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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

den lockenden Klängen der Musik wogte eine bunte Menge Volks auf dem schimmernden Eis – Männer, Knaben, junge Frauen und Mädchen und Kinder – das alles flog und schwebte in schwindelnder Schnelligkeit, in schwindelndem Wechsel vorüber. Und das ganze Bild eingerahmt von den verschneiten Bäumen der umliegenden Gärten, vergoldet von einer heiter lachenden Wintersonne!

Hier aber die Eine, die er meinte, herauszufinden oder gar festzustellen, mit wem sie lief, das war für den Professor fast unmöglich. Dort tauchte eine rothe Sammetmütze auf – nein, sie war’s nicht! Hier kam eine schlanke, elegante Figur vorbeigesaust – wieder ein Irrthum! Vielleicht jene anmuthige Gestalt, von drei, vier Herren umgeben? Aber andere schieben sich dazwischen, es entsteht ein Gedränge, eine ganze Kette zieht sich vor . . . dort leuchtet noch einmal ein rothes Pünktchen auf, jetzt verschwindet es in der bunten Menge – ist’s Annaliese von Guttenberg gewesen? Der Zuschauer bekam kalte Füße, es fröstelte ihn trotz des Pelzes – hinter ihm sagte die rauhe Stimme eines Schutzmannes: „Das Stehenbleiben auf der Brück’ ist verboten!“ . . . Da ging er weiter.

Konnte Gregory nach dem allem von diesen Stunden auf dem Eis nicht begeistert sein – das junge Mädchen war es immer. Sie war es auch heute, am Vormittag des berühmten Balltages. Es sei gestern ganz herrlich auf dem Eis gewesen, hier in Königsberg könne man sich doch vervollkommnen im Laufen anders als daheim, wo der Winter bloß Komödie spiele – sogar ein paar Offiziere habe man ihr vorgestellt, ihr sei ganz eigen zumuth gewesen, einmal wieder den militärischen Ton zu hören, obgleich die Ostpreußen wieder ganz anders schnarrten als „ihre Lieutenants“ daheim – sie sei nur beständig in Angst gewesen, es könnte einer etwas von ihr wissen, das Militär habe immer so viele Verbindungen ... das alles plauderte sie leicht und rasch an Paul Gregory hin, während sie, statt in die Malstunde zu gehen, mit ihm zum Königsthor hinausschritt. Er hatte sie dazu verlockt, und sie hatte sich gern bereden lassen – mein Gott, die Malstunde eilte wirklich nicht so, und es war ein so wonniges Wetter, hell und frisch, mit blitzenden Sonnenfunken, die fröhlich über die blendend weißen Schneeflächen hintanzten und den Bäumen ein flimmerndes Diadem aufsetzten. Es hatte Rauhreif gegeben während der Nacht, nun lag es zart-weiß und flaumig zwischen den kahlen Zweigen, zeichnete zierlich jede kleinste Verästelung nach und schmiegte sich um die Gesträuche, daß sie wie kostbare Kunstwerke von Krystall anzusehen waren.

„Entzückend!“ Annaliese öffnete die Lippen und zog die Luft wohlig ein. „Es riecht so schön nach Schnee, finden Sie nicht?“

Sie nickte freundlich einem alten Mann zu, der, in einen dicken Friesrock gekleidet, die Pelzkappe tief über die Ohren gezogen, langsam auf einem kleinen Schlitten an ihnen vorüberfuhr; allerlei blanke Kannen und Gefäße standen hinter ihm im Stroh. „Das ist unser ‚Schmandmann‘!“ erklärte Annaliese und nahm den Gegengruß des Alten, der den breiten Mund bis an die Ohren auseinanderzog, vergnügt entgegen. „Wie mir diese ostpreußischen Bezeichnungen Spaß machen, Sie glauben es nicht! ‚Schmand‘ ist soviel wie Sahne – wissen Sie das? Einmal hab’ ich diesen Mann mit den Kindern besucht, er wohnt nicht weit draußen, da sind wir auf einem sonderbaren Gefährt herumkutschiert – bloß zwei lange Kufen, Bretter und Stroh drüber, und zwei Stangen zum Festhalten, das ganze Ding nur so hoch – eine ‚Schleife‘ nennen sie das hier, aber es fährt sich großartig darauf, man fliegt förmlich!“

„So hätte Sie die Großmama-Excellenz sehen sollen und der Kreis Ihrer Verehrer!“

„Ach, was wissen Sie von dem? Der verehrt ja nicht mich, sondern mein Geld!“

„Glauben Sie wirklich, Annaliese, daß jeder, der Ihre Verhältnisse kennt, Sie nur aus Berechnung verehrt?“ fragte Gregory sehr ernst.

„Ja – jeder, jeder! Ich hab’ doch meine genügenden Gründe dafür, und Sie kennen diese recht gut!“

„Daß Sie um des einen willen alle verurtheilen wollen –“

„Steinhausen hat gesagt, daß alle mich bloß deshalb verwöhnen und bevorzugen, weil ich Großmamas Enkelin und reich bin, und er mußte das wissen, keiner kennt so gut unsere Gesellschaft wie gerade er! Aber weg damit! Der Wintertag ist viel zu herrlich und ich bin viel zu vergnügt mit Ihnen, Gevatter, um mir mit solchen unliebsamen Erinnerungen die Zeit zu verderben. ‚Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!‘ Ohnehin – wer kann sagen, wie lange der ganze Spaß dauert!“

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, daß Großmama mir heute früh geschrieben hat, wenn ich nicht endlich Ernst machte mit meinen Besuchen bei den hohen Offiziersfamilien und mit meiner Kunst, dann würde sie mich bald nach Hause entbieten, denn sie habe nun meine ewigen Ausflüchte satt. Meine Kunst – du lieber Gott!“ Annaliese sah mit einem drolligen Seitenblick nach der Riesenmappe, die der Professor ihr dienstfertig trug.

„Und wenn nun Tante Guttenberg auf Ihrer Rückkehr besteht?“

„Ja, dann werde ich doch schließlich gehorchen müssen – sie ist sonst imstande und reist her, um mich zu holen! Natürlich lasse ich es bis zum äußersten kommen und bleibe hier, solange ich kann. Sie auch, nicht wahr?“

„Ich auch!“

„Sie gehen noch nicht sobald nach Litauen?“

„Nein, noch nicht sobald!“

„Was sollen Sie auch jetzt da!“

„Ganz recht, was sollte ich jetzt da!“

Annaliese und ihr männliches Echo sahen einander mit strahlenden Blicken an und wanderten, wanderten in die sonnige Winterlandschaft hinein, als gäbe es auf der weiten Welt sonst nichts für sie zu thun.


10.

Bei Claassens herrschte große Aufregung – fünf Damen kleideten sich zum Ball an. Alles fragte und lief durcheinander. Die Kinder waren jedermann im Weg und wurden unaufhörlich berufen: „Müßt Ihr einem denn überall unter den Füßen sein? Geht doch in die Kinderstube und spielt!“ Allein so gern sie das sonst thaten, heute wollten sie es nun gerade nicht; sie wollten alles sehen, überall dabei sein, die schönen Sachen anfassen, womöglich helfen ... bis schließlich der Vater einen Gewaltakt vollführte, sie alle vier, eins nach dem andern, in die Kinderstube steckte und den Schlüssel im Schloß umdrehte.

Annaliese von Guttenberg, daheim an zwei große Toilettezimmer, die zu ihrer alleinigen Verfügung standen, sowie an die sorgsame Bedienung der vorzüglich geschulten Kanapé gewöhnt, fand es etwas schwierig, sich in den engen Räumen zu behelfen und alles selbst zu machen. Zwar wäre jedermann auf ihren Wunsch gern bereit gewesen, sie zu bedienen, allein sie äußerte kein solches Verlangen, sah sie doch, daß jede von den Damen vollauf mit der eigenen Toilette zu thun hatte. Mit einem halb belustigten, halb mitleidigen Lächeln musterte sie ihr blaßrothes Kleid von billigem Stoff, dessen einzigen Schmuck ein paar lange Atlasschleifen bildeten. Und ohne Perlen, ohne Brillanten, ohne Bouquet – sie, die daheim zwischen vier, fünf Sträußen, einer immer kostspieliger als der andere, die Wahl gehabt hatte!

Die Stunde der Abfahrt rückte näher und näher, die jungen Mädchen wurden immer aufgeregter, sie sprachen in ängstlichen Tönen von ihrem „Ballfieber“. Das war ein Zustand, den Annaliese aus eigener Erfahrung durchaus nicht kannte, sie wußte nur durch Hörensagen davon, aber er wirkte entschieden ansteckend, das fühlte sie. Wie, wenn sie keine Tänzer bekäme! Ganz fremd, in einer Toilette, die nach ihren Begriffen dürftig zu nennen war . . . wie leicht konnte es da kommen, daß sie eines von den „Mauerblümchen“ wurde, die sie daheim so oft bemitleidet, denen sie von ihrem Ueberfluß Tänzer geschickt hatte! Ob ihre Bekannten vom Schlittschuhklub den Ball mitmachen würden, wußte sie nicht, auf Professor Gregory als Tänzer war nicht besonders zu zählen, und ihr Pensionsvater, Doktor Claassen, hatte seinen jungen Damen schon lange verkündigt, er kümmere sich grundsätzlich nicht um sie, es sei ihm schon Opfer genug, überhaupt zu Ball zu gehen; er gedenke in einem der Nebenräume einen Skat zustande zu bringen und in der Eßpause seine Damen in den Speisesaal zu begleiten, mehr könne niemand von ihm verlangen. – Wie wird das werden? Sollte die gefeierte Enkelin der Excellenz Guttenberg heute abend vielleicht ihre erste Niederlage zu verzeichnen haben? Sie seufzte beklommen. Es war noch manches andere, was sie beklommen machte, ihr war das Herz so voll – aber unglücklich war sie nicht, nein, bewahre!

Inzwischen ließen sich die jungen Damen frisieren – Frau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_684.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)