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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

zugebracht und kehrte nun unter dem Schutz ihres Onkels in das elterliche Haus nach New York zurück.

Sowohl Mister Hopkins wie seine Nichte radebrechten das Deutsche ziemlich geläufig, und das war ein Glück für Erwin, denn er verstand vom Englischen so gut wie nichts. Zwar hatte er sich vorgenommen, sich während der Seereise fleißig mit der englischen Sprache zu beschäftigen, und zu diesem Zweck vorsorglich Grammatik und Sprachführer mitgenommen, aber es kam auch hier anders. Der Teufel mochte in der schwülen Kabine hinter der langweiligen Grammatik sitzen, wenn Miß Sumner mit den blitzenden schwarzen Augen und dem neckischen Lachen einen auf Deck erwartete.

Der Umgang mit der hübscheu Dame hatte etwas ungemein Reizvolles für Erwin, der bis dahin noch nie einer Amerikanerin begegnet war. Die ungezwungene Art, die sie im Verkehr mit ihm zeigte und die so angenehm abstach von dem förmlichen Wesen der jungen Damen seines früheren Kreises, machte auf ihn einen tiefen Eindruck. Mit wahrem Feuereifer widmete er sich ihrem Dienst, und sie verstand es, ihn stets in Athem zu erhalten. Bald „durfte“ er ihr den Plaid aus dem Salon heraufholen, bald den Klappstuhl von einem Ende des Decks zum anderen nachtragen; dann wieder ersuchte sie ihn um seinen Arm, um mit ihm einen Rundgang zu machen. Dabei hatte ihr Wesen etwas Eigenwilliges, Launisches, wie das eines verzogenen Kindes, welches gewohnt ist, daß ihm alle Welt den Willen thut. Und wehe ihm, wenn er ihr zu widersprechen wagte oder sich nicht gleich einem ihrer Wünsche fügte! Sie schmetterte ihn dann mit ihren Blicken förmlich zu Boden und kanzelte ihn majestätisch ab.

Erwin aber fand auch diese Eigenschaft ungemein anziehend und ging ganz auf in seiner Bewunderung für das Fräulein. Wenn dennoch manchmal in Augenblicken des Alleinseins der Gedanke an die Zukunft mahnend und verstimmend durch seine Seele zog, so tröstete er sich schnell mit dem Bewußtsein, daß er ja nicht ganz ohne Mittel dastehe. Befand er sich erst einmal drüben, so war es immer noch Zeit, sich mit der Frage des Fortkommens zu beschäftigen. Vor dem Verhungern schützten ihn vorläufig die sechshundert Mark, die er noch sein eigen nannte. Und mit dem ganzen Leichtsinn seiner Natur gab er sich dann wieder dem Vergnügen hin, das der Umgang mit der Amerikanerin ihm gewährte, Die Bevorzugung, die sie ihm zu theil werden ließ, schmeichelte nicht nur seiner Eitelkeit, sondern regte ihn auch zu allerlei schönen Zukunftsträumen an. Daß Mister Sumner in New York ein wohlhabender, wenn nicht ein reicher Mann war, glaubte er nach allem, was er von seiner Tochter sah und hörte, mit Sicherheit annehmen zu dürfen, überdies war sie, wie sie ihm gelegentlich mittheilte, das einzige Kind ihrer Eltern. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, in Amerika müheloser sein Glück zu machen, als er je zu hoffen gewagt hatte!

Daß Miß Carry Gefallen an ihm fand, lag auf der Hand. Er bedauerte nur, daß er sich bei ihr und ihrem Onkel wie überhaupt auf dem Schiff einfach als „Erwin Hagen“ eingeführt hatte; sein wahrer Name, der mit dem Wörtchen „von“ davor so stattlich klang, hätte ihr gewiß Eindruck gemacht. Aber er tröstete sich bald in der Ueberzeugung, daß ihm die Eroberung der reichen Erbin auch so nicht allzu schwer fallen dürfte. Schade war es nur, daß die Reise so kurz dauerte und wie im Fluge dahinschwand. Doch zweifelte er nicht, daß Carry ihn in das Haus ihrer Eltern einladen und so der lebhafte Verkehr zwischen ihnen in New York sich fortsetzen würde. Denn Miß Sumner schien ohne seine kleinen Dienstleistungen sich gar nicht mehr behelfen zu können und behauptete, es fehle ihr etwas, wenn Erwin einmal durch die Partie Schach, zu der ihn Mister Hopkins alltäglich nach dem Essen mit Beschlag belegte, länger als gewöhnlich festgehalten wurde. Im übrigen störte Mister Hopkins die beiden jungen Leute sehr wenig; er kam nur selten auf das Verdeck und verbrachte den größten Theil seiner Zeit unten im Rauchzimmer.

Der letzte Tag der Seereise war gekommen. Erwin befand sich schon vom frühen Morgen an auf Deck und war in einer außergewöhnlich erregten Stimmung. Doch nicht der Gedanke an die Unsicherheit seiner Zukunft war es, der seine Wangen dunkler färbte und seine Schritte hastiger machte, sondern die Erwartung, was Miß Carry thun werde. Sie hatte noch mit keinem Worte der bevorstehenden Trennung gedacht und ebenso wenig von einer Fortsetzung ihres Verkehrs gesprochen, offenbar, weil sie sich das zum letzten Abschiedswort aufsparen wollte. Aber obgleich er sich immer wieder diese tröstliche Versicherung gab, so kam doch ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit und Angst über ihn, und er machte sich Vorwürfe, daß er seine Zeit nicht noch besser ausgenutzt, daß er sich nicht in einer jener unvergeßlichen Abendstunden, während sie, dicht nebeneinander an der Brüstung des Schiffes lehnend, dem Spiel der Wellen zuschauten, der Amerikanerin offen erklärt hatte. Warum war er nur so unbegreiflich zaghaft gewesen?

Erst sehr spät – Erwins Ungeduld war bereits aufs höchste gestiegen – erschien Miß Carry in Begleitung ihres Onkels auf dem Verdeck. Erwin stürzte ihr entgegen, mit der freudigsten Miene und mit Augen, die alle seine Empfindungen widerstrahlten. Sie aber war auffallend zerstreut, beantwortete seinen herzlichen Gruß nur mit einem Nicken und einem kühlen „Guten Morgen!“ und begann mit ihrem Onkel ein lebhaftes englisch geführtes Gespräch, von dem Erwin nicht ein einziges Wort verstand. Dabei deutete sie ununterbrochen auf verschiedene Punkte der Küste und schien ganz in der Bewunderung ihrer Heimath aufzugehen. Vergebens bemühte sich Erwin, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Entweder überhörte sie seine Bemerkungen oder sie fertigte ihn ungeduldig ab, so daß er schließlich ganz betreten stillschwieg. War das dieselbe Miß Carry, die noch gestern so herzlich mit ihm geplaudert hatte, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres in der Welt denn seine Unterhaltung? War es nur das Entzücken über das Wiedersehen der Heimath, das ihr Herz für alle anderen Empfindungen abstumpfte?

Mit solchen Fragen beschäftigt, stand er voll Aufregung und Ungeduld beiseite und wartete auf den ersehnten Zeitpnnkt, wo sie sich ihrer alten Vertraulichkeit erinnern würde. Aber er wartete vergeblich. Je mehr sich das Ziel der Reise näherte, desto offenkundiger wandte sie sich von ihm ab, desto ausschließlicher plauderte sie mit ihrem Onkel. Und nun legte man an dem New York gegenüberliegenden Landungsplatze in Hoboken an, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet hatte. Mit einem plötzlichen Entschluß trat er dicht an sie heran, um sie zu fragen, ob er das Glück haben könne, sie auch in Zukunft zu sehen, aber in demselben Augenblick stürzte sie mit einem lauten Ausruf an die Brüstung vor, zog ihr Taschentuch und winkte damit zum Landungsplatz hinüber. „O dear papa, dear papa!“ rief sie dabei in einem fort und nickte eifrig einem ältlichen Herrn zu, dessen plumpes Gesicht mit der breiten rasierten Oberlippe und dem häßlichen Kinnbart dem neugierig hinunterschauenden Erwin nichts weniger als anziehend vorkam.

Schon wurde die Landungstreppe befestigt, schon verließ der erste Fahrgast das Schiff, als sich Miß Carry endlich ihres deutschen Reisegefährten erinnerte. Sie wandte sich flüchtig nach ihm um und reichte ihm die Hand. „Good bye, Mister Hagen! Leben Sie wohl!“ Nichts weiter, nicht ein Wort des Bedauerns über die Trennung, nicht einmal ein Lächeln, kein herzlicher Blick – nichts, gar nichts als das kalte förmliche „Good bye!“

Und eilig, ohne nur einmal den Kopf nach ihm zu wenden, huschte sie weg. Erwin stand wie betäubt und bemühte sich, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Noch ehe er aber seine Haltung wiedergefunden hatte, erklang die Stimme des Mister Hopkins an seiner Seite. „Good bye, Mister Hagen. Lassen Sie sich’s gut gehen! Und wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ Der Amerikaner reichte ihm eine Karte, nickte und verschwand.

In der ersten Minute hatte Erwin die Empfindung einer unendlichen Verlassenheit. Er kam sich wie ein Abgesetzter vor, und trotz der Wärme des Sommertages fuhr er fröstelnd zusammen. Unentschlossen, verwirrt und rathlos sah er in das Gewühl der Mitreisenden, die sich heiter und zukunftsfroh an ihm vorbeidrängten. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand redete ihn an. Fremd war ihm alles, was sein Auge erblickte, unverständlich, was sein Ohr vernahm.

Und dann blickte er auf die Karte, die er noch immer in der Hand hielt, und in plötzlich aufwallender Wuth zerriß er sie in kleine Stücke, die er. mit einer grimmigen Verwünschung ins Wasser warf. Die Adresse, auf die er nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte, lautete:

Edward Hopkins  
with R. Hoe & Co. 
124 Grand Street  
New York.  

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_728.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2023)