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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

schien sich plötzlich zu lichten: seine Mutter hatte es so gewollt! Noch immer wagte sie nicht, den Blick zu ihm zu erheben; aber sie fühlte, wie seine Augen sie betrachteten, verschlangen.

„Wie süß es hier duftet!“ sagte er leise. „Wie nach blühenden Linden.“

„Im August?“ fragte sie ironisch; aber ihre Stimme klang gepreßt.

„Vielleicht ist es nur die Erinnerung, die mich überkommt. Jeder hat einmal eine Stunde, in der das Glück ihn streift – auch mir ist eine solche Stunde geworden, und damals blühten die Linden. Seitdem giebt es für mich keinen süßeren Duft in der Welt.“

Eine gewaltsam zurückgehaltene Empfindung sprach aus seinen Worten. Er heuchelte nicht – seine Leidenschaft war echt. Er, der Unstete, den die Mädchen den „Eintagsfalter“ nannten, der bisher leichten Herzens mit der Liebe getändelt hatte – er fühlte sich plötzlich umstrickt von Banden, die ihn festhielten, die er nicht abzuschütteln vermochte. Es war der dämonische Zauber des Unerreichbaren, des Verbotenen, der ihm die verführerische Frau, die da vor ihm im Dämmerlicht zwischen dem Weinlaub lehnte, so unwiderstehlich machte.

„Ein Jahr! Wie es die Menschen entfremden, wie es die Welt verändern kann!“ fuhr er leise fort, die Augen fest auf Dora geheftet, als müsse er sie zwingen, ihn anzusehen. „Denken Sie auch noch der Vergangenheit, gnädige Frau? Vor einem Jahr –“

Sie öffnete plötzlich die Lippen, die sie fest aufeinander gepreßt hatte. „Vor einem Jahr war ich mit meinen Eltern auf dem Lande in einem stillen Gebirgsdorf,“ erwiderte sie. Sie sah ihm kalt in das leidenschaftlich erregte Gesicht.

Er aber ließ sich durch diese scheinbare Kälte nicht täuschen. „Wenn sich ein Jahr fortdenken ließe!“ seufzte er, „wenn jener süße Lindenduft wiederkäme und die ewig verlorene, unvergeßliche Stunde des Glücks! Ihnen hat dieses Jahr nur geschenkt und geschenkt – mir hat es alles genommen. Vielleicht durch eigene Schuld, vielleicht –“

Sie nahm plötzlich alle ihre Kraft zusammen; dicht an ihm vorbei ging sie in das Zimmer und klingelte. Ein jähes Entsetzen hatte ihr die Beherrschung wiedergegeben.

Die Dienerin trat ein mit der Lampe. Das Licht erschien ihr wie eine Rettung. Während das Mädchen die Vorhänge am Fenster zuzog, wandte sich Dora an den Assessor, der noch an der Thür zur Veranda stand. „Ich wiederhole Ihnen meinen Dank, Herr Assessor, daß Sie sich herbemüht haben, um mir Unruhe zu ersparen.“ Sie reichte ihm die Hand.

Diese Worte, in Gegenwart der Dienerin gesprochen, waren eine deutliche Verabschiedung, der er sich fügen mußte. Aber es blitzte doch ein Ausdruck des Triumphes aus seinen Augen. Im Lampenlicht sah er erst die Blässe auf ihrem Gesicht, das Beben ihrer Gestalt, ihre Fassungslosigkeit. Er fühlte bei der leisen Berührung ihrer fiebernden Finger, wie ihr ganzes Wesen im Aufruhr war trotz ihrer erheuchelten Gelassenheit. Mit einer stummen Verbeugung verabschiedete er sich.

Als Dora allein war, trat sie wieder auf die Veranda; durch die geöffnete Thür fiel der Lichtschimmer über ihre helle Gestalt. Sie hörte den Wagen fortfahren; aber Emil war nicht eingestiegen. Sie unterschied trotz der Dämmerung seine Gestalt, die an dem eisernen Gartengitter entlang schritt. Auf der Straße, ihrem Hause gerade gegenüber, blieb er wie festgewurzelt stehen und schaute zurück. Sie wollte im ersten Augenblick sich ins Zimmer zurückziehen, dann aber blieb sie doch regungslos, finster vor sich hinstarrend.

Sie freute sich nicht über ihren Sieg. Reue ergriff sie, ein unsägliches Verlangen, ihn zurückzurufen, ihn zu fragen: warum hast Du mich nicht zu Deiner Frau gewollt? Warum hast Du uns beide so elend gemacht? Sie verzieh es sich nicht, daß sie ihn nicht hatte zu Ende reden lassen. Mit der Ueberzeugung, daß ein fremder Wille ihn von ihr getrennt habe, der Wille seiner Mutter, würde ihr die Entsagung leichter werden – so wähnte sie. Die Liebe versteht sich ja so merkwürdig gut auf Trugschlüsse!

Emil stand noch langge auf der Straße und blickte zu der hohen hellen Gestalt hinüber. Dann ging er, wie berauscht von einem giftigen Trank. Sein Entschluß war gefaßt. Statt in ein paar Tagen, wenn sein Urlaub begann, fortzureisen, wollte er in der Stadt bleiben, in Doras Nähe. Während seine Freunde auf den höchsten Bergspitzen die Gefahr suchten, wolltr er hier einen Weg gehen, auf dem jeder Schritt Verderben brachte. Diese Frau gewinnen, diese Lippen küssen, die einem anderen gehörten! Ein tollkühner Plan, aber um so lockender, um so verführerischer, weil der, der ihn betrat, seine Existenz in die Schanze schlug! Er sah Dora in einem falschen Licht. Aus dem schwärmerischen Kind, das sie vor einem Jahre noch gewesen war, schien sie ihm jetzt ein verlangendes Weib geworden zu sein, an dessen Verstellungskunst er glaubte, dem er Klugheit, Leidenschaft und List zutraute. Er ahnte gar nicht, wie viel von dem alten Kinderwahn noch in dem Herzen der schönen Frau zurückgeblieben war.

Der Zufall schien mit Emil verschworen, um Dora zu verderben. Ihr Gatte mußte in die Reichshauptstadt verreisen. So war sie nun ganz der Einsamkeit überlassen. Ihre Bekannten waren auf dem Lande, es kam kein Besuch mehr, nur ab und zu ein Brief, der sie in die Wirklichkeit zurückrief, sie dem Traumleben entriß, das sie führte, während dieser heißen wolkenlos blauen Augusttage, auf die so wunderbare leuchtende Nächte folgten.

Jeden Abend, wenn es ganz dunkel, ganz still auf der Höhe geworden war, sah sie vor dem Gitterthor, der Veranda gegenüber, einen Mann lehnen. Niemand außer ihr bemerkte ihn; kein Mensch ging mehr durch die Straße. Sie unterschied die Umrisse seiner Gestalt, sie wußte, wer es war, der da zu ihr emporschaute. Das Bewußtsein, daß seine Blicke sie umspannen mit einem Netz, das sich enger und enger um sie schloß, machte sie fiebern. Es kam sie die Lust an, ihn fortweisen zu lassen, diesem stummen Anstarren, durch das er Macht über sie gewann, mit Gewalt ein Ende zu machen. Und wenn er dann in später Stunde seinen Posten verließ, dann war es ihr doch, als habe das Glück an der Pforte gestanden, ohne daß sie die Arme danach ausstrecken durfte. Am Tage zitterte sie, so oft die Klingel gezogen wurde, weil sie fürchtete, er würde kommen, und wenn dann irgend eine gleichgültige Anfrage gemeldet wurde, so war sie doch enttäuscht.

Einmal erschien die Gelleralin Halden bei ihr zum Besuch.

„Ich bin selbst herausgefahren, liebe Dora,“ sagte sie „weil ich Sie persönlich bitten wollte, übermorgen zu mir zu kommen. Sie werden gelesen haben, daß an diesem Tage der Schützenzug stattfinden wird. Er geht an meinen Fenstern vorüber. Sie müssen ihn sich ansehen! Nein, nein – ich dulde gar keine Ausrede, ich nehme einen Korb unter keinen Umständen an. Wissen Sie, daß Sie wirklich leidend aussehen? Diese Abgeschiedenheit hier draußen taugt nicht für eine junge Frau. Wir werden nur eine kleine Gesellschaft bei uns haben – lauter Bekannte!“

Du darfst nicht hin, er wird kommen – gerade weil er kommen wird, mußt Du hin; es wird besser sein, wenn Du wieder einmal mit ihm gesprochen und erfahren hast, daß sein Zauber nicht unwiderstehlich ist – diese Gedanken stürmten auf Dora ein. Sie besann sich eine Weile, dann sagte sie ihr Erscheinen zu. Als die Generalin sich empfahl, rief sie noch ein fröhliches: „Auf Wiedersehen also! Schon um neun Uhr morgens! Verspäten Sie sich nur nicht!“

Mit dem festen Vorsatze, dem Assessor so kalt und abweisend wie nur möglich zu begegnen, fuhr Dora am übernächsten Tage in die Stadt, wo in den Straßen bunte Fahnen flatterten und überall schon Scharen von Neugierigen in gespannter Erwartung sich drängten. Emil war bereits anwesend, als Dora bei der Generalin eintrat. Seine Augen grüßten sie, aber er hielt sich ihr ferne. Sie bemerkte dennoch, daß er sie unablässig beobachtete und sich nur deshalb stumm von der Gesellschaft in eine Fensterecke zurückzog, um jeder ihrer Bewegungen folgen zu können. Das machte sie verwirrt; sie wußte kaum, was sie redete.

Jetzt begann auf der Straße die Musik, die ersten Schützenfahnen flatterten lustig heran. Man stellte sich an die Fenster. Emil hatte es so einzurichten gewußt, daß er hinter der Frau des Hauses und Dora seinen Platz fand. Die Generalin aber war zu lebhaft, um an derselben Stelle zu verweilen, und als nun die künstlerisch geschmückten Wagen mit den kostümierten Gruppen vorüberkamen, eilte sie bald zu diesem, bald zu jenem ihrer Gäste, um eine Bemerkung auszutauschen. Laut schmetterte die Musik, die Menge rief „hoch“ – ein tosender Jubel drang in die Zimmer herauf. Dora faßte einen plötzlichen Entschluß. Sie wollte die Gunst dieser Minuten benutzen, wollte ein Ende machen mit den Kämpfen der letzten Wochen, mit dieser rastlosen Sehnsucht, die er ihr Abend für Abend aufdrängte durch seine stumme Gegenwart.

„Warum kommen Sie jeden Abend in später Stunde in die Gegend, in der ich wohne?“ fragte sie hastig; ihre Augen glühten. „Wie können Sie es wagen, stundenlang vor meinem Garten zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 770. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_770.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)