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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

zusammensaßen. Rasch und leise schlüpfte sie in ihre Schlafstube, fand aber zu ihrer größten Enttäuschung ihre beiden jüngeren Schwestern, mit denen sie das Zimmer theilte, noch wach. Mit heißen Wangen richteten sie sich in den Kissen auf, als Dora eintrat.

„Was ist denn mit Papa? Weißt Du’s nicht, Dora?“ fragten sie eifrig. „Er kam so aufgeregt nach Hause. Die Mama hat geweint. Geh’ doch hinüber zu den Eltern. Uns hat man natürlich weggeschickt. Aber Dir wird man sagen, was das alles zu bedeuten hat.“

„Morgen werden wir es ja hören, beruhigt Euch nur und schlaft endlich! Ich bin müde.“

Sie warf rasch die Kleider ab und löschte das Licht aus. Mit wahrer Gier sehnte sie sich nach dem Dunkel, nach der Stille, um wieder zurückzukehren in ihren Himmel. Jedes Alltagswort schien ihr eine Entweihung. Erst vermochte sie gar nicht zu denken; sie fühlte, wenn sie die Augen schloß, nur die bange Wonne wieder, welche sie bei der Berührung seiner Lippen durchfluthet hatte, und hörte, wie ihr Herz klopfte. Dann aber bemühte sie sich, mit ruhiger Vernunft in die Zukunft zu schauen. Sie sah keine Schatten, nur eitel Licht. Emil war begabt, im besten Fahrwasser; sein Minister hielt große Stücke auf ihn, wie die Generalin ihr erzählt hatte. Warum sollten ihn die Eltern nicht mit Freuden als Schwiegersohn begrüßen, auch wenn man mit der Vermählung noch eine Weile warten mußte, bis Emil zu einem höheren Posten vorgerückt war! Emil! Ganz leise versuchte sie, wie es klingen würde, wenn sie ihn einmal „Du“ nennen durfte. „Du lieber, Du geliebter –“

Mit einem Lächeln schlief sie ein.


Am nächsten Tage brachte die Zeitung eine Nachricht, die in den weitesten Kreisen Aufsehen erregte: der Kabinettsekretär Herwald war beim König in Ungnade gefallen. Rechtsanwalt Rotte hatte nicht zu viel behauptet, wenn er noch vor Wochen Doras Vater als den einflußreichsten Mann im Staate bezeichnet hatte. Der König, den ein schweres Gehörleiden menschenscheu und mißtrauisch machte, zog sich immer mehr in die Einsamkeit seines fern von der Hauptstadt gelegenen Schlosses zurück; so ward der Sekretär, dem er sein Vertrauen schenkte, zum Vermittler, der zwischen dem König und den Ministern stand, durch dessen Hände alle Regierungsgeschäfte liefen. Ein paar Jahre lang hatte Herwald die Gunst des Königs unumschränkt genossen – nun auf einmal wurde sie ihm entzogen. Niemand, nicht einmal Herwald selbst, wußte, wodurch er sie verscherzt habe. Ob eine seiner Aeußerungen vom Könige mißverstanden wurde oder ob sein Organ, so klar und klangvoll es war, doch die Kraft verloren hatte, zu dem Ohr des Königs zu dringen, der mit krankhafter Zähigkeit seine Schwerhörigkeit zu verbergen suchte – es blieb ein ungelöstes Räthsel. Gewiß war nur eines: daß der verdüsterte Herrscher das einmal verlorene Vertrauen nie wieder zurückgewann und einen entlassenen Günstling nie mehr in seiner Nähe duldete.

Herwald war durch diese plötzliche Ungnade allerdings nicht aller seiner Würden enthoben worden; er konnte, mit einer Beförderung sogar, seinen früheren Dienst als Beamter wieder antreten. Aber Macht ist süß! Es schmeckte bitter, sich nach einigen Jahren der Herrschaft wieder unter Vorgesetzte zu fügen; aus dem einflußreichsten Mann, dem alle Welt geschmeichelt hatte, sich in einen schlichten Beamten zurückzuverwandeln, der seine Pflicht thun mußte, ohne eine Rolle zu spielen.

So herrschte denn im Hause Herwald eine gedrückte Stimmung – für Doras Liebestraum keine günstige Atmosphäre. So sonnenhell im ersten Taumel des Glückes die Zukunft ihr erschienen war, jetzt wollten ihr manchmal dunkle Schatten den frohen Blick in die Ferne verhüllen. Emil hatte noch kein bindendes Wort gesprochen, er mußte die volle Klarheit und Gewißheit erst bringen, und ach, er zögerte so lange, das zu thun! Aber aus den Zweifeln, die ihr Herz bedrängten, riß sie sich immer wieder zuversichtlich heraus. Hatten seine Blicke ihr nicht schon längst seine Liebe gestanden; wäre es möglich gewesen, daß er sie küßte, wenn er nicht im Ernste um sie werben wollte? Und ihre Phantasie hob die Schwingen und schuf ihr Träume, über denen sie die Verstimmung der Eltern und die ganze Wirklichkeit vergaß, in denen das Luftschloß ihres künftigen Heims fertig stand bis auf die Einzelheiten der Einrichtung, bis auf den Salon im Rokoko- und das Eckzimmer im Renaissancestil, bis auf den gedeckten Tisch, an dem zwei glückliche Menschenkinder saßen. –

Es war einige Tage nach der Gesellschaft bei der Generalin, als Dora mit ihren Schwestern über die städtische Promenade ging. Ohne sich an der lebhaften Unterhaltung ihrer Begleiterinnen zu betheiligen, schritt sie dahin, ganz in das phantastische Spiel ihrer Gedanken versunken. Plötzlich zuckte sie zusammen – ein zufälliger Blick hatte ihr Emil gezeigt, der, als er sich bemerkt sah, rasch auf sie zukam. Er grüßte sehr verbindlich und erkundigte sich dann eifrig nach ihrem Befinden. Dora hatte Mühe, ihre Haltung wiederzufinden. Da stand er vor ihr, den sie im Geiste eben zu ihren Füßen gesehen, aus dessen Mund sie zärtliche Liebesworte vernommen hatte, während sie ihm die Haare aus der hohen Stirne strich! Sie wurde dunkelroth, als sie ihm jetzt in Wahrheit in die Augen blickte, und konnte nur schwer auf seine alltägliche Frage eine Antwort finden.

Ihre Verwirrung machte auch ihn befangen; er bemerkte kurz: „Morgen nachmittag werde ich jedenfalls die Ehre haben, Sie bei der Generalin zu treffen,“ und empfahl sich dann rasch, ohne nur mit einer Miene an das selige Geheimniß zu erinnern, das sie beide verband.

In keineswegs angenehmer Stimmung setzte der Assessor seinen Weg fort. Die Verlegenheit Daras, die auch ihren Schwestern aufgefallen sein mußte, ärgerte ihn, noch mehr aber seine eigene Unvorsichtigkeit auf jenem einsamen Heimweg. Ohne daß er es sich selbst recht eingestand, war seit der Entlassung des Kabinettsekretärs eine Wandlung in seinen Gefühlen für Dora eingetreten. Emil gehörte zu den Menschen, in denen ein Mißerfolg Mißachtung wachruft. Er war ja wie alle Welt überzeugt, daß keineswegs eine ehrenrührige Handlung, keineswegs ein Vergehen im Amte, daß nur ein Zufall, eine Laune Herwald um die königliche Gunst gebracht habe. Der Mann hatte einfach Unglück gehabt. Aber in Emils Augen durfte man eben kein Unglück haben. Vor zwei Tagen noch würde er den Kabinettsekretär mit der größten Unterwürfigkeit gegrüßt haben; über die gefallene Größe zuckte er die Achseln. Und diese Stimmung veränderte auch Doras Bild in seinem Gemüth. Jedenfalls schien es ihm angezeigt, sein Verhalten ihr gegenüber reiflich zu überlegen. Heute zum ersten Male hatte ihn auch ihr Anblick in seiner Vorsicht nicht irre gemacht, sondern erst recht bestärkt. Sie war doch zu wenig Weltdame, wenn sie sich auf der Straße, vor Zeugen, nicht besser beherrschen konnte! Bei der Begegnung morgen wollte er lieber den ehrenvollen Rückzug beginnen und, ohne die Höflichkeit zu verletzen, sich gemessen gegen das Mädchen benehmen. Wozu hatte er sich denn eine gewisse Meisterschaft darin erworben, sich, wenn er wollte, mit einer undurchdringlichen Mauer zu umgeben, an der jeder sengende Blick, jede unerwünschte Annäherung abglitt.

Ein schwüler Nachmittag war’s, an dem sie sich im Garten der Generalin trafen. Emil saß schon im Schatten des lustigen, unter Bäumen aufgeschlagenen Zeltes und unterhielt sich als der vorläufig einzige Gast heiter mit der Generalin, als Dora ankam. Sie trug wie bei dem Maifeste ein weißes Kleid und ihr Gesicht erschien unter dem großen rothgefütterten Hut wie in einen leuchtenden Rahmen gefaßt. Es dünkte Emil doch recht schwer, ihrer blühenden Schönheit gegenüber Herr seiner selbst zu bleiben. Das Gespräch war stockend – die gewitterhafte Schwüle machte sich fühlbar und die Generalin wartete mit Ungeduld auf weitere Gäste, denn der große Fruchtkorb aus Gefrorenem sank langsam zusammen und schwamm bereits in einer rosigen Brühe.

Endlich fuhr ein Wagen an. Zur Bestürzung der Dame kam aber statt eines neuen Gastes ihr Stubenmädchen athemlos durch den Garten gelaufen.

„Der Herr General ist zurückgekommen und hat keine Schlüssel!“ rief sie schon von weitem ihrer Herrin zu, die ängstlich aufgesprungen war.

„Wie Sie mich erschreckt haben, Lisette! Ich dachte zum mindesten, es brenne bei uns. Mein Mann ist doch wohl?“

„O ja; der gnädige Herr war nur etwas ungeduldig, Sie nicht zu treffen.“

„Entschuldigen Sie diesen Zwischenfall,“ wandte sich die Generalin an ihre jungen Gäste. „Ich hatte keine Ahnung, daß mein Gatte heute schon aus dem Bad zurückkehren würde. Es scheint ein Brief verloren gegangen zu sein. Du lieber Himmel, da fällt mir ein: die Schlüssel zu seinem Schrank sind in meinem Schreibtisch. Wie ungeschickt!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_719.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2023)