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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


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Die Chronik des Klausners.
Erzählung von Ernst Lenbach.0 Mit Illustrationen von B. Hohlfeld.

Als das Laub an den Kastanienbäumen ganz vergilbt war und in den Weinbergen die blauen Burgundertrauben reiften, packte Franz Rainer seine Sachen, nahm den Bauer mit seinem Raben sorgfältig in den Arm unb löste sich eine Fahrkarte dritter Klasse nach der großen Stadt am Rhein, um dort Einsiedler zu werden.

Noch selbigen Tages hatte er nach einigem Suchen eine Klause gefunden, die vollkommen seinen Wünschen entsprach: in einer engen, belebten Gasse, zwei Treppen hoch nach der Straße, bei einer dicken Frau, die einen Handel mit Preßhefe trieb und nebenbei auf Pfänder lieh. Das Haus war so schmal, daß es in jedem Stockwerk nur zwei Zimmer faßte. Auf dem zweiten Stock wohnte also außer Franz nur noch eine Partei, und zwar eine Lehrerin, die älteste Mietherin im Hause, wie die Wirthin versicherte.

Nachdem er es sich einigermaßen heimisch gemacht hatte, verwendete er den ersten Abend darauf, sich seine Pläne noch einmal genau klar zu machen, wobei er als philosophisch angelegter Mensch und als Deutscher mit einem Rückblick auf die Vergangenheit anfing.

Vier Jahre hatte er auf der Hochschule verbracht, in den ersten Semestern rechtschaffen Natur und stärkere Sachen genossen, in den folgenden fleißig den philologischen Studien obgelegen. Er hatte sich den Doktorhut erworben durch einen gelehrten Nachweis in lateinischer Sprache, daß der verloren gegangene Kommeiltar eines byzantinischen, schwer auszusprechenden Philosophen zu einer gleichfalls verloren gegangenen Schrift des Aristoteles gar nicht von jenem Philosophen herrühren könne. Auch ein Staatsexamen hatte er abgelegt, aber nicht verwerthet. Dann hatte er in wohlverdienter Erholungszeit allerlei Bücher gelesen, auch solche, auf denen noch nicht der Staub der Jahrhunderte lastete, und schließlich hatte er selber Bücher verfaßt: mehrere fünfaktige Schauspielem, einen starken Band Gedichte und drei oder vier Novellen, die mit einer oder mehreren Verlobungen oder aber mit einem Doppelmord schlossen – alles sauber ins Reine geschrieben und meist noch nicht gedruckt. In dem Kreise seiner gleichstrebenden Freunde genoß er ein gewisses Ansehen als Dichter wie als trinkbarer Mensch. Nach zwei Jahren kam aber einer unter sie, der nicht mehr an Goethe und Schiller glaubte und schreckliche Revolutionsgedanken hegte, besonders nachts von elf Uhr an im Café. Der verlangte, der wahre Dichter müsse die Wahrheit und nur die Wahrheit schildern. Zu diesem Zwecke müsse er sich unter die Menschen begeben, sie beobachten und sozusagen geistig auskultieren, um dann nach gewonnener Diagnose einsam und groß in seine Klause zurückzukehren und dort die Krankheitsgeschichte der Menschheit zu schreiben. Er trug diese Lehren, unter häufigen Hinweisen darauf, daß wir im neunzehnten Jahrhundert lebten, mit großer Ausdauer und so lange vor, bis Franz Rainer schließlich ganz von ihnen durchdrungen war. Zur selben Zeit entdeckte Franz, daß ihm von seinem väterlichen Vermögen gerade noch sechstausend Mark übrig waren. Diese Summe theilte er in drei Theile, wies sich zweitausend Mark als Jahresrente an und beschloß, sich getreu den Lehren des Meisters einzuspinnen, um dann nach vollendetem Studium als glänzender Schmetterling den neuen Dichterlenz zu eröffnen. Drei Jahre dünkte ihm dafür gerade ausreichend. Vorläufig veranschlagte er den Ertrag dieser drei Jahre auf etwa einundzwanzig Novellen – dreimal sieben, denn er hielt etwas auf Zahlenmystik – unter dem Gesamttitel „Die Chronik des Klausners.“ Ein dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch war bestimmt, die Reinschrift dieser Novellen aufzunehmen, und zum Abschluß seines Kriegsplanes setzte Franz Rainer noch am ersten Abend seines neuen Lebens die bewußte Ueberschrift groß und deutlich auf die Titelseite des Buches. Dann bewirthete er seinen Raben, der wie alle Raben Jakob hieß, zur Feier des Tages mit einem Stück Käse, das vom Abendbrot übrig geblieben war, und legte sich „quasi re bene gesta“, als ob nun alles gut wäre, zu Bett. – –

In den ersten Wochen fand Franz Rainer das neue Leben ungemein behaglich. Von seinen beiden Fenstern aus genoß er das bunte Straßenleben aus der Vogelschau. Gewissenhaft wie ein Strandwächter beobachtete er, die Pfeife in der Hand, das wimmelnde Geschäftsgewühl der Leute, den verworrenen Singsang der Straßenverkäufer, die bewegten Scenen, welche sich um ein gestürztes Droschkenpferd oder um einen hoffnungslos betrunkenen Bummler zu bilden pflegen. Alles dieses photographierte er in langen Notizen auf stets bereit liegende Blätter. Dann ging er nachmittags selber unter das Gewühl, suchte und fand besonders ausdrucksvolle Köpfe und Gestalten, welche ihm zu Helden seiner Novellen Modell stehen sollten. Seine Mittagsmahlzeiten nahm er mit Vorliebe in alten verräucherten Weinwirthschaften, wo es vom ältesten Stammgast bis zur Küchenmagd nur Charakterköpfe mit rothen Nasen gab. Auch seine Wirthin und deren Kunden studierte er, mußte aber zu diesem Zwecke in den Laden hinabsteigen, da die geringe Breite der Haustreppen dem Durchmesser seiner Wirthin schon lange nicht mehr gewachsen, auf Besuche von dieser Seite also nicht zu rechnen war.

Bei den ersten Versuchen, das Gewonnene dichterisch auszugestalten, fingen aber ernste Schwierigkeiten an. Da hatte zum Beispiel seine Wirthin ein Milchmädchen, ein ganz herrliches Exemplar von dunkler Poesie in Weiberkleidern, mit schwarzen schweren Haaren, schwarzen tiefgründigen Augen, einer klassisch geschnittenen Nase und vollen Rubinlippen, gewachsen wie die Königin Bathseba. Man brauchte diese Jungfrau nur anzusehen, so stand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 845. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_845.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2023)