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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

voll sich entfalten zu sehen, mit schonender behutsamer Hand, leise und zart die kleinen Schlacken, die das Weltleben um das Kleinod gelegt, nach und nach zu entfernen und glücklich, glücklich zu sein! . . .

Aber wenn Gregory gegen sich selbst ehrlich sein wollte – und das wollte er doch – dann mußte er sich’s zugestehen, er liebte Annaliese nicht nur mit Geist und Seele, er war auch verliebt in sie, ganz hilflos verliebt. Das süße Gesichtchen! Und wie wonnig es sein mußte, beide Arme um die feine schlanke Mädchengestalt zu legen, sie fest an sich zu ziehen und den weichen kleinen Mund, dessen kurze Oberlippe dem Antlitz etwas so Kindliches gab, mit brennenden Küssen zu schließen! Es durchrieselte ihn heiß, wenn er daran dachte. Schon heute abend hatte ihn ein ähnliches Gefühl erfaßt, wenn er während des Spiels in ihre Nähe kam, wenn ihr Kleid ihn streifte oder seine Hand zufällig an die ihrige rührte. Also liebend und verliebt! Es war heiliger Ernst; er wußte es – es war um ihn geschehen!

Und sie? Freundlich und vertraulich war sie gegen ihn, das stand fest, aber das bewies nichts, gar nichts. Gegen wen konnte man denn nicht freundlich sein? Das war eine so wohlfeile Eigenschaft, die gab ein liebenswürdiges junges Mädchen täglich hundertmal drein wie die landläufigste Münze. Und das Vertrauen? Damit stand es erst recht bedenklich. Wäre er Annaliese im mindesten gefährlich gewesen, sie hätte ihm sicher nicht so offen gebeichtet. Zu wem haben junge Damen Vertrauen? Zu alten Onkeln, zu harmlosen Vettern und ähnlichen Sorten von Menschen. Nein, nein, die Sache war aussichtslos, das mußte er sich eindringlich sagen. Und gesetzt auch, das reizende Geschöpf hätte wirklich Gefallen an ihm gefunden . . . wie konnte er es wagen, ihr jemals sein Gefühl zu offenbaren? Sie hatte es immer wieder betont, jeder Bewerber, der ihre Verhältnisse kenne, wähle sie nur, weil sie eine reiche Erbin, die Enkeltochter der alten Excellenz Guttenberg sei – das war ihre fixe Idee, mit der man zu rechnen hatte, um deretwillen sie jetzt hier in Königsberg „armes Mädchen“ spielte. Und wenn nun auch der Professor kein militärischer Streber war und von den hochgestellten Verwandten des jungen Mädchens nicht das geringste erwartete, so wußte er doch immerhin um die zweite, noch gewichtigere Thatsache, um ihre bedeutende Mitgift und sie konnte, sie mußte denken, er sei kühn genug, mit all den ehrgeizigen Lieutenants in die Schranken zu treten, um den „Goldfisch“ zu erobern. Das aber durfte er nie und nimmer veranlassen! Hundert Männer würden sich über diesen Punkt weiter keine Bedenken gemacht haben, aber Paul Gregory war anders geartet und that es.

So würde er denn sein Herz zu bezwingen und sich mit seiner geliebten Wissenschaft zu trösten haben! Er hatte so oft von seiner „geliebten“ Wissenschaft gesprochen – jetzt wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei diese ganze Liebe ungeheuer platonisch und laufe schließlich nur auf die bekannte Hochachtung hinaus. Und Hochachtung ist zwar ein sehr edles und schätzenswerthes Gefühl, aber man wird nicht recht warm dabei, und das Herz findet nicht seine Rechnung. Bei dem Gedanken, ein Haufen dicker toter Bücher sollte ihm das entzückende lebendige Geschöpf ersetzen, dessen Anblick, dessen Stimme allein sein Herz höher schlagen ließ . . . bei diesem Gedanken wurde dem Professor Gregory ganz elend zumuth.

(Fortsetzung folgt.)

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Eine Idylle der Mark.

Von Richard Nordhausen.0 Zu dem Bilde S. 661.

Das große, noch immer in pilzartig schnellem Wachsthum begriffene Berlin mit seinen mächtigen Vorstädten und Vordörfern wird bald auch die letzten Reste ehemaliger Ländlichkeit, die unter dem Schatten seiner Mauern sich erhielten, verschlungen, wird bald alle Waldung, alles Wiesenland in seinem Machtbereich vernichtet und mit Miethkasernen bepflanzt haben. Wo unsere Großeltern noch unter hochwipfligen Bäumen, auf Moos und Gras lachend sich ergingen, breitet sich jetzt grauer Straßenasphalt, und an den Orten, die heute noch Ziele sonntäglicher Landpartien sind, werden die Enkel siebenstöckige Häuser aufthürmen. Der Grunewald, die letzte Lunge Berlins, ist geldbedürftigen Landspekulanten längst ein Gegenstand zärtlichster Sorge; nicht mehr an der Spree, an der Havel soll das Berlin der Zukunft liegen. Der Entwicklungsgang der Großstadt kann, wie die Dinge sich einmal gestaltet haben, durch das Bedauern der Naturfreunde und die Warnungen der Hygieiniker nicht mehr aufgehalten werden. Aber es ist schade um alle die Erholungsplätze, die so vom Erdboden verschwinden. Nicht allein, weil gerade der Großstädter die Schönheit der freien Gotteswelt nur schwer zu entbehren vermag, weil das Versenken in sie für die Seele so wichtig ist wie das tägliche Brot, nein, auch deshalb, weil der Boden um Berlin herum historisch geheiligt ist und fast überall große Erinnerungen birgt, die ausgelöscht werden, wenn man die Erde verwüstet, worin sie wurzelten.

Das Dorf Tegel ist ein solcher Ort. Noch hat der Oger Berlin ihn nicht in seinen Krallen, aber die Zeit rückt unaufhaltsam näher. Und während früher, ehe an die Pferdeeisenbahn oder gar an die Nordbahn gedacht wurde, Wagenfahrten, Spazierritte nach Tegel schon als achtunggebietende Leistungen erschienen, streift heute der Berliner ozondurstige Wanderfreund um viele Meilen weiter nordwärts in die Ferne, und Tegel ist ihm am Abend die letzte Etappe zur Heimkehr.

So kommen auch wir von der nördlichen Havel her durchqueren die schönen harzduftenden Kiefernwaldungen und langen dann bei Sonnenuntergang in dem berühmten Dorfe an. Abendschein liegt auf den Dachfirsten der schmucken Häuschen, Abendgold blinkt in den Wipfeln der Bäume, zwischen denen sich Tegel versteckt. Von mächtigen uralten Linden, Ulmen und Kastanien umstanden, grüßt uns das bescheidene Kirchlein, und seine Fenster glühen noch einmal purpurn auf. Die breite stille Dorfstraße durchmessend, an freundlichen Gärten, Villen und Hütten vorbei, kommen wir zum Stolz des ganzen Tegeler Ländchens, zu seinem See.

In violettem Licht schimmernd, von Dunstschleiern umzogen, breitet sich die herrliche Wasserfläche vor uns aus. Wohl hat durch Fabrikgebäude aller Art, durch kuriose Wohnhäuser, durch Wasserwerksanlagen im Berliner Magistratsstil die Gegend viel von ihrem altberühmten Zauber verloren; poesieloses Menschenwerk drängt sich anmaßlich zwischen die bescheidenen Reize märkischer Natur, und dem Fremdling, der im Sonnenbrande des Weges gezogen kommt, huscht leicht das geflügelte Wort von „des Römischen Reiches Streusandbüchse“ über die Lippen. Der Blick auf das liebliche, romantische Gewässer aber söhnt auch verwöhntere Menschenkinder mit den Mühsalen der Wanderschaft aus. Es ist ein moderner deutscher Poet, der seinen vom Comer See zurückgekehrten Helden allen Ernstes einen Vergleich ziehen läßt zwischen der fichtenumkränzten Havelbucht und dem italienischen Seejuwel, einen Vergleich, aus dem jene nicht allzu beschämt hervorgeht. Ein geistreicher Franzose, Luc Gersal, der seinen Pariser Landsleuten in seinem Buche „Spree-Athen“ von der neuerwachten Liebe zu den landschaftlichen Schönheiten der Mark Brandenburg erzählt und der die Güte hat, mich ihren Stanley zu nennen, spricht bei aller Neigung zur Kritik vom Tegeler See mit warmer Begeisterung. Und wer an seinen Ufern eine Frühlingsmorgenstunde lang verweilt hat, den Blick auf die ernsten Waldriesen gerichtet, welche ihn umsäumen, auf die Rohr-Eilande und die schimmernde blaue Fluth, wer der leisen, traumhaften Musik der kurzen Wellchen gelauscht hat, dem wird der Sinn aufgegangen sein für die schlichte Anmuth der sandigen Mark. Aus der innigen Verbindung von Wasser und Wald ergeben sich immer und immer wieder Brandenburgs natürliche Vorzüge; ohne seine Seen wäre es in der That die finstere Wüste, als welche man es noch heute fast allenthalben schildern hört.

Tegel, in nächster Nähe der Hauptstadt gelegen, mußte von jeher dazu dienen, manchen ungläubigen, spottsüchtigen Thomas zu bekehren, und von jeher hat der Berliner eine fast sentimentale

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_654.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2024)