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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

zu Boden und richtete dann den Blick wieder auf den Soldaten, der ihn verwundert anschaute. Offenbar hatte er noch eine Frage auf dem Herzen. Aber er besann sich eines besseren und drehte sich kurz nach der anderen Seite um.

Doch das eine, das seine Wißbegierde noch zu reizen schien, ließ dem jungen Offizier keine Ruhe, und plötzlich kehrte er zu dem Flügelmann zurück und ohne jede weitere Einleitung fragte er diesmal: „Haben Sie noch Geschwister, Wagner?“

Der Angeredete starrte seinen Vorgesetzten erstaunt an und in seiner Ueberraschung vergaß er die Antwort. Auch die übrigen Soldaten sahen jetzt mehr oder weniger verwundert auf den neugierigen Lieutenant, der, ohne dieser Wirkung seiner Worte Beachtung zu schenken, seine Frage ungeduldig und in offenbarer Spannung wiederholte.

„Nur eine Schwester, Herr Lieutenant,“ entgegnete Wagner, den eine unbestimmte Unruhe zu erfassen begann und der nun seinerseits seine Augen mit einem ganz vorschriftswidrig forschenden, argwöhnischen Ausdruck auf Buschenhagen heftete. Und wenn sich dieser nicht im gleichen Augenblick hastig abgewendet hätte, so wäre dem Soldaten die jähe Röthe, die mit einem Mal im Gesicht des Lieutenants aufstieg, sicherlich nicht entgangen. Die Instruktion nahm nun ohne weitere Unterbrechungen ihren gewöhnlichen Verlauf. Es war noch eine Viertelstunde bis sieben Uhr. Buschenhagen bemühte sich gerade ebenso eifrig wie vergeblich, einem seiner Leute die Stufenleiter der militärischen Rangordnung vom Unteroffizier bis zum Generalfeldmarschall in der richtigen Reihenfolge beizubringen, als die Thüre heftig aufgerissen wurde und ein halbwüchsiger Junge hochroth und pustend vor Eifer und Erregung ins Zimmer stürmte. Bei dem Anblick so vieler Soldaten prallte er erschrocken zurück, und als er gar des Offiziers ansichtig wurde, blieb ihm das Wort im Halse stecken, obgleich er den Mund schon weit zum Sprechen geöffnet hatte.

„Was willst Du?“ fragte ihn der Lieutenant kurz, während sich aller Augen neugierig auf den Jungen richteten und Wagner, der in ihm den Lehrling des Meisters Müller, des Flurnachbars seiner Mutter, erkannt hatte, einen Laut der Ueberraschung nicht unterdrücken konnte.

„Ach Gott, Herr Leitnant, nehmen Sie’s man nich übel,“ stammelte der Junge, „ich wollte man bloß zu – zu –“ der Sprechende sah im Kreise der Soldaten umher und deutete dann auf den Flügelmann des zweiten Gliedes, der unwillkürlich einen Schritt vorgetreten war – „zu dem da, Herr Leitnant!“

„Zum Füsilier Wagner?“

„Jawohl, Herr Leitnant, zu Wagnern wollt’ ich man bloß.“

Und als der Soldat, von innerer Unruhe ergriffen, auf einen Wink seines Vorgesetzten sich dem kleinen Burschen hastig genähert hatte, platzte dieser mit dem ganzen Eifer seiner fünfzehn Jahre heraus: „Die Frau Müllern, was meine Meisterin ist, schickt mich und Sie sollten man gleich zu Hause kommen, Herr Wagner, Ihre Schwester Klara hat sich vergiftet.“

Der Angeredete taumelte zurück, auch der Lieutenant wechselte jäh die Farbe, indes die Uebrigen nicht wußten, welche Miene sie zu der seltsamen Botschaft aufsetzen sollten. Buschenhagen faßte sich zuerst, und während der Soldat ihm mit einem stumm flehenden Blick in die Augen sah, sagte er mit einer sonderbar heiser klingenden Stimme: „Gehen Sie, Wagner! Und wenn es nöthig sein sollte, so können Sie über den Zapfenstreich ausbleiben. Berufen Sie sich auf mich!“

Der Soldat stürmte davon, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne an das vorschriftsmäßige Kehrt zu denken. Der junge Offizier aber trat mit dem Unglücksboten auf den Flur hinaus und befragte ihn über die Art und den bisherigen Verlauf des Unglücksfalles mit einer solchen Unruhe, daß es dem Burschen hätte auffallen müssen, wenn dieser sich nicht selbst in einer erklärlichen Aufregung befunden hätte. Nie in seinem Leben hatte er mit einem wirklichen Offizier gesprochen, und so war er ganz durchdrungen von diesem bedeutsamen Augenblick. Noch monatelang nachher erzählte er mit höchster Genugthuung allen, die es mit anhören mochten, von seinem Gespräch mit dem „Herrn Leitnant“.

Was Buschenhagen erfahren hatte, beschäftigte ihn derart, daß er, in das Mannschaftszimmer zurückkehrend, den Unterricht kurz abbrach. Dann verließ er selbst mit weit ausholenden Schritten die Kaserne, und nachdem er die Brücke hinter sich hatte, wandte er sich links gegen die zur Dammvorstadt führende Straße, anstatt wie sonst rechts nach seiner Wohnung im Mittelpunkt der Stadt abzuschwenken. Er mochte etwa fünf Minuten gegangen sein, als er unvermittelt stehen blieb und, mit den Zähnen an seinem Schnurrbart nagend, finster zu Boden starrte. Dann zuckte er heftig mit den Schultern und machte mit einem Rucke Kehrt, um sich langsam, ab und zu noch einmal stehen bleibend und einen Augenblick lang überlegend, in seine Wohnung zu begeben.

Dort warf er sich, nachdem ihm sein Bursche dienstfertig Mütze und Säbel abgenommen hatte, mit einem dumpfen Laut auf das Sofa. Doch nur für Minuten. Dann sprang er ungestüm wieder auf, machte ein paar heftige Gänge durch das Zimmer und trat zur Thür. „Jänicke!“ rief er auf den Flur hinaus.

Der Gerufene stampfte eilig herbei und pflanzte sich in strammer Haltung vor seinem Herrn auf. „Herr Lieutenant befehlen?“

„Du gehst sogleich ins Haus des Herrn Kommerzienrath Hendloß, verstanden?“

Der Bursche lächelte mit sehr unzeitgemäßer Vertraulichkeit und bemerkte eifrig: „Jawohl, zu dem gnädigen Fräulein Tochter.“

„Halt’ Deinen Schnabel!“ fuhr ihn der Offizier zornig an, der sonst des Burschen vorwitzige Bemerkungen nicht eben ungnädig aufzunehmen pflegte. „Du gehst zu Herrn Kommerzienrath Hendloß, bestellst eine Empfehlung von mir und sagst: der Herr Lieutenant von Buschenhagen läßt bedauern, daß er der Einladung auf heute abend nicht Folge leisten kann, der Herr Lieutenant ist unpäßlich. Hast Du verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

„Gut! Und im übrigen hast Du Dich nichts um Fräulein Hendloß zu kümmern. Kehrt, marsch!“

Jänicke führte das Kommando mit vorschriftsmäßiger Strammheit aus und machte sich eilig davon.

Der junge Offizier stand eine Weile unbeweglich mitten im Zimmer, mit düsterem Blick und gerunzelten Brauen. Dann seufzte er tief auf, trat an die Spiegelkommode zwischen den Fenstern, öffnete die oberste Schublade und nahm ein Photographiealbum heraus. Auf der ersten Seite befand sich das Bild eines jungen Mädchens, das achtzehn bis zwanzig Jahre alt sein mochte. Ueber dem schönen regelmäßigen Gesicht lag der Zauber blühender Jugendfrische. Aus den großen dunklen Augen sprach ein mädchenhaft schwärmerischer Sinn, während die starken, über der Nase zusammenlaufenden Brauen und die vollen rothen Lippen auf ein leidenschaftliches Gemüth schließen ließen. Die Züge des Lieutenants nahmen einen weichen, fast wehmüthigen Ausdruck an. „Arme Klara!“ flüsterte er leise vor sich hin, während er das Bild betrachtete. Plötzlich klappte er mit einer hastigen Bewegung das Buch zu, warf es auf den Tisch und ließ sich schwer auf das Sofa fallen. Was half das dumme Seufzen und Bedauern! Die Geschichte war nun einmal nicht zu ändern, gegen den eisernen Zwang der Verhältnisse war nicht anzukämpfen. Und selbst wenn sie jetzt zu Grunde ging – es würde ja hoffentlich nicht so weit kommen – helfen konnte er ihr nicht! Dumpf starrte er in die Dämmerung hinein, die immer dichter das Zimmer erfüllte. Sein Geist wanderte in die Vergangenheit zurück. Wundervolle unvergeßliche Stunden waren es, die er mit Klara Wagner verlebt hatte. Das berauschende reine Glück der ersten Liebe hatte er sie kennen gelehrt und hatte sich selbst berauscht an dem Ueberschwang von Seligkeit, der dieses Mädchenherz erfüllte, der aus ihrem naiven Geplauder, aus ihren strahlenden verklärten Mienen sprach. Die köstliche Natürlichkeit ihres Wesens, die Tiefe ihrer Empfindung hatten ihn immer von neuem zu ihr hingezogen, und es hatte Zeiten gegeben, wo er sich allen Ernstes sagte, daß er sie aufrichtig liebe und daß sie ihn glücklicher machen würde als alle die affektierten jungen Damen, mit denen ihn das gesellschaftliche Leben zusammenführte.

Kaum sechs Monate waren es her, daß er ihre Bekanntschaft gemacht hatte, Er befand sich in der Dammvorstadt, in Civilkleidung, auf dem Wege nach einer Singspielhalle, welche die Offiziere der Garnison dann und wann verstohlen besuchten. Da fügte es der Zufall, daß er dem vom Geschäft zurückkehrenden jungen Mädchen einen Dienst erweisen konnte, indem er sie vor der Zudringlichkeit eines rohen Burschen beschützte, welcher der Erschrockenen seine ungebetene Begleitung aufdrängen wollte. Eines jener kurzlebigen Abenteuer witternd, die eben so schnell ein Ende nehmen, wie sie eingefädelt werden, hatte er sich ihr als „Erwin Hagen, Architekt“ vorgestellt. Aber dann hatte die Unterhaltung während der Viertelstunde, die er am ersten Abend

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_671.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2023)