der Männer wie der Frauen – erst da war die Umwälzung möglich. „Die ‚Nationalpartei‘ war es, welche die Durchführung erstrebte und vollendete, eine Partei, die ihre Aufgabe darin erblickte, Produktion und Warenvertheilung zu nationalisieren.“ 0 „Sie faßte die Nation nicht auf als eine Vereinigung zu politischen Zwecken, sondern als eine einzige Familie, einen einzigen, lebensvollen, reichgegliederten Organismus, als einen mächtigen zum Himmel aufragenden Baum, dessen Blätter aus den Wurzeln Kräfte saugen und eben dahin zurückströmen lassen. Die denkbar patriotischste aller Parteien, suchte sie dem Patriotismus eine tiefere Bedeutung zu verleihen und ihn vom bloßen Gefühl zu einer vernunftgemäßen Hingabe zu erhöhen, indem sie das Geburtsland erst wahrhaft zu einem Vaterlande, den Götzen, für den man gegebenenfalls zu sterben hatte, zum Fürsorger und Ernährer machte.“

Das Zukunftsbild, welches Bellamy hier in der Form der Rückschau entwickelt, ist eine Utopie, wie so viele andere, die wir in den früheren Kapiteln kennenlernten; aber sie hat stellenweise etwas bestechend Wahrscheinliches, und wenn auch bei dem Verfasser der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen ist, so war es keineswegs jenes Wünschen und Hoffen, das nach den Sternen schlägt, sondern ein solches, welches aus den Ansätzen und Richtungslinien der Gegenwart mit Ernst und Scharfsinn die Fortsetzungen zu ermitteln sucht. Der beispiellose Erfolg, den dieser Roman errungen hat und der wesentlich auch daher rührt, daß auch die oberen Klassen, diejenigen, die an Reichthum und Bildung obenauf stehen, sich daran begeistert haben – dieser Erfolg ist eine Art von innerem Beweis für die Möglichkeit, daß die Sonne des Jahres 2000 wenn auch nicht auf die von Bellamy geschilderten, so doch vielleicht auf andere Zustände herableuchten wird, als diejenigen der Gegenwart sind. Aber freilich, vorläufig – und

damit kehren wir zu Julian West zurück – war das erste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_882.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2020)