Seite:Die Gartenlaube (1893) 814.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

wenn ich auch bedauern werde, daß unser Verkehr ein so plötzliches Ende finden muß.“

Erwin stand sprachlos vor diesem Räthsel. Konnte die Reue, die Beschämung Carrys, sich ihrem Gefühl widerstandslos hingegeben zu haben, sie so gänzlich daniederdrücken, daß sie ihm nun nie mehr ins Auge sehen wollte, daß sie ihn, den sie doch liebte, für immer verbannte? Was hinderte sie denn, ihrem Gefühl zu folgen?

Gewaltsam riß er sich aus seiner Erstarrung und trat ihr ein paar Schritte näher. „Carry,“ begann er in weichem, von wirklicher Gemüthsbewegung durchzittertem Tone, „ich gehe, denn ich sehe und kann Ihnen nachempfinden, daß Sie jetzt allein zu sein wünschen. Morgen aber, Carry, morgen sollen auch die anderen erfahren wie glücklich ich geworden. Morgen kehre ich zu Dir zurück, meine süße Braut, um Hand in Hand mit Dir –“

Sie wandte sich so heftig zu ihm um, daß er bestürzt innehielt. Die Arme auf der Brust verschränkt, schaute sie ihn kalt und abweisend an, in ihren Zügen war keine Spur mehr von der leidenschaftlichen Bewegung, die sie eine Minute vorher an seine Brust getrieben hatte.

„Wenn ich Sie recht verstehe, Mister Hagen,“ erwiderte sie kühl, „so beabsichtigen Sie, morgen Ihre Werbung bei meinen Eltern anzubringen.“

„Das erscheint mir selbstverständlich, Miß Carry,“ stammelte er, nach Fassung ringend.

„Selbstverständlich!“ Ein spöttisches Zucken um die Mundwinkel begleitete diesen Ausruf. „Bitte, Mister Hagen, wollen Sie mir sagen, welche Stellung Sie mir an Ihrer Seite bieten können? Ich bemerke Ihnen, daß ich ein wenig verwöhnt bin und daß ich, wenn ich mich einmal verheirathe, meine Ansprüche an Behaglichkeit und Genuß natürlich nicht herabstimmen werde, Im Gegentheil! Sonst wäre es eine lächerliche Thorheit, meine Eltern, die mir jeden Wunsch erfüllen, zu verlassen.“

Erwin war bei diesen Worten ganz blaß geworden. Also er war für dieses herz- und gemüthlose Geschöpf nichts anderes gewesen als ein Spielzeug, das man achtlos wegwirft, wenn man es satt bekommt, und was er vorhin für ein elementares Aufwallen ihrer Leidenschaft gehalten hatte, war nur eine frivole Laune! Seine Liebe hatte sie sich gefallen lassen, aber ihm die Hand zu reichen, das dünkte sie „eine lächerliche Thorheit“! Empört fuhr er auf. „Die Frage, Miß Sumner, die Sie soeben an mich gestellt haben, würde in meiner Heimath niemals eine junge Dame an einen Mann richten. Ein deutsches Mädchen würde, bevor sie einem Manne in monatelangem Verkehr ihre Neigung kundgiebt, im klaren darüber sein, daß ihr Pflicht und Liebe gebieten, an seiner Seite jedes Los auf sich zu nehmen.“

Sie lachte schrill auf und entgegnete dann in beißendem Spott: „Ich weiß es, Mister Hagen, ich weiß es. Leider bin ich aber kein blondes deutsches Gretchen, und wenn Sie das vergessen haben, so ist es nicht meine Schuld. Ich weiß, daß man bei Ihnen andere Anschauungen hat als bei uns, wo es für selbstverständlich gilt, daß der Mann die Sorge für seine Frau auf seine eigenen Schultern nimmt, wo man eine Frau um ihrer selbst willen begehrt und nicht – des Geldes ihres Vaters wegen.“

Erwin zuckte zusammen, doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr die Amerikanerin mit überlegener Ruhe fort: „Und nun, Mister Hagen, lassen Sie uns eine Unterredung beenden, die für beide Theile peinlich und zwecklos ist.“ Sie kehrte sich ab und schritt wieder dem Fenster zu.

Erwin drehte sich mit heftigem Ruck herum und ging zur Thür. Dort aber machte er noch einmal Halt, der Sturm, der in ihm tobte, drohte, ihn zu ersticken, wenn er ihm nicht Worte lieh. „Ich gehe, Miß Sumner, und mit Freuden, denn jetzt kenne ich Sie ganz. Und wenn ich auch die Lehre, die Sie mir soeben ertheilt haben, verdiene, zum Theil wenigstens verdiene, so ist doch Ihr Verhalten, meine stolze Lady, noch viel weniger einwandfrei, und nur der Umstand, daß Sie ein Weib sind, verhindert mich, ihm den rechten Namen zu geben.“

Er machte eine kurze Verbeugung und hatte im nächsten Augenblick das Zimmer verlassen. Ihm nach schallte ihr zorniges Lachen.

Als Erwin seine Wohnung erreicht hatte, warf er sich in stumpfem Brüten auf einen Stuhl, und während er dieser neuen Demüthigung nachsann, trat in seinem Geiste neben das Bild der koketten Amerikanerin die schlichte Erscheinung Klaras, wie er sie einst in glücklichen Tagen gekannt hatte. Nie war ihm ihr bescheidenes, selbstloses Wesen so überzeugend zum Bewußtsein gekommen wie in diesem Augenblick. Und im Ueberschwang seines Gefühls warf er sich auf die Knie nieder, und die Hände in flehender Gebärde ausstreckend, bat er dem armen, betrogenen Mädchen reumüthig alle Unbill, alles Leid ab, das er ihr zugefügt.

*  *  *

Als Erwin am anderen Vormittag in das Zimmer trat, in dem die oberste Klasse seiner Schüler versammelt war. bemerkte er, wie sich Miß Sumner bei seinem Erscheinen in zorniger Enttäuschung auf die Lippen biß. Er aber zuckte kaum merklich mit den Achseln und begann scheinbar gleichmüthig den Unterricht, während Miß Carry zerstreut zu Boden blickte und offenbar mit sich zu Rathe ging.

Nach Beendigung der Stunde sah Erwin, wie die Amerikanerin, die ihn keines Blickes, keines Abschiedsgrußes würdigte, in das Privatzimmer des Direktors eintrat, und eine Regung der Genugthuung durchzuckte ihn. Nun ging sie, weil er ihr nicht das Feld geräumt hatte, und kündigte Herrn Beelitz die Stunden auf. Mochte sie gehen! Ein Thor wäre er gewesen, wenn er ihretwegen seine Stellung aufgegeben hätte. Einer Miß Sumner schuldete er keine zarte Rücksicht.

Am Nachmittag, als er mit seinem Tagewerk zu Ende war, rief ihn Herr Beelitz in sein Zimmer. Ahnungslos, irgendwelche Anordnung wegen des Unterrichts erwartend, folgte Erwin.

„Herr Hagen,“ nahm der Direktor das Wort und maß den vor ihm Stehenden mit einem kalten, stechenden Blick, „ich habe während der letzten Wochen wiederholt die Bemerkung machen müssen, daß Sie sich nicht mehr mit dem nöthigen Eifer dem Unterricht widmen, und da mir überdies von seiten der Schüler Klagen über Sie zu Ohren kommen –“

„Miß Sumner?“

„Allerdings, Miß Sumner,“ bestätigte Herr Beelitz. „Sie beklagt sich, daß Sie im Verkehr mit ihr nicht den richtigen Ton beobachtet hätten, nicht jene Artigkeit und Zurückhaltung, die ich unter allen Umständen im Hinblick auf den guten Ruf meiner Anstalt von meinen Lehrern fordern muß. Und da ich außerdem weiß, daß Sie Ihrerseits mit den Forderungen, die ich an Ihre Leistungen stelle, unzufrieden sind, so halte ich es für das Beste, wir trennen uns, Fräulein Wagner wird Ihnen Ihren vollen Wochengehalt auszahlen.“

Damit setzte sich Herr Beelitz nach einer förmlichen Verbeugung an sein Pult. Erwin wußte nicht, wie ihm geschah. Dieser Schlag war so unerwartet auf ihn herabgefahren, daß er nicht imstande war, seine ganze Schwere zu ermessen. Langsam ging er hinaus, dem Bureau zu. Jeder Versuch, den Direktor umzustimmen, wäre vergebens gewesen. Miß Sumner, das sah er nun klar, war seine erbitterte Feindin geworden und hatte es sich zur Anfgabe gemacht, ihn aus der Stellung, in der er ihr unbequem war, zu verdrängen, und er wußte, daß es einer der Geschäftsgrundsätze des Herrn Beelitz war, lieber zwei Lehrer fortzuschicken als einen Schüler zu missen.

Unsicheren Schrittes betrat Erwin das Bureau. Die Bankanweisung lag ausgefüllt für ihn bereit; er nahm sie schweigend an sich, ängstlich darauf bedacht, dem Blick Klaras, den er fürchtete, nicht zu begegnen. Und so konnte er nicht sehen, daß diese zitternd vor ihm stand, daß sie mit sich rang und kämpfte, daß sie ansetzte, um zu sprechen, und doch kein Wort über die blassen Lippen brachte. So ganz versunken war er in sein Mißgeschick, so ganz verwirrt und betäubt von dem, was ihm widerfahren war, daß er auch nicht wahrnahm, wie ihm ihre Augen voll schmerzlicher Theilnahme folgten und wie sie, während er die Thür öffnete, ihm hastig einen Schritt nachging. Und da er die Thür mit lautem Schlag achtlos hinter sich ins Schloß fallen ließ, so konnte er auch den kurzen, erstickten Schrei nicht hören, der jetzt sich Klaras Brust entrang,


12.

Erwin besaß, als er aus seiner Stellung in der Beelitz-Schule schied, nichts als seinen letzten Wochengehalt. Sein Verkehr mit Miß Sumner hatte so viele Ausgaben mit sich gebracht, daß er auch nicht einen Cent zurücklegen konnte. Skrupel hatte er sich deswegen nicht gemacht, denn abgesehen davon, daß es nicht seine

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_814.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)