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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Er begrüßte die Anwesenden, kam dann zu uns herauf und bat den Kommandeur um Entschuldigung seiner Verspätung wegen, vollkommen ruhig und beherrscht, als hätte er nicht eben - natürlich, er war es - als hätte er nicht eben -

An mir sah er vorbei. Ich nahm es nicht übel, hätte eher das Gegentheil übelgenommen, Er setzte sich auf seinen Platz da unten und begann zu essen, Ich konnte nicht anders, ich sah ihn immerfort an, Er aß sehr rasch; nach jeder zweiten Auster trank er sein Glas aus, Plötzlich hörte er auf und saß da mit blassem Gesicht an seinem Schnurrbart zupfend.

Die schon lustig gewordenen jungen Kameraden neckten ihn.

„Der Kerl sieht aus wie der Fliegende Holländer!“ sagte einer.

„Prosit, Georg!“ rief ein anderer,

Er that Bescheid und saß dann wieder stumm da, nur die Augen brannten düster, Er versuchte öfter zu mir herüberzusehen, aber unterwegs lenkte er seine Blicke doch wieder an mir vorbei. Dann trank er jedesmal sein Glas hastig aus und nach jedem Glase wurde er bleicher.

Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, stand auf, empfahl mich, indem ich etwas von Reisemüdigkeit sprach, und verließ den Saal. Droben saß ich dann wieder Mutterseelenallein mit dem armen leeren Kopf und Herzen - so leer, so arm - ich kann's nicht beschreiben! Ja, was denn nun? Ach, es war ja so einfach!

Es giebt Dinge, die so einfach, so furchtbar einfach, schlicht und wahr sind, daß den Leuten das Herz darüber bricht!

Nein, Leni, nein - das hatte ich nicht gewollt! Wir beide wissen, was es heißt, jene Schmerzen zu erleiden, die ihr beiden jungen Menschenherzen jetzt durchkämpft. Nein, so hatte ich es nicht gemeint! Da ist's natürlich das Beste - das Beste -

Ich stand aus und zog die Klingel.

„Böhme, erkundige Dich 'mal, ob Lieutenant von Felsenberg noch unten ist!“

Er kam zurück: Lieutenant von Felsenberg sei schon seit einer halben Stunde nicht mehr anwesend.

Na, dann morgen früh! sagte ich zu mir, fing an, in der Stube umherzugehen, und betrachtete die Bilder , die an den Wänden hingen, als nähme ich den größten Antheil an ihrem zweifelhaften Kunstwerth, Und dabei dachte ich doch nur immer an den armen Kerl, der so blaß ausgesehen haste, und wie er jetzt im Zimmer herumrasen mochte und den morgenden Tag nicht mehr zu erleben wünschte. Ach, ich kannte ja das alles, ich kannte es ja, und in der Jugend, da sind die Schmerzen noch großer - ich erlebte es ja einst! Und heute? Ich fühlte nichts, ich fühlte nur die Leere. Die Leute, denen in der Schlacht ein Glied abgerissen wird, die sollen auch im ersten Augenblick nichts merken; sie sehen mit Entsetzen und Mitleid ihren verstümmelten Kameraden neben sich an und vergessen die eigene Wunde.

Und das verzweifelte Kind, das sich in seine Kissen vergräbt und weint und weint und sich fürchtet vor dem kommenden Tag, der sie dem ungeliebten Bräutigam in die Arme treibt!

Wie spät war es denn? Zehn Uhr!

Ich klingelte abermals. „Böhme, fragen Sie doch 'mal, wo der Lieutenant von Felsenberg wohnt!“

Er kam zurück. „Gleich hier im Gasthof, im Anbau nach dem Garten zu.“

„Aha!“ Ich kannte die Baracke, die der Wirth als Lieutenantswohnung eingerichtet hatte schon voll früher her; es wohnten da immer zwei von uns. Die Stuben waren miserabel, die Ställe vorzüglich.

„Ob der Lieutenant von Felsenberg zu Hause ist?“ „Zu Befehl, Herr Major - es brennt Licht in seinem Zimmer.“

Ich nahm meinen Reisemantel um und ging die Treppe hinunter über den Hof nach dem Garten, der durch ein niedriges Mäuerchen vom Hof getrennt war. Richtig, in der Stube des Erdgeschosses brannte Licht hinter den Läden. Es war ein ganz niedriges Erdgeschoß, und die Läden hatten so große Spalten, daß man, ohne besonders den Spion zu machen, die Stube übersehen konnte, Warum ich hier stand und hineinschaute? Ja wer kann ermessen, welchem Antrieb der Mensch zuweilen folgt? Unsere Handlungen in solchen Stunden sind wie von einer geheimnisvollen Macht beeinflußt. Ich stand also da und sah hinein.

Er saß an seinem Tisch in der Nähe des Fensters und schrieb. Das ist ja nun nichts Besonderes, aber neben ihm lag etwas, das ließ mir das Herz stille stehen vor Schreck - etwas, das in gar keiner Beziehung zu einem Schreibtisch steht und das doch so furchtbar deutlich die Briefe illustriert: Abschiedsbriefe!

Ich eilte im nächsten Augenblick in den Hausflur - ein einziges lautes Klopfen an der Thür, ein Druck aus die Klinke, und ich stand drinnen.

Er war aufgesprungen und hatte blitzgeschwind sein Taschentuch über das bewußte Ding geworfen. Als er mich erkannte, stützte er sich mit der Rechten fest auf den Tisch, und durch seinen schlanken Körper ging's wie ein Schüttelfrost.

„Guten Abend, Herr Kamerad,“ sagte ich, „verzeihen Sie, daß ich so eindringe so unangemeldet; Sie überhörten wohl mein Klopfen im Eifer des Schreibens?“

Er maß mich von oben bis unten mit einem Blick voll tödlicher Kälte:. „Was befehlen Sie, Herr Major?“

„Nichts, lieber Felsenberg, ich habe nur eine Bitte.“

Er verbeugte sich leicht.

„Kassieren Sie jenen Brief!“

„Herr Major!“ fuhr er auf.

„Und schreiben Sie einen anderen an die alte Frau - es ist wohl an Ihre Frau Mutter? - einen, in dem Sie nicht um Verzeihung bitten, daß Sie ihr einen Schmerz anthun wollten, wie er größer nicht gedacht werden kann! Melden Sie ihr, daß -“

Er sah mich an wie irrsinnig. „Meine Mutter“, sagte er, „meine Mutter!“ Dann lachte er auf,

Ich blickte ängstlich in sein zuckendes Gesicht und folgte mit meinen Augen den seinigen. Und da bemerkte ich an dem linken Arm einen schmalen schwarzen Kreppstreifen

„Meine Mutter ist tot! Vor acht Tagen habe ich sie begraben,“ sagte er klanglos.

Armer Junge, so viel auf einmal! Ja freilich, da mag Dir das Leben keinen Pfifferling mehr werth scheinen! dachte ich, und das Wort, das ich hatte sprechen wollen, erstarb mir auf den Lippen.

„Was befehlen der Herr Major?“ fragte er wieder scharf und laut.

„Nun, Herr voll Felsenberg,“ sagte ich, „und wenn auch die alte Frau der Schlag nicht mehr treffen kann, so doch vielleicht ein anderes Herz, ein junges, schon halb verzweifeltes Herz. Sie haben wohl nicht daran gedacht, wie es weiter. leben soll in dem Bewußtsein: Deinetwegen, da - da ist einer fortgegangen na, wir verstehen uns, Herr Lieutenant. Also verbrennen Sie jenen Brief! Sabine würde sterben, müßte sie ihn lesen. Sagen Sie ihr lieber morgen mündlich: Mein geliebtes Mädchen, meine Braut, wir brauchen uns nicht zu trennen, denn da ist so ein Onkel ein aller thörichter. Onkel, der - der hat die Geschichte in Ordnung gebracht und läßt Dich grüßen. - Also Ihr Wort, Herr Lieutenant - verbrennen Sie den Brief! Und nun gute Nacht! Wenn Sie morgen mittag in das Brenkenhaus kommen so finden Sie offene Thüren,“ Ich nickte ihm zu und schritt über den Hof in mein Zimmer zurück.

Mein Gott, wenn ich nicht zu ihm gegangen wäre - der Heißsporn! Na, ich war ja auch einmal beinahe so weit gewesen, und gegen den genommen - man brauchte ja nur seine Augen zu betrachten - war ich die Gelassenheit selber.

Nun saß ich da am Sofatisch neben der brennenden Lampe, eine Tasse schwarzen Kaffees vor mir und eine Cigarre zwischen den Lippen, und schrieb, Und währenddem packte Böhme wieder ein, was er bereits ausgepackt hatte und bestellte das Wecken auf sechs Uhr früh; um sieben Uhr ging der Schnellzug.

Ein Brief all Tante Klara - das war der schlimmste - ein Brief all mein Pathenkind , einer an Felsenberg, abzugeben um acht Uhr! Und dann mochten sie sehen, wie sie fertig wurden. Ich schlief noch ein paar Stunden, dann fuhr ich in dunkler Morgenstunde aus Wardelingens Thor. Drüben lag der Kirchhof - - Leni, hab' ich es recht gemacht?

Eben war ich in den Eisenbahnwagen gestiegen, da stand vor der noch offenen Thür eine große Gestalt im Mantel, an dem der Wind zerrte. Eine Hand streckte sich mir entgegen und umfaßte mit heftigem Druck die meinige.

„Herr Major - -“ Die Stimme versagte ihm.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_879.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2017)